Kurzfassung:
blut_und_glas schrieb:
Ja.
blut_und_glas schrieb:
Die zweite dreht sich darum, wie gut ein Spiel sein kann, das auf dem Bewahren eines Geheimnisses gründet: Wenn die Enthüllung eines Geheimnisses den Spass am Spielen zerstört, ist das nicht ein Zeichen mangelnder Qualität?
Nein.
Längere Antwort:
Dazu nochmal das Zitat aus dem Engel-GRW. Hier der erste Teil:
Die Chroniken der Engel schrieb:
Der folgende Text ist einzig und allein für die Augen des Erzählers bestimmt.
Nun,
reine Spielleitertexte sind das normalste seit es Rollenspiele gibt. Die Inhalte von Abenteuern, die Hintergrundinformationen zu markanten Aspekten von Spielwelten, NSCs, übernatürlichen Gegebenheiten usw. sind ausschließlich für Spielleiter gedacht, um ihnen zu ermöglichen ihren Spielern einen konsistenten, aber nicht sofort in jedem Detail durchschaubaren Spielhintergrund zu präsentieren. Was ist daran Besonderes? - Nichts.
Also weiter zum nächsten Teil des Zitats...
Die Chroniken der Engel schrieb:
Wir raten Spielern dringend davon ab, ihn zu lesen, denn er enthüllt eines der zentralen Geheimnisse der Chroniken der Engel. Wer seiner gewahr wird, der nimmt sich dadurch den Spaß am Spielen.
Die Frage war ja, ob es ein Zeichen für mangelnde Qualität eines Rollenspiels ist, wenn die Enthüllung eines Geheimnisses, welches den Spielern vor der Entdeckung im eigentlichen Kampagnen/Szenario-Verlauf offenbar wird, eben diesen Spielern den Spielspaß verdirbt.
Nun, das Verderben des Spaßes (auf gut Deutsch Spoiler genannt) ist ja auch der Grund, warum man z.B. bei Film- oder Buch-Rezensionen nicht verraten soll, wie es ausgeht. Wer z.B. bei "The Sixth Sense" verspoilert in den Film geht, dem wurde die Möglichkeit genommen, die Überraschung am Ende WIRKLICH als Überraschung zu empfinden. Dabei ist es egal ob das Verspoilern selbst-"verschuldet" ist - also durch eigene Dummheit, oder weil mal sich sonst zu sehr gruselt oder herzkrank ist und keine Spannung mehr abkann - oder ob z.B. ein Arschloch in seiner Rezi des Films in einem Forum rücksichtlos alles ausgeplaudert hat, weil ihm andere Leute scheißegal sind. Versaut ist versaut.
Wenn man ein Geheimnis kennt, dann ist es eben keines mehr. Filme und Bücher arbeiten standardmäßig damit, überraschende Wendungen und emotional packende Realisierungen eben "geheimnisvoll" aufzubauen, nichts zu verraten, und so dem Zuschauer/Leser eine besondere Erfahrung im Moment der Enthüllung zu ermöglichen (z.B. im Film "Identität").
Wer als Spieler in einem Abenteuer liest, welches der Spielleiter der jeweiligen Spielrunde zu leiten gedenkt, der versaut sich nicht nur die Überraschungen, sondern er wird auch nicht einmal mehr so tun können, als sei er uninformiert und unbefangen. Außerdem verarscht er so seinen aufopferungsvollen Spielleiter und verhält sich somit nachweislich wie ein mieses Arschloch (mal so als meine persönliche Einschätzung zum Abenteuer-Memorieren :motz
.
Wer weiß, daß eine wüste und gefährliche Falle um die nächste Ecke des "Verlieses der Verzweiflung" liegt, der wird da nicht einfach so hineintappen - zumindest wird er nicht seinen Charakter einfach so wegschmeißen wollen. Und wenn er trotz seines Spoiler-Wissens es doch tut, so wird es ihm unterbewußt doch ständig klar sein, daß diese Handlung wider den Charakter-Am-Leben-Erhaltungs-Trieb (analog zum Selbsterhaltungstrieb) begangen wurde. Er begeht also quasi mit offenen Augen spielerischen Selbstmord, da er ja wußte, was passieren wird.
Das bewußte in die Falle Tappen ist jedoch etwas, das ich garnicht mal so vielen Spielern überhaupt zutraue. Man hat doch tatsächlich den Wunsch, seinen Charakter, den man eventuell schon Jahre hindurch gespielt hat, weiterzuspielen. Da biegt man dann eben seine Position im "Tunnel des Terrors" so zurecht, daß einen die Speerfalle gerade nicht erwischen kann, oder man steht eben ein paar Schritte rechts von der Säurefalle, die den anderen Charakteren die teuren Rüstungen zerfressen wird. Das tut man vielleicht noch nicht einmal bewußt.
Aber eben WEIL man als verspoilerter Spieler mehr für den Charakter und sein Überleben Relevantes weiß, als der Charakter eigentlich wissen DARF, um eine stimmige Reaktion des Charakters auf die Umgebung darzustellen.
Man kann mir beliebig oft davon erzählen, daß Spieler- und Charakterwissen supergut zu trennen ist. Wer das tut, hält sich im Allgemeinen für Den Über-Rollenspieler (tm) schlechhin. Natürlich lügen sich diese "Burgschauspieler" damit in die eigene Tasche. *seufz*
Meine (*lamentier*) langjährige Erfahrung ist da gänzlich anders. Auch bei mir selbst, der ich doch in vielen Systemen mitspiele, in denen ich auch selbst Kampagnen leite oder früher mal geleitet habe. Da sollte man annehmen, man ist in der eigenen Selbst(über)einschätzung ein so toller Gehirnakrobatiker, daß man sein Spoilerwissen beständig ignoriert und völlig unbefangen einen Neulings-Charakter spielen kann, ein Greenhorn, daß keinerlei Erfahrung in und mit der Spielwelt hat. - Nur, das geht nicht. - Wenn ich als Neuling, als frischgeweihter Signums-Engel das erste Mal einer neuen Traumsaat-Kreatur begegne, von deren Schwachstellen und Gefährlichkeit ich keine Vorstellung habe, dann unterschätze ich das nämlich vielleicht - als erfahrener Ostfront-Gabrielit, der schon -zig Suizid-Kommandos überlebt hat, sieht das schon anders aus, und
da hat aber der Spieler(!) sich das Wissen erspielt, daß dem Erfahrungsstand des Charakters gleichkommt.
Mal eine kurze Beispiel-Szene:
Aurumel der Urielit hatte sich von der Schar getrennt, um eine sumpfige Gegend zu erkunden, die von einem Troß aus Beutereitern, Monachen und Beginen durchquert werden sollte. Der Rest der Schar blieb zur Sicherung des Trosses zurück. - Er durchsuchte die Gegend, als ihm ein paar eher unsicher und tolpatschig fliegende recht kleine Traumsaat-Kreaturen auffielen. Da er auch noch sehr wagemutig ist, dachte er sich, diese schnell mal alleine aufzumischen. - Es waren "Dürre" (siehe Traumsaat-Buch, ziemlich üble Brocken, nicht wahr, aber man sieht es ihnen nicht an!). - Er flog mehrfach durch den Schwarm und versuchte diese Kreaturen zu rammen(!). - Wenn man weiß, auf welche unangenehme Überraschung er bei einem Treffer durch diese Dürren sich hätte freuen können, dann war das Ganze, was für Aurumel wirklich mit mehr Glück als Verstand ausging, enorm spannend und heikel. Für jemanden, der nicht wußte, wie es um diese Wesen stand, waren das eben einfach kleine Dämonen, die man leicht vernichten konnte. - Die Spielerin der Raphaelitin - selbst auch Engel-Spielleiterin - war richtig entsetzt und bei jeder Aktion des Urieliten emotional gebeutelt. Die anderen Spieler, die das Traumsaat-Buch nicht gelesen hatten, waren nur verwundert. Einer mäkelte noch "ja, ja, Insiderwissen!".
Das Verhalten des noch unverdorbenen Spielers des Urieliten war normal, stimmig, eben "in character". - Wenn die verspoilerte Spielerin mit ihrem, ihr liebgewordenen Engel derselben Bedrohung ausgesetzt wäre, dann - so wage ich zu behaupten - wäre sie nicht so naiv und unwissend und somit nicht so "in character" vorgegangen, eben WEIL sie um das Geheimnis hinter den besonderen Fähigkeiten einer Traumsaat-Kreatur wußte und ihren Lieblings-Charakter bewahren möchte.
Hier hat man das Problem, daß
die Existenz des Charakters bedrohende Situationen auch vom Spieler als Gefährdung des spielerischen Alter-Egos wahrgenommen werden. Und zwar zurecht. Das ist ja das, was man mit "immersion" bewirken will: man will, daß die Spieler für die Dauer des Spielabends möglichst tief eintauchen in die phantastische Welt, die sie gemeinsam erleben und (mal mehr, mal weniger) mitgestalten. -
In solchen Gefährdungssituationen ist es schwerer Charakterwissen von Spielerwissen zu trennen, da ein negativer Ausgang der Situation nicht nur ein Verlust für den Charakter darstellt (z.B. für eine Mission mal kein Votivband zu bekommen),
sondern auch einen erheblichen Verlust für den SPIELER! Nämlich einen Charakter weniger zu haben, sich von einer externen Facette der eigenen Persönlichkeit verabschieden zu müssen (womit wir wiedermal beim "Tod des Spielercharakters"-Thema wären).
Die andere Seite des Medallie existiert natürlich auch.
Mit mehr Information kann man manches von dem, was ein Charakter wissen SOLLTE oder gar wissen MUSS schlichtweg BESSER darstellen . Das ist Wissen, das ALLEN Charakteren zugänglich ist (z.B. wie der Pontifex aussieht, welche Hierarchie-Ebenen die Kirche hat, welche Gebote die Kirche den Menschen auferlegt, etc.) bzw. Wissen, daß einem eingeschränkten Kreis von Charakteren, aber durchaus von Anfang an(!), verfügbar ist (z.B. was die Kathedrale der Gedanken so alles bietet, daß ein Flammenschwert öfter mal neu gesegnet werden muß, daß man Engel nicht mit OP-Besteck behandelt, sondern nur mit Raphaelitenhänden, etc.).
Das letztere, nicht allgemein verfügbare Wissen betrifft nicht die Geheimnisse, welche ein Spielercharakter nicht stimmig in der Spielwelt wissen kann, wie z.B. die exakten Fähigkeiten von Traumsaat-Dämonen, die Machenschaften von Ketzern, die Ränke von kirchlichen Politikern etc., sondern es betrifft
Wissen, welches nur EIN Charakter einer Schar, aber NICHT ALLE anderen haben dürften. So dürften z.B. die anderen Engel nicht mal ahnen, wie es ist, eine Kathedrale der Gedanken zur Verfügung zu haben. Das wissen nur die Ramieliten.
Solches Wissen wird in der Regel mit einer ausführlichen Charakter-Erschaffung aufgebaut, welche unter vier Augen erfolgt, so daß die anderen Spieler nicht genau wissen können, was der jeweils andere Engel so in seiner Zeit vor der Weihe und vor dem gemeinsamen Einsatz erlebt hat (so wissen sie auch nichts vorab über seine Stärken und Schwächen, was dem Spieler erlaubt, auch mal ein "Ah!", ein "Oh!" oder ein "Nanu?" seiner Mitspieler im Spiel zu bekommen). Hier spielen die ordensspezifischen Geheimnisse eine wesentliche Rolle, ebenso wie die vielen anderen nicht-öffentlichen Informationen über Logen, Sekten, Ordenspolitik, militärische und wirtschaftliche Strukturen in den jeweiligen Ordensländern.
Wer darüber etwas weiß, obwohl er nicht zu dem jeweiligen Orden gehört, der kann natürlich auch nicht mehr unbefangen agieren. Wer z.B. weiß was es bedeutet, wenn der Gabrielit in der Schar ein Stück rohes Eisen am Körper trägt (was ja bei Heilung dem Raphaeliten oder sonst irgendwie mal auffallen könnte), der weiß mehr über den Gabrieliten-Charakter, als der jeweilige Spieler publizieren möchte. Kann man dann noch unbefangen agieren, wenn man merkt, daß derselbe Gabrielit augenscheinlich irgendwelchen anderen Gabrieliten mal zunickt, mal irgendein anderes ohne Vorkenntnisse mysteriöses Verhalten an den Tag legt? Wer das Gabrieliten-OB gelesen hat, der weiß, was da abgeht und der nimmt sich und dem Spieler etwas von der Atmosphäre, die eine Mitgliedschaft in einer GEHEIM(!)-Loge eben mitsichbringen sollte. In dieser Form ist die Wahrung des Geheimnisses vor den anderen Spielern ein Teil des Spielspaßes für den Spieler mit geheimen Kontakten. Und es erlaubt scheinbar undurchsichtige Motivationen für Verhalten, Missionen, Auftreten des Charakters, die im Spiel selbst für die anderen Charaktere ein interessantes Rätsel darstellen. Natürlich könnte der Spieler auch jedem sagen: "Paß auf, ich bin bei den Ferramensern." Nur, was gewinnt er dabei? Und was verliert er?
Aber: selbst wenn ein Spieler hinsichtlich der Informationen über Logen-Mitgliedschaften bzw. die Ziele der Logen verspoilert ist, so ist dies nicht zwingend störend für den Ablauf der Chronik. Aber wenn der Spielleiter seinen Handlungsbogen stark mit diesen Informationen als den Kräften hinter seiner Chronik verwoben hat und er darauf (zur Recht) bauen muß, daß der Logenmitglieds-Charakter NIEMANDEM AUSSERHALB von den Logenzielen und -handlungen etwas sagen wird, dann ist solches unerlaubtes Spielerwissen für den Spielleiter ein echtes Problem. Solche Logen-Querelen sind ja nicht erst seit Paranoia eine beliebte Möglichkeit innere Spannung in eine Gruppe von Spielercharakteren - hier die Schar - zu bringen. Das funktioniert aber nur so gut, wie schlecht die anderen Spieler über die jeweiligen GEHEIM-Logen informiert sind. Wer schon alle Logen kennt, alle ihre jeweiligen Ziele und Stoßrichtungen,
der hat mehr HANDLUNGSRELEVANTE Information, als ihm als Spieler eigentlich zukommt.
Es geht hier nicht um die Bräuche wie das erneute Segnen des Flammenschwertes oder so, da diese eher unwahrscheinlich den Verlauf der Gesamtchronik der Schar wesentlich bestimmen werden. Es geht hier aber sehr wohl um alles GEHEIME wie Logen, Sekten, Bünde, Gruppierungen, Vorgeschichten von Bischöfen und Kardinälen, Beziehungen zwischen Klerikern, die man als Außenstehender NIEMALS so vermuten würde, etc. Das ist der spannungsgeladene Ton aus dem Spielleiter ihre Handlungsbögen kneten. Mir kommen beim Lesen insbesondere der Ordensbücher bei Engel stets neue Ideen, wie man die Informationen in den eher erdkundlich-politischen Kapiteln in Chroniken in handlungsbestimmender Form oder als Ablenkung oder falsche Fährte nutzen kann.
DAS ist der Hauptgrund, warum ich nicht will, daß meine Engel-Spieler sich verderben, indem sie diese GEHEIMNISSE lesen.
Gibt es nun DAS EINE UND EINZIGE ENGEL-GEHEIMNIS (tm)?
Das eine Geheimnis, auf daß im Zitat aus dem GRW angespielt wird, ist zwar für einen Engel ein existentielles Geheimnis, aber bei weitem nicht das einzige und nicht das größte. Was ist mit dem "unsterblichen" Pontifex? Woher kommen die Fegefeuer? Woher kommen die Himmel? Was passiert wirklich in der Urbanis Liga? Was ist mit den übriggebliebenen Ragueliten? usw. - Hier ist ein ganzer Haufen von Geheimnissen, die zum größten Teil von F&S noch nicht einmal veröffentlicht wurden. Das ist in Zusammenhang mit dem Metaplot der Welt der Engel zu sehen (wobei ich bei der schneckenlangsamen Geschwindigkeit mit der dieser Metaplot eben leider NICHT vorangetrieben wird, schon etwas über die Existenz eines Engel-Metaplots an sich verärgert bin - aber das ist ein anderes Thema, und kann bei Bedarf an anderer Stelle ausgiebigst diskutiert werden).
@B_u_G: Du müßtest Engel doch besser kennen, um es hier als "One-Trick-Pony" darzustellen, oder?
Die erste Chronik für einen neuen Engel-Spieler enthält schon das Potential, daß dieses eine (von vielen) Geheimnis offenbar wird. Aber DAS MUSS NICHT SEIN! - Es gibt auch Engelspieler, die mehr als nur eine Chronik gespielt haben, ohne daß es überhaupt angerissen wurde. - Manch einer hat vielleicht den Eindruck, daß es DAS schlimmste Geheimnis schlechthin ist, und manch ein Spielleiter möchte seine Spieler mal ordentlich durchrütteln und spielt diese (zugegeben recht starke) Karte gleich mit seiner ersten Hand aus (und wundert sich dann vielleicht, wie er weiterspielen soll). Das muß aber nicht sein. Die Mehrzahl der Engel in der Welt der Engel fällt gegen die Traumsaat oder ist "missing in action" noch bevor die Träume und die Unsicherheiten (und eventuell die Enthüllungen) einsetzen können, die eine Hinführung zu diesem einen von vielen Geheimnissen darstellen.
Trotz der Vielzahl an Geheimnissen in der Welt der Engel bleibt dieses eine Geheimnis stets ein Off-Limits-Bereich für die Spieler in meinen Runden, da ich
keine guten Erfahrungen mit in dieser Hinsicht verspoilerten Spielern gemacht habe: in einer aktuellen Schar von mir ist ein Spieler, der durch unbefangenes Lesen der Engelromane verspoilert wurde. Nicht auf Seite 102 im Regelbuch, sondern auf dem Umschlag der Hiob-Trilogie hätte die Spoilerwarnung stehen müssen! Die Autoren bei F&S kapieren das aber augenscheinlich nicht, daß es Leute gibt, die Romane zu einer Spielwelt als Einstimmung in die Welt lesen wollen (siehe Forgotten Realms Romane z.B.) und nicht darin Überraschungen, die viel stärker empfunden werden, wenn sie ihren eigenen Charakter betreffen, einfach so lapidar zum lesen präsentiert bekommen wollen (das wäre so, wie wenn in jedem Forgotten Realms Roman ein Kauf-Szenario mit komplettem Walktrough in Erzählform dargestellt würde - das macht dann wenig Sinn es zu lesen, wenn man es noch einmal spielen will.
Der betreffende, sich selbst naiv verspoilert habenden Spieler kann im eigentlichen Spiel nun mit den langsam tatsächlich einsetzenden Flashbacks kaum etwas für sein eigenes Spielen anfangen. Die anderen unverdorbenen Spieler sind da verwundert, verstehen nicht, was das ist, manche gehen diese Flashback aktiv nach, andere verdrängen sie, usw. Hier bekommt man eine Fülle an echter(!) Emotion auf das langsam sich enthüllende Geheimnis, die man tatsächlich nur genau einmal spielen kann und danach in dieser verstörenden Form nie wieder. Daher ist das ein Schatz, der wohlbehütet und nicht billig verpulvert sein will. - Nur für die verspoilerten Spieler ergibt sich das Problem, daß sie den Hintergrund all dessen, was ihre unwissenden Mitspieler zum Grübeln bringt, ja schon wissen und sie auch noch die Flashbacks (als Spieler wohlgemerkt!) ohne tiefe emotionale Berührung wegstecken können, egal wie extrem sie die Reaktion ihres Charakters ausspielen. Das ist alles nur noch ein hohles Gestell, weil ihnen das Empfindenkönnen verdorben wurde.
Engel-Spielercharaktere sind besonders UNINFORMIERT, wenn sie auf die Welt der Menschen kommen. Sie wissen weniger über die Welt, als z.B. ein Level 1 Barbar bei D&D. Sie wissen kaum etwas über die Welt, was nicht durch die engmaschigen Indoktrinationsfilter ihres Ordens ging, bevor es an sie weitergegeben wurde. So kommen sie wie aus dem sprichwörtlichen Elfenbeinturm in eine Welt im Untergang und müssen sich alles weitere an Information durch ihre eigenen Handlungen erst erwerben. Das heißt "in time"-Erfahrungen sammeln, nicht vorab alles lesen können, was es für einen naiven, glaubensfesten Engel erst zu lernen und zu erfahren gibt. Ich habe die besten Erfahrungen gemacht die Alltagsbegebenheiten und die Schattierungen innerhalb der Kirche den Spielern im Spiel darzubringen. Sie sind dann z.T. bestürzt darüber, daß nicht alle Ketzer gleich böse sind und die Kirche nicht immer nur gut und gerecht. Das führt zu inneren Konflikten sowohl des Charakters als auch zum Nachdenken des Spielers. Diese Art des aktiven Erfahrens der Welt läßt den Spieler auf allen Ebenen aktiv, rege, kreativ, neugierig sein. Das fördert die Begeisterung und das Interesse für die Welt der Engel. Wenn man das alles, was es zu erfahren gibt, nur durch lapidare Einträge wie "die XYZ-Loge hat vor ABC zu erlangen, was ihr der ihnen gewogene Kardinal JKL erleichtert, indem er oftmals Engelsscharen für diese Zwecke nach MNO schickt" wird das ganze extrem unspannend und sogar langweilig. Im Spielen selbst herauszubekommen, daß es eine Gruppe innerhalb der Kirche geben muß, die andere als die Heiligen Ziele der Angelitischen Kirche hat, herauszubekommen, daß die letzten paar Missionen mit komischen Aufgaben alle mittelbar von einem einzelnen Kardinal beauftragt wurden und dann aufzudecken, daß die Gruppenziele Ketzerei sind, der Kardinal mit den Ketzern unter einer Decke steckt - und vor allem: zu überlegen, wie man nun mit der hart erarbeiteten Information verfährt, DAS ist spannend!
Sich verspoilern war gestern, heute ist's dann langweilig! Das kommt davon.
Ich weiß auch, daß man die Spieler, insbesondere solche, die selbst Engel-Spielleiter sind, nicht ständig uninformiert halten kann. Es ist nur wie mit der Jungfräulichkeit, nach dem ersten Mal ist es eben vorbei damit. Man überlege sich also, ob und wann in seiner Chronik man welche Geheimnisse offenbaren will. Und man plane für danach...
Wer die Welt der Engel nach kanonischen Informationen bespielen will, dem wird das leider nicht so leicht gemacht, wie es möglich wäre, da der vermaledeite Metaplot den Arsch nicht hochbekommt. Vielleicht bin ich da zu ungeduldig und zu sehr von meiner Deadlands-Metaplot-Erfahrung verwöhnt - ich bin bei Deadlands eingestiegen, als der wesentliche Meta-Plot bereits publiziert war, also rückblickend praktisch vollständig vorlag. Genauer gesagt, war es der Deadlands-Metaplot, der mich so sehr an Deadlands begeistert hat. Ein vollständig beschriebener Verlauf einer fiktiven Setting-Historie erleichtert einem Deadlands-Spielleiter für seine Posse den Handlungsbogen gut in diese fiktive Historie der Welt der Manitous zu integrieren. Bei Engel ist es aber schwierig auch nur ein wenig vorausblickend zu planen, da die Publikationen nur tröpfelnd erscheinen bzw. alle Nase lang verschoben werden.
Zusammenfassung meiner Kernpunkte:
- Geheimnisse, die nicht für Spieler vor dem Erspielen zu lesen sind, gibt es in jedem Rollenspiel.
- Engel basiert keinesfalls auf nur genau EINEM Geheimnis, nach dessen Offenbarung die Luft für alle weiteren Chroniken raus ist (auch wenn selbst manche Engel-Spielleiter das augenscheinlich nicht kapiert haben *seufz*) - jedoch ist das betreffende Geheimnis eines der stark hintergrundrelevanten Geheimnisse, die bewußt im Handlungsplan für eine Chronik berücksichtigt werden sollten, da sich mit der Offenbarung vor den Spielern einiges an Konfliktpotential (innere und äußere Konflikte) ergeben wird.
- Geheimisse im Spielleitertext zu haben, macht ein Rollenspiel NICHT minderwertig - da die Mehrzahl aller guten und aller schlechten Rollenspiele das selektive Herausgeben von Informationen betreiben (und wenn es nur im jeweils konkret vorliegenden Szenario ist), KANN das gar kein Kriterium für die Bewertung eines Rollenspiels sein, sondern man muß sich da andere Kriterien einfallen lassen (wie z.B. Stimmigkeit der Hintergrundinformationen, Brauchbarkeit für den Spielleiter, Ergiebigkeit eines Hintergrunds für mehr als eine Kampagne, etc.).
- Der Engel-Hintergrund ist SEHR ergiebig für eine Fülle an Geschichten, die man dort als Engel (oder auch als Mensch) erleben kann - Engel ist keine Mega-Kampagne, die man von Alpha bis Omega durchspielt und dann "hat man fertig", sondern ein auf Dauer bespielbarer Hintergrund! (Man könnte ja sagen, daß Stormbringer oder Unknown Armies viel beschränkter sind als Engel, da ja in beiden Fällen die Welt, wie sie die Spieler kennen, enden wird - und zwar BALD. D.h. man kann tatsächlich bei einer Cosmic Level Kampagne sagen, ich habe Unknown Armies DURCHGESPIELT!)
Soviel zu den Fragen.
Nachtrag:
Rollenspiele wie Deadlands, Unknown Armies, Cthulhu, Over the Edge leben davon, daß die SPIELER zumindest am Anfang (also bei Rookies, im Street Level, bei unerfahrenen Investigators, bei Neuankömmlingen in Al Amarja) KEINE Ahnung von den meisten, sogar ganz wesentlichen Gegebenheiten des Hintergrunds haben.
Bei Deadlands ist das die gesamte Reckoning-Thematik - kein Marshall wird akzeptieren, daß die Spieler die "Marshal only"-Seiten in den Deadlands-Bänden lesen, wobei die Deadlands-Bände in dieser Hinsicht vorbildlich aufgebaut sind: ein Teil für die Posse, d.h. ALLEN Spielern zugängliche Informationen, ein Teil Niemandsland, d.h. nur bestimmten Spielerkreisen (z.B. nur Texas Rangern, nur Pinkerton-Agenten, nur Huckstern etc.) zugängliche Information, die man lesen darf, sofern man dafür qualifiziert ist (sprich: wenn man ein Texas Ranger ist, wenn man ein Pinkerton-Agent ist, wenn man ein Huckster ist), die aber "Normalbürger" nicht wissen sollten, und als dritten Teil die Marshal-Informationen, in denen die tatsächlichen Hintergründe hinter den durch die "in setting"-Darstellung gefilterten Spielerinformationen stecken. Ein Pinkerton-Spieler würde sich anders verhalten, wenn er wüßte, wer (oder was) der Chef der Agency in Denver wirklich ist - das zu ignorieren (mit der "urban legend" des "Trennens von Spieler- und Charakterwissen" *lach*) dürfte da wirklich schwerfallen.
UA unterscheidet ja schon von Haus aus drei Ebenen der Erzählung und auch der Informiertheit der SPIELER(!) nicht nur der Charaktere. Der Street Level ist nur knapp neben unserer Normalität angesiedelt und die Spieler, nicht nur die Charaktere lernen die ersten Geheimnisse, inneren "Wahrheiten" der UA-Welt kennen. Kaum eine UA-Runde wird gleich und ohne solch ein Erspielen der Welt auf Global oder Cosmic Level einsteigen - zumindest keine mir bekannte.
Bei Cthulhu ist das Wissen um die regeltechnischen Werte der Großen Alten etwas, daß Spieler nicht verfügbar haben sollten, da es die unbezwingbaren Großen Alten zu nicht mehr als nur sehr starken Monstern macht. Das zieht den kosmischen Horror auf eine Ebene des Level 1 Charakter gegen Plutoniumdrache - auch hoffnungslos unterlegen, aber durch Zahlenwerte eben wohldefiniert, nicht etwa durch ein Gefühl des Unbehagens, der Unsicherheit, die vornehmlich durch fehlende Gewissheit, fehlende konkrete Information über das Übel, fehlende Spielwerte(!) kommt. Ein guter Spielleiter kann das etwas überspielen, aber mal im Ernst, wenn die Spieler die Werte von Kultisten, von Deep Ones etc. kennen, dann können sie sich bestens die Chancen ausrichten, was sie aufbieten müssen um diese niederzuballern (etwas, was das heutige Cthulhu, so wie es sich in Deutschland in den letzten Jahren mit publizierten Szenarios präsentiert hat, leider mehr auszeichnet, als ich das in den Achtziger Jahren im Spiel je erlebt hatte. Schade, daß Cthulhu inzwischen mehr NotlD oder Indiana Jones als Lovecraft im Fokus hat.). Die deutsche Ausgabe hat jedoch die Problematik mit den exakt beschriebenen Cthulhu-Mega-Monstern erkannt und die Publikationen sind z.T. in Spieler- und Spielleiter-Buch getrennt worden (sowieso eine gute Idee), und auch für die Darstellung der Mythos-Monstrositäten ist im "Monsterhandbuch" dem Spielleiter eine bessere Hilfestellung zuteilgeworden, als es im ursprünglichen US-Original der Fall war (auch wenn die aktuellen Szenarien davon augenscheinlich wenig mitbekommen haben. Nochmals, schade eigentlich.).
Mit diesem Nachtrag will ich nur kurz darstellen, daß diese Problematik in anderen Rollenspielen nicht nur da ist, nicht nur von den Autoren (besser als bei Engel!) wahrgenommen wird, sondern daß andere Rollenspiele damit auch umgehen. Und da braucht man dann nicht zu fragen, ob Cthulhu, UA oder Deadlands von minderer Qualität sind. :motz: