Lord Verminaard
Autor von BARBAREN!
- Registriert
- 19. Januar 2006
- Beiträge
- 628
AW: Does System matter?
Der Ausgangspunkt für den ganzen Streit war seinerzeit (um 1998 rum) doch die weit verbreitete These „System doesn’t matter“. „System“ meinte dabei die Spielregeln, die in einem Buch stehen. Wie kamen die Leute dazu, zu behaupten, auf das (geschriebene) System käme es nicht an? Wofür kommt es auf das System nicht an? Auch in diesem Thread hier gehen dabei zwei Dinge durcheinander:
1) Was in der Spielwelt passiert.
2) Was am Spieltisch passiert.
Das System sagt dir zu 1), was dein Charakter tun kann, und zu 2) was du als Spieler machen musst, damit er es auch tatsächlich erfolgreich tut. Daher ist das (geschriebene) System für beide Dinge zunächst scheinbar unheimlich entscheidend. Wenn es also auf das System nicht ankommt, dann nur deshalb, weil die Spieler das (geschriebene) System eigentlich vergleichsweise wenig benutzen.
Woran liegt das wiederum? Ich persönlich komme in letzter Zeit immer mehr auf den Trichter, dass ich eigentlich mehr Spaß am Rollenspiel habe, wenn ich mich voll auf die Spielwelt, die Fiktion, konzentrieren und mit ihre arbeiten kann, ohne mich mit Spielregeln in größerem Maße herumzuschlagen. (Für viele von euch klingt das vielleicht wie eine Selbstverständlichkeit, aber für mich als „Forgianer“ läuft das unter dem Titel „There and back again“. Wie auch immer.)
Was passiert, wenn eine Gruppe sich im Wesentlichen auf die Spielwelt, die Fiktion, konzentriert und die Anwendung der Regeln den Bedürfnissen der Fiktion unterordnet? Die Gruppe entwickelt ein (ungeschriebenes) System, das auf Plausibilität, gemeinsamen Vorannahmen über Setting und Genre sowie sozialer Interaktion aufbaut, und an dem sich ihr Spiel orientiert.
Dafür gilt zum Einen: „People do matter“. Wie gut lesen die Spieler die Interessen der anderen? Wie gut gehen sie aufeinander ein? Wie kreativ sind sie? Wie sehr auf einer kreativen Wellenlänge? Hinzu kommt jedoch für jeden Rollenspieler ein mit den Jahren immer dicker werdendes Paket von Erfahrungen. Spielsituationen werden bei ihrem ersten Auftreten auf eine bestimmte Art und Weise gehandhabt, die entweder zu Problemen führt oder funktioniert. Auf diese Weise entstehen Präzedenzfälle und Verhaltensmuster, die die Spieler ganz unbewusst aufnehmen und für selbstverständlich halten. In Forge-Sprech sind all diese Verhaltensmuster Teil des Systems. Eine unglückliche Terminologie, wie ich finde, da sie dem gängigen Sprachgebrauch widerspricht.
Für den Spieler, der es also gewohnt ist, die geschriebenen Spielregeln relativ wenig zu benutzen, kommt es auch relativ wenig auf das geschriebene System an. Die Bedeutung des geschriebenen Systems erschöpft sich in dessen Potential, der Gruppe bei dem, was sie eigentlich macht, im Weg zu stehen. Insofern: „System (as written) can be a pain in the ass.“ Oder so.
Jetzt kommt das „Aber“: Die „System doesn’t matter“-These wird in der Regel hauptsächlich von Leuten verfochten, die eine langjährige, gut funktionierende Stammrunde haben. Das lese ich auch beim Bücherwurm heraus. Mit meiner Stammrunde habe ich schon so oft gespielt, dass wir einander blind verstehen und genau wissen, was für ein Verhalten der Mitspieler und was für eine Art gemeinsame Fiktion wir voneinander erwarten. Wenn wir Spiel und Genre wechseln, ändern sich diese Erwartungen, aber wir kennen einander so gut, dass selbst diese Änderungen für uns selbstverständlich sind.
Komme ich nun aber in fremde Runden, kann es gut passieren, dass diese entweder wesentlich stärker nach den geschriebenen Regeln spielen, oder aber nach ihrem eigenen ungeschriebenen System, das in einigen Punkten von dem in meiner Stammrunde abweicht. Da das erfolgreiche Spiel in meiner Stammrunde wenig auf expliziten Regeln und viel auf Gewohnheit und sozialem Gespür der Mitspieler aufbaut, kann ich mein „gespieltes System“, also die Art, wie ich mich tatsächlich beim Rollenspiel verhalte und versuche, die Handlung des Spiels zu beeinflussen, nicht ohne Weiteres umstellen oder anpassen oder den anderen Mitspielern verständlich machen. Wir fangen bei Null an, oder eigentlich sogar bei weniger als Null, denn wir werden von unseren Gewohnheiten und Vorannahmen darin behindert, unsere Spielweisen aufeinander abzustimmen.
Das Resultat ist meistens, dass wir uns gegenseitig als schlechte Rollenspieler bezeichnen und frustriert sind. Wenn wir Glück haben, liegen wir vielleicht nicht so weit auseinander, oder die Spieler besitzen ein sehr gutes soziales Gespür und schaffen es, sich aufeinander einzustellen. Jedenfalls ist dieser Prozess des sich aufeinander Einstellens jedoch deutlich einfacher und mit einer höheren Erfolgswahrscheinlichkeit ausgestattet, wenn man stärker nach expliziten Regeln und weniger nach Gewohnheit spielt. Das ist die eigentliche Bedeutung von „System does matter.“
Diese Erkenntnis hat im Forge-Design zu sehr formellen Spielen mit harten Strukturen und Prozeduren geführt. Mir geht es dabei wie Jestocost: Diese Spiele engen mich zu sehr ein, ich will mehr Freiheit bei der Gestaltung des Spielgeschehens. Dann muss ich mir aber eben auch im Klaren darüber sein, dass ich mich an neue Mitspieler erst vorsichtig herantasten muss und nicht einfach als selbstverständlich davon ausgehen kann, dass sie dasselbe Spiel spielen wie ich.
P.S.: Den Artikel im Sorcerer-Regelwerk finde ich auch scheiße, erstens wegen der latent aggressiven Wichtigtuerei von Ron Edwards, und zum anderen wegen des GNS-Teils...
Der Ausgangspunkt für den ganzen Streit war seinerzeit (um 1998 rum) doch die weit verbreitete These „System doesn’t matter“. „System“ meinte dabei die Spielregeln, die in einem Buch stehen. Wie kamen die Leute dazu, zu behaupten, auf das (geschriebene) System käme es nicht an? Wofür kommt es auf das System nicht an? Auch in diesem Thread hier gehen dabei zwei Dinge durcheinander:
1) Was in der Spielwelt passiert.
2) Was am Spieltisch passiert.
Das System sagt dir zu 1), was dein Charakter tun kann, und zu 2) was du als Spieler machen musst, damit er es auch tatsächlich erfolgreich tut. Daher ist das (geschriebene) System für beide Dinge zunächst scheinbar unheimlich entscheidend. Wenn es also auf das System nicht ankommt, dann nur deshalb, weil die Spieler das (geschriebene) System eigentlich vergleichsweise wenig benutzen.
Woran liegt das wiederum? Ich persönlich komme in letzter Zeit immer mehr auf den Trichter, dass ich eigentlich mehr Spaß am Rollenspiel habe, wenn ich mich voll auf die Spielwelt, die Fiktion, konzentrieren und mit ihre arbeiten kann, ohne mich mit Spielregeln in größerem Maße herumzuschlagen. (Für viele von euch klingt das vielleicht wie eine Selbstverständlichkeit, aber für mich als „Forgianer“ läuft das unter dem Titel „There and back again“. Wie auch immer.)
Was passiert, wenn eine Gruppe sich im Wesentlichen auf die Spielwelt, die Fiktion, konzentriert und die Anwendung der Regeln den Bedürfnissen der Fiktion unterordnet? Die Gruppe entwickelt ein (ungeschriebenes) System, das auf Plausibilität, gemeinsamen Vorannahmen über Setting und Genre sowie sozialer Interaktion aufbaut, und an dem sich ihr Spiel orientiert.
Dafür gilt zum Einen: „People do matter“. Wie gut lesen die Spieler die Interessen der anderen? Wie gut gehen sie aufeinander ein? Wie kreativ sind sie? Wie sehr auf einer kreativen Wellenlänge? Hinzu kommt jedoch für jeden Rollenspieler ein mit den Jahren immer dicker werdendes Paket von Erfahrungen. Spielsituationen werden bei ihrem ersten Auftreten auf eine bestimmte Art und Weise gehandhabt, die entweder zu Problemen führt oder funktioniert. Auf diese Weise entstehen Präzedenzfälle und Verhaltensmuster, die die Spieler ganz unbewusst aufnehmen und für selbstverständlich halten. In Forge-Sprech sind all diese Verhaltensmuster Teil des Systems. Eine unglückliche Terminologie, wie ich finde, da sie dem gängigen Sprachgebrauch widerspricht.
Für den Spieler, der es also gewohnt ist, die geschriebenen Spielregeln relativ wenig zu benutzen, kommt es auch relativ wenig auf das geschriebene System an. Die Bedeutung des geschriebenen Systems erschöpft sich in dessen Potential, der Gruppe bei dem, was sie eigentlich macht, im Weg zu stehen. Insofern: „System (as written) can be a pain in the ass.“ Oder so.
Jetzt kommt das „Aber“: Die „System doesn’t matter“-These wird in der Regel hauptsächlich von Leuten verfochten, die eine langjährige, gut funktionierende Stammrunde haben. Das lese ich auch beim Bücherwurm heraus. Mit meiner Stammrunde habe ich schon so oft gespielt, dass wir einander blind verstehen und genau wissen, was für ein Verhalten der Mitspieler und was für eine Art gemeinsame Fiktion wir voneinander erwarten. Wenn wir Spiel und Genre wechseln, ändern sich diese Erwartungen, aber wir kennen einander so gut, dass selbst diese Änderungen für uns selbstverständlich sind.
Komme ich nun aber in fremde Runden, kann es gut passieren, dass diese entweder wesentlich stärker nach den geschriebenen Regeln spielen, oder aber nach ihrem eigenen ungeschriebenen System, das in einigen Punkten von dem in meiner Stammrunde abweicht. Da das erfolgreiche Spiel in meiner Stammrunde wenig auf expliziten Regeln und viel auf Gewohnheit und sozialem Gespür der Mitspieler aufbaut, kann ich mein „gespieltes System“, also die Art, wie ich mich tatsächlich beim Rollenspiel verhalte und versuche, die Handlung des Spiels zu beeinflussen, nicht ohne Weiteres umstellen oder anpassen oder den anderen Mitspielern verständlich machen. Wir fangen bei Null an, oder eigentlich sogar bei weniger als Null, denn wir werden von unseren Gewohnheiten und Vorannahmen darin behindert, unsere Spielweisen aufeinander abzustimmen.
Das Resultat ist meistens, dass wir uns gegenseitig als schlechte Rollenspieler bezeichnen und frustriert sind. Wenn wir Glück haben, liegen wir vielleicht nicht so weit auseinander, oder die Spieler besitzen ein sehr gutes soziales Gespür und schaffen es, sich aufeinander einzustellen. Jedenfalls ist dieser Prozess des sich aufeinander Einstellens jedoch deutlich einfacher und mit einer höheren Erfolgswahrscheinlichkeit ausgestattet, wenn man stärker nach expliziten Regeln und weniger nach Gewohnheit spielt. Das ist die eigentliche Bedeutung von „System does matter.“
Diese Erkenntnis hat im Forge-Design zu sehr formellen Spielen mit harten Strukturen und Prozeduren geführt. Mir geht es dabei wie Jestocost: Diese Spiele engen mich zu sehr ein, ich will mehr Freiheit bei der Gestaltung des Spielgeschehens. Dann muss ich mir aber eben auch im Klaren darüber sein, dass ich mich an neue Mitspieler erst vorsichtig herantasten muss und nicht einfach als selbstverständlich davon ausgehen kann, dass sie dasselbe Spiel spielen wie ich.
P.S.: Den Artikel im Sorcerer-Regelwerk finde ich auch scheiße, erstens wegen der latent aggressiven Wichtigtuerei von Ron Edwards, und zum anderen wegen des GNS-Teils...