Am Leben

CryingShadow

Malkavianer
Registriert
17. Juli 2004
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420
"Kommst du morgen zur Bushaltestelle?"
"Nein. Meine Eltern fahren mich zur Schule."
Der Schmerz ist immer noch stark und stechend, aber er wird bei jedem Mal dumpfer.
"Kommst du morgen zur Bushaltestelle?"
"Ich kann's nicht versprechen."
Blut hat einen komischen Geschmack. Besonders, wenn es im Gemisch mit dem Frühstück aus dem Magen empor steigt.
"Du wirst morgen kommen! Versprich es!"
"Das kann ich nicht."
"Und dass du kommen wirst! Wenn nicht, wird die nächste Fahrt nichts im Vergleich hierzu sein!"
Eine Serie von Schlägen in meinen Magen und mein Gesicht. Es sind fünf im Ganzen. Die vier, die meine Arme und Beine festhalten, kenne ich nicht. Der fünfte, Tobias, kniet auf mir und schlägt mit aller Gewalt zu.

Der Bus kommt zum Stehen. Ich schleppe mich raus. Auf dem Wiesenhang neben der Bushaltestelle bleibe ich erst mal etwas liegen. Ich bin es gewohnt, dass sich niemand um mich kümmert.
"Geht's einigermaßen?"
Ich bin überrascht. Ein Mädchen. Vier bis Sechs Jahre älter als ich.
"Nein."
Was hätte sie auch sonst tun sollen, als weiter zu gehen? Sie sind schließlich noch in der Nähe und merken sich Leute, die mir helfen wollen. Diese tun es nie wieder.

Unser Haus ist zum Glück nur 500 Meter entfernt. Meine Eltern sind nicht da, als ich in den Flur krieche. Nachdem ich eine halbe Stunde liegen geblieben bin, kann ich meine Beine wieder etwas spüren. Meine Hosen sind zerschlissen vom Kriechen über den Asphalt. Trotz meiner zehn Jahre bin ich schon ziemlich selbstständig und kann die Wunden notdürftig verarzten.

Meine Eltern sind noch verzweifelter als ich. Sie haben schon in der Schule und bei den Eltern der anderen angerufen. Sogar bei der Polizei. Es ist natürlich niemand gewesen. Es gibt jede Menge Zeugen, dass im Bus nichts passiert ist. Und niemand außer mir behauptet etwas anderes. Ich will wahrscheinlich Aufmerksamkeit. Hab mich selbst verletzt oder bin hingefallen.
Mit inneren Blutungen. Natürlich...
Aber ich lebe ja noch.


"Hast du's schon gehört?"
"Nein. Was denn?"
"Harry ist tot."
Ich muss mich verhört haben.
"Was?"
"Er ist am Wochenende gestorben."
Er war mit seinen knapp 17 Jahren ein gutes halbes Jahr jünger als ich. Er hat nie eine Freundin gehabt. Er sah den Mädels wahrscheinlich zu schmächtig aus. Aber was will man auch machen, wenn man Wachstumsblocker nehmen muss, damit die Lunge genug Sauerstoff für den ganzen Körper produzieren kann. Ein Geburtsfehler. Nur ein Viertel seiner Lunge arbeitete richtig. Dieses Wochenende sollte er operiert werden.
Bei der Beerdigung waren hunderte. Die ganze Klasse, alle Leher, viele andere Schüler. Seine Familie hatte darum gebeten, dass ihnen niemand sein Beileid aussprechen solle. Daher ging ich wie alle anderen auch wortlos an ihnen vorbei. Auf unserem Kranz stand Harry, nicht Christoph. Für uns hieß er Harry. Ich glaube er mochte den Namen auch ganz gern.
Vor seinem Grab sehe ich ihn, wie er in der Pause bei uns steht und seine unvergleichlichen Witze reißt. Welche Kraft er haben musste, dass er solch einen Humor besaß - trotz der Krankheit. Er war einer meine besten Freunde. Er wird mir fehlen. Er ist gestorben, aber ich muss weiter machen. Ich lebe schließlich noch.
"Auf Wiedersehen, Harry!"


"Sagt dir der Name Tobias etwas?"
Meine Mutter fragt fast beiläufig.
"Ja. Aber ich habe keine guten Erinnerungen an diesen Namen. Wieso?"
Meine Mutter antwortet nicht direkt.
"Der hat den Löffel abgegeben."
Mein Vater ist direkt.
"Er war doch etwa in deinem Alter?"
Meine Mutter will es etwas ruhiger angehen.
"Ja. Was ist denn passiert? Ein Autounfall?"
"Er hat sich einen goldenen Schuss gesetzt."
Eigentlich müsste ich jetzt so etwas wie Genugtuung empfinden. Aber tatsächlich fühle ich mich nur leer. Inzwischen bin ich erwachsen. Ich habe keinerlei Probleme mehr mit Schlägereien oder ähnlichem. Aber ich habe ihn und die Busfahrt nie vergessen; auch nicht die vielen anderen Episoden. Ich war immer der kleine Sündenbock, an dem er mit seinen Freunden seine Aggressionen ausgelassen hat. Jetzt ist er tot.

Aber ich lebe noch.
 
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