4. AKT: DIE LESEPROBE
Die Gesänge der Dhole
Liebe Mama, lieber Papa!
Hier bei Oma in den Bergen ist es wirklich schön! Man kann viel weiter gucken als bei uns in New York, weil es keine hohen Häuser gibt. Und es gibt auch keinen Krach, denn die Leute haben hier nicht so viele Autos. Oma meint, deshalb, und weil es hier keine Fabriken gibt, ist die Luft auch viel besser. Jedenfalls habe ich noch keine gesehen, obwohl ich schon gerne wüsste, wo die Leute hier ihre ganzen Sachen herkriegen, die sie brauchen. Oma meint zwar, dass die Menschen hier in den Bergen nicht so viel brauchen wie in der Stadt, aber ich glaube das nicht. Vielleicht kommen die Sachen ja mit der Bahn, so wie ich? Es gibt übrigens auch viel mehr Tiere als bei uns. Auch wenn ich immer ein ganzes Stück von Omas Hof laufen muss, um die Schmetterlinge und Käfer zu finden. Die gibt es da nämlich nicht. Oma sagt, sie ist froh darüber, weil das alles nur Ungeziefer ist. Aber ich finde sie trotzdem schön. Viel schöner als Omas Kühe, die sehen nämlich alle ganz krank aus. Das liegt sicherlich am gelben Gras, mit dem die Hügel, auf denen sie stehen, ganz bewachsen sind. Das schmeckt den Kühen bestimmt nicht so gut wie grünes und deswegen essen sie weniger. Manchmal liegt da auch so stinkender Schleim auf der Weide, Dünger, sagt Oma. Aber er scheint nicht viel zu helfen; auf manchen Weiden wächst gar nichts mehr. Die sehen fast so aus wie eine Baustelle, auf der ganz viel gebuddelt wird. Wenn Onkel Wally vom Krieg erzählt, dann sagt er doch „Trichterfelder“ zu einer Landschaft, die ganz kaputt ist. Ich glaube, so wie diese Weiden haben die auch ausgesehen. Manchmal fehlen auch ein paar Kühe. Die hat dann der Fleischer abgeholt, sagt Oma, aber wenn ich der Fleischer wäre, würde ich ihr die nicht abkaufen. Und ich würde auch nicht in der Nacht kommen, um die abzuholen. Das tut er nämlich, denn am Tag habe ich ihn noch nie gesehen. Und nachts ist es hier manchmal ganz schön unheimlich, denn draußen sind immer so seltsame Geräusche. Ich habe das Oma erzählt, aber die hat nur gesagt, dass das die Tiere sind, die im Wald leben. Aber seitdem liest sie mir auch immer vor dem Schlafengehen etwas vor. Sie hat da ein ganz dickes Buch, das ganz alt aussieht und in dem komische Sachen stehen. Am Anfang habe ich davon auch Angst bekommen und geweint und gesagt, sie soll damit aufhören. Aber das hat sie nicht getan, sie hat nur gelacht und gesagt, ich würde schon noch Gefallen daran finden. Und Oma hat Recht gehabt. Ich verstehe zwar noch immer nicht, wovon das Buch handelt, aber das ist mir auch egal. Denn immer wenn Oma vorliest, kommt diese Musik und das ist sehr schön, weil es hier ja kein Radio gibt. Die Musik ist sowieso ganz anders als die im Radio bei uns. Das sind so ganz komische Gesänge ohne Text, manchmal ist es auch nur ein Brummen. Und die Musik geht auch nicht durch das Ohr, sondern ist irgendwie bereits im Kopf drin. Komisch, nicht? Ich habe Oma gefragt, wer denn diese Musik macht, und da sagte sie ein ganz komisches Wort. Sie meinte nämlich, dass das die Dole oder Dollen sind, ich habe das nicht so genau verstanden. Und sie sagte, dass das Vögel sind. Da habe mich aber gewundert, weil ich die noch gar nicht kannte. Aber Oma meint, sie würde mir bald einmal welche zeigen. Darauf freue ich mich schon!
Die Vögel müssen aber sehr klein sein, weil ich sie jetzt schon den ganzen Tag über höre. Aber immer wenn ich mich umschaue, dann sehe ich keine Vögel. Manchmal machen die Vögel auch so laute Musik, dass ich mich gar nicht richtig auf die Comics konzentrieren kann, die ich mir doch extra mitgenommen habe. Aber man kann die auch nicht verscheuchen, das habe ich schon versucht. Ich schreie dann immer ganz laut oder mache Krach, aber ich sehe nie welche wegfliegen, und aufhören tut die Musik auch nicht. Manchmal höre ich die Musik sogar, wenn ich schlafe. Dann träume ich auch immer ganz seltsame Sachen, aber nicht von Vögeln, sondern von ganz großen Würmern, die in der Erde leben und die Musik machen. Aber das kann ja nicht sein, denn Würmer können gar nicht singen, das weiß ich genau.
Aber ich freue mich trotzdem darauf, zu den Dollen zu gehen. Vielleicht kann ich ja sogar einen fangen! Und wenn die so klein sind, kann ich den dann mit nach Hause bringen, wenn der Sommer um ist? Bittebitte! Euch wird der bestimmt auch gefallen und die Musik, die der dann macht, ist wirklich ganz schön!
So, ich muss jetzt aber Schluss machen, weil die Dollen wieder so laut singen, dass ich mich nicht mehr richtig aufs Schreiben konzentrieren kann.
Es sendet euch liebe Grüße (auch von Oma)
Euer Freddy
Brief des 10-jährigen Frederick Fitzgerald Marcussen, abgestempelt am 14. Juni 1956 im Postamt von East Pittsford, Vermont, adressiert an seine Eltern Kate und Arthur Marcussen. Als Freddy Marcussen zum Ende der Sommerferien von seiner Großmutter zurück nach New York kam, klagte er darüber, andauernd Musik zu hören, die ihn ganz schwindlig mache und ihm den Schlaf raube. Ärztliche Untersuchungen konnten aber keinen Befund feststellen. Kurze Zeit später begann der Junge, seine Umgebung mit schrillen Schreien zu terrorisieren und eine extreme Unrast an den Tag zu legen. Als er seine zweijährige Schwester Heather mit lebenden Würmern fütterte und sie dabei erstickte, lieferte man ihn in ein Heim für schwer erziehbare Kinder ein. Mit Erreichen der Volljährigkeit wurde er aus der Erziehungsanstalt entlassen. Seitdem fehlt jede Spur von ihm.
Über Die Gesänge der Dhole
Es gibt zwei ganz verschiedene Ausgaben unter demselben Namen (auf Englisch bekannt als „Dhol Chants“).
Das Buch vom Plateau von Leng
Das ältere Werk ist ein von einem unbekannten Autor auf Burmesisch verfasstes Werk, das vom Plateau von Leng stammt. Von diesem Buch findet man weltweit nur noch sehr wenige Exemplare, die alle handschriftlich auf gegerbter Menschenhaut niedergeschrieben sind. In diesem Werk werden riesenhafte Mythoskreaturen, die Dhole, sowie deren fremdartige Gesänge beschrieben. Angeblich erlernten die Dhole diese von einem Wesen, vor dem selbst das Sonnenlicht flieht und das nur mit dem burmesischen Wort für "Sänger" bezeichnet wird. Irreführend wird dieser in einigen Quellen auch als „Der Sänger von Dhol“ bezeichnet. Mit diesen mehreren hundert Gesängen bewirken die Dhole ihre magischen Effekte.
Stabilitätsverlust: [...]
Cthulhu-Mythoswissen: [...]
Studierdauer: [...]
Vorgeschlagene Zauber: [...]
Die deutsche Ausgabe
Heinrich Zimmermann verfasste kurz vor Ausbruch des Großen Krieges ein Buch mit dem Titel „Die Gesänge der Dhole“, ohne jedoch vertiefte Kenntnis des burmesischen Originals zu haben. Nur wenige Passagen aus dem Original fanden ihren Weg in dieses Werk.
Zimmermann war begeisterter Student der rhythmischen Vielfalt der westafrikanischen Musik und stellte die Behauptung auf, er habe höchst merkwürdige Ähnlichkeiten zur Musik der Indianer vom Stamme der Carib entdeckt, auf die Kolumbus um 1492 in der Karibik stieß. Er beschreibt 555 verschiedene Gesänge, die dazu dienen sollen, sowohl Ahtu herbeizurufen, einen Avatar Nyarlathoteps, als auch verschiedene „Geister der Lüfte“. Ahtu ist dabei ein afrikanischer Götze, der als zähe Masse beschrieben wird, aus der sich mehrere goldene Tentakel winden.
Angeblich wurde der, in den 20er Jahren erschienen, zweiten Auflage ein loses Blatt beigelegt, welches zusätzlich Bezüge zu gewissen fast vergessenen Gesängen der nordfriesischen Inselbewohner herstellt.
Das Buch ist auf Deutsch geschrieben. Um die auf afrikanische Musik bezogenen Inhalte zu verstehen, ist entweder ein halbierter Wissenswurf erforderlich oder ein Wurf auf Kunst (Singen oder Musikinstrument).
Die enthaltenen Zauber sind nicht als solche gekennzeichnet, sondern als magische Gesänge beschrieben. Diese enthalten derart feine tonale Abstufungen, dass nicht alle Musikinstrumente geeignet sind, sie wiederzugeben, nur eine Violine und ähnliche Streichinstrumente sind dazu in der Lage. Ohne weiteres möglich ist aber das Nachsingen. Um den Zauber erfolgreich durchzuführen, ist dann ein Wurf auf Kunst (Singen) oder - bei geeignetem Instrument - auf Kunst (Musikinstrument) erforderlich.
Stabilitätsverlust: [...]
Cthulhu-Mythoswissen: [...]
Studierdauer: [...]
Vorgeschlagene Zauber: Rufe/Vertreibe Ahtu (ein Avatar Nyarlathoteps), Beschwöre/Binde Byakhee und weitere Beschwöre/Binde-Zauber.
Optional: Die Gesänge der Dhole im Spiel
Auswirkungen beim Querlesen
Die Wirkungen beim Querlesen und Studieren beziehen sich allein auf die Ausgabe vom Plateau von Leng.
Wird im Buch geblättert, setzt das Hörvermögen des Lesers für die Dauer des Blätterns vollständig aus, ein Umstand, der nicht sofort bemerkt werden muss. Erst wenn das Werk geschlossen wird, verschwindet die Taubheit. Allerdings vernimmt der Leser im Moment des Zuschlagens einen derart hohen, schrillen Ton, dass seine Trommelfelle unter der Belastung platzen. Ob dies als Konsequenz eine permanente Beeinträchtigung des Hörvermögens nach sich zieht, mag von Fall zu Fall verschieden sein (und damit dem Spielleiter überlassen bleiben). Wird das Querlesen beendet und das Buch offen aufgeschlagen liegen gelassen, dauert die Taubheit an. Erst ein Zuschlagen des Buches – samt Nebeneffekt – beendet die vollständige Stille.
Auswirkungen beim Studieren
Auch ein Studium des Mythoswerkes, dessen Text einer einzigen Partitur gleicht, wirkt sich auf das Hörvermögen des Lesers aus: Seltsame Töne, anfangs noch undeutlich, dringen an sein Ohr, wenn er mit dem Buch arbeitet. Mit fortschreitender Lektüre gewinnen diese Töne an Klarheit – sie ähneln jetzt einem dissonanten Singsang, der am ehesten mit dem gefolterter Wale zu vergleichen wäre. Dazwischen mischen sich mehr und mehr ein tiefes dunkles Brummen, das fast schon physische Intensität besitzt, und fremdartige, ätherische Musik. Zur Mitte der Lektüre der Gesänge der Dhole ist diese Geräuschkulisse der ständige Begleiter des Lesers geworden, die ihn an Schlaf und Konzentration hindert und ihn in ständiger nervöser Gespanntheit hält. Von diesen Tönen ist für andere lediglich der Brummton vernehmbar; mit seinen weit reichenden, unterschwelligen Vibrationen ist er in der Lage, ganze Landstriche zu terrorisieren. Um die Qual des Klangkonzerts wenigstens etwas zu mindern, wird der Leser schließlich mit in die Kakophonie einstimmen – eine immer noch schwache, wenn auch grässlich anzuhörende Imitation nichtmenschlicher Laute. Davon angelockt erscheinen flatterhafte, verdrehte Schemen am Rand seines Gesichtsfeldes, die auf merkwürdigen Instrumenten zu spielen scheinen.
Irgendwann verfolgen die Töne den Leser auch bis in den selten gewordenen Schlaf. Träume von gigantischen, wurmähnlichen Kreaturen suchen ihn heim und lassen ihn eine widerwärtige Affinität zu Würmern entwickeln. Wer gar versucht, Zauber aus dem Werk zu erlernen, der wird sich eines Tages mit höllischen Ohrenschmerzen konfrontiert sehen. Einen Besuch beim Arzt und eine Röntgenaufnahme später ist die Ursache hierfür gefunden: In den Gehörgängen stecken winzige, dünne Würmer, die sich langsam ihren Weg nach draußen suchen. Nach einer Woche höllischer Pein ist es dann soweit und die fadenartigen Kreaturen kriechen aus der Ohrmuschel heraus.
Mit Ende des Studiums werden auch all diese Nebenerscheinungen immer leiser und schwächer bis sie schließlich ganz aufhören – und den Leser lediglich mit einem Tinitus zurücklassen