AW: Das Intelligenz-Problem
Das Problem ist weit weniger ein Spieler mit mehr Ideen, als es für den Charakter und dessen geistige Attribute zu erwarten wären, sondern der umgekehrte Fall. Wenn jemand ein Superhirn, Vizzini aus The Princess Bride, Einstein, etc. spielen will, denen von den Charakter-Attributen das regeltechnische High-End an geistiger Leistungsfähigkeit zugesprochen wird, dann ist es meiner Erfahrung nach öfter der Fall, daß ein Spieler mit der erwarteten Brillianz solcher Charaktere nicht so recht mithalten kann.
Das interessante dabei ist für mich, daß in solchen Fällen im Pen&Paper das aus dem LARP bekannte "Du kannst, was Du kannst" gilt. Es mag jemand einen geistig noch so "ausgemaxten" Mental-Überflieger (Dr. Hans Zarkov) spielen wollen. Auf dem Charakterbogen stehen die für solch einen Charakter höchst-möglichen Werte. Und doch kommt der Spieler nicht auf auch nur irgendeinen Lösungsansatz für ein Problem in einem Szenario, welches der Charakter neben der Entwicklung eines Überlichtantriebs und einer universellen Krebsheilungsmethode mal so eben aus dem Ärmel geschüttelt hätte.
Ich finde auch Systeme charmant, in denen erst gar keine Intelligenz/Bildung/Wissen/Schläue/... als Attribut vorkommt (z.B. Engel, Abenteuer in Magira, HeroQuest, Castle Falkenstein). Das heißt natürlich nicht, daß man da nicht einen genialen Dampftechnik-Erfinder, einen Wissensgott-Oberpriester, einen Einsteiniel spielen könnte. Es kommt bei diesen Spielen nur nicht zum wahrgenommenen(!) Konflikt zwischen einer die geistige Kombinationsgabe und sonstiges mentales Vermögen in Zahlenwerte fassenden Charakteristik und der für alle am Tisch sichtbaren Handlungs- und Problemlösungs-Kompetenz des Spielers. (Nebenbei: gerade bei Engel habe ich viele Spieler erlebt, die sich beim Ziehen der Karte Inspiration: Kreativität enorm unter Druck gesetzt fühlten jetzt eine besonders kreative Erläuterung der Auflösung zu finden, auch wenn ihnen eigentlich eine sehr direkte, unkreative Lösung vorschwebte - das Problem ist also nicht nur auf "Intelligenz" bezogen, sondern kann, wie hier, auch anders gelagert sein).
Bei Systemen, die eine Bewertung der Intelligenz o.ä. in Form einer Charakteristik mitbringen, sollte man sich überlegen, was das im praktischen Spiel bedeutet. Bei CoC gibt es die Ideen-Wahrscheinlichkeit, die einem auf dem Schlauch stehenden Spieler erlaubt das Potential seines Charakters bei der Findung neuer Ideen auszuschöpfen (so etwas ist für einen Spielleiter auch ein netter Mechanismus, der verhindern kann, daß ein Szenario an einer engen Stelle aufgrund der mangelnden Kombinationsgabe der Spieler ins Stocken gerät - trotzdem bleibt da oft das Geschmäckle eines "Deus ex Machina"-Ansatzes).
In der bereits andiskutierten "anderen Richtung", also dem offenbar von den Charakterwerten geistig unterbelichteten Charakter, der plötzlich und wieder alle Erwartungen (d.h. unstimmig für den sonstigen Charakterauftritt im Spiel) mit genialen Einfällen daherkommt, liegt das Problem etwas anders. Hier könnte der Spieler, dessen eigene Ideen ja augenscheinlich sprudeln, sich auch durchaus selbst beschränken und sich sagen: "Ich weiß zwar, wie das hier weitergehen müßte, aber ich sage es eben doch nicht". - Nur, das ist frustend.
Man möchte sich doch aktiv ins Spiel einbringen. Und wenn der Charakter nun noch so doof sein mag, so hat man (Gamisten können das verstehen) doch eine spielrelevante Idee, die man gerne einbringen möchte. Immerhin sitzt man am Tisch, keiner sonst spannt was, warum also sollte man via seines Charakters diese Idee nicht vorbringen dürfen?
Klar, man könnte einen Intelligenz/Wissen/Schläue/...-Wurf machen und je nach Ausgang etwas sagen. Man kann aber auch versuchen - ganz die rollenspielerische Herausforderung - die Idee in den Worten des Charakters vorzustellen. Das ist oftmals sehr interessant und führt bisweilen zu lustigen Mißverständnissen bei den anderen Spielern. Diese Lösung ist aber auch eine Selbstbeschränkungsform, nur eben eine, die nicht völlig auf das Einbringen der Ideen verzichten mag.
Aber es geht auch ohne. Ein beschränkter, aber weiser Mönch könnte eine "göttliche Eingebung" haben. Ein praktisch veranlagter Charakter könnte einfach solange an einem komplexen Schließmechanismus aus Frust herumgeruckelt haben, bis er gemerkt hat, daß er so auf dem richtigen Weg ist. - Und wenn solche "ja, das KÖNNTE schon so gewesen sein" oder "ja, das klingt glaubhaft" Zustimmungen ausbleiben, dann kann man seine gute Idee auch einfach so äußern. Immerhin bringt sie die Geschichte weiter und ab und an mal ein wenig Genialität kann man doch wohl jedem zugestehen, oder?
Falls ein Spieler jedoch beständig die treibende Kraft in der Gruppe ist, falls er beständig und fast als einzige die richtig guten Pläne und Ideen hat, dann würde ich aber als Spielleiter schon sanft dahin wirken, daß er seinen Charakter, den er als einfältige Mental-Niete konzipiert hatte, entsprechend weiterentwickelt (in Systemen, in denen das geht).
Es ist doch so, daß ein Charakter, wie man ihn sich "im Trockendock" vorgestellt hat, zumeist im eigentlichen Spiel ein wenig bis sehr deutlich anders von der Persönlichkeit und der in-game-Kompetenz rüberkommt, als man es den nackten Werten auf dem Charakterbogen ansieht. Und in dieser Hinsicht sollte m.E. ohnehin Entwicklung möglich sein. Wenn ich einen Charakter erschaffen habe, der eigentlich blöde, geldgierig und blutrünstig sein sollte, ich aber im ersten Szenario schon merke, daß er sich aus Geld eigentlich wenig macht, dafür aber mehr aus der Anerkennung für seine tollen Pläne, für die er aber bisher im Spielen auch nicht so einfältig vorgegangen ist, wie das auf dem Bogen steht, dann möchte ich das anpassen können. - Bei mir als Spielleiter ist was solche Charakterzüge anbetrifft nichts wirklich fest, bis es merkbar im Spiel ausgespielt wurde. Wenn eine Charaktereigenschaft in einer Schlüsselszene eine wichtige Rolle gespielt hat, dann mag ich es nicht, wenn sich der Charakter danach in diesem Aspekt noch einfach so ändert. Das muß dann über die Charakterentwicklung im Regelsystem erfolgen, so daß eine gewisse Stimmigkeit gewährleistet wird.
Generell sollte ja schließlich der Spieler mit seinem Charakter klarkommen und auch die anderen Spieler nicht die ganze Zeit durch Unstimmigkeiten in ihrem Bild des Charakters erschüttert werden.
Hat schon einmal jemand erlebt, was für einen seltsamen Einfluß es hat, wenn für eine gewisse Zeit ein Charakter in einer Kampagne durch Ausfall eines Spielers (Urlaub) von jemand anderem als "Zeit-Spieler" weitergespielt wurde? Für mich ändert sich dadurch der Charakter stärker, als durch alles, was auf dem Charakterbogen steht.
Das heißt aber auch, daß bei der Frage nach "dem Intelligenz-Problem" eigentlich das Problem keines ist. Es ist nicht die Frage nach dem als unstimmig empfundenen Ausspielen von einem Mehr an "Intelligenz" des Spielers gegenüber dem Charakter-Attribut, sondern es sollte eigentlich generell die Frage nach dem sein, was beim Ausspielen eines Charakters von den anderen Mitspielern (den Spielleiter eingeschlossen) als unstimmig empfunden wird.
"So würde <Charaktername> doch nie handeln!" Wenn man das schon mal im Spiel gehört hat, dann weiß man, daß man wieder an solch einem Punkt angelangt ist. Das ist bei Weitem nicht auf Intelligenz beschränkt, sondern kann sich auf das Ausspielen von verhaltensbeeinflussenden bzw. verhaltensbeschreibenden Vorteilen/Nachteilen (Was ist "Heldenhaft"? Was ist "Loyal"? Was ist "Chaotisch"?) oder auf das Anwenden nicht expliziter Fähigkeiten ("Als Polizist kann mein SC doch garantiert dieses High-Tech-IT-Security-System hacken." - betrifft Systeme mit eher grobgranularer Charakterisierung) beziehen.