AW: Zwangsmaßnahmen
Pyromancer schrieb:
Wenn die SL meinen Charakter spielt (bzw. mir vorschreibt, was mein Charakter zu fühlen, denken, tun hat), was soll ich dann noch machen? Dann kann ich doch gleich nach Hause gehen und die SL spielt alleine.
Das ist immer eine Frage des GEMEINSAMEN Regelkonsenses. Habt Ihr ein Regelsystem, welches bestimmte Aktionen eines SCs als Folge von fehlgeschlagenen Würfen (oder gar erfolgreichen(!) - z.B. Liebeszauber durch einen andern SC oder gar einen NSC) vorsieht? Falls ja, dann ist mit der Akzeptanz des Regelwerkes auch das Einverständnis verbunden, seinen SC solchen Folgen auszusetzen und ggf. die übliche Kontrolle über die Handlungen des SC zu verlieren.
Beispiele gibt es da viele: Liebeszauber, Angstzauber, Mad Science Mind Control Devices, Die Stimme (Engel), Telepathie (ich denke gerade an die diversen, interessanten Dinge im Babylon 5 PSI-Corps-Umfeld), Magie mancher Richtungen bei Unknown Armies, Versteinerungszauber, Lähmungszauber, das gute alte "Chaotic Harmonize" aus RuneQuest-Zeiten, ...
Es gibt in vielen Regelwerken/Spielwelten diese Fähigkeiten/Zauber/Geräte/was auch immer, welche einem Charakter in der Spielwelt den freien Willen und/oder die freie Beweglichkeit rauben können. Man zähle dazu noch die unterschiedlichen Kampfsystem-Resultate, die Bewußtlosigkeit, Koma, geistige und körperliche Behinderung als Langzeitfolgen, Lähmungen, Amputationen etc. auslösen können, und man kann davon ausgehen, daß alle diese Dinge von KEINEM Spieler für seinen SC GEWOLLT im Sinne von "herbeigewünscht" werden. Sie werden aber von den Spielern der betreffenden Systeme als Teil der Spielwelt, als Teil des Risikos in Kampfszenen, als Teil des Risikos, wenn man als Norm gegen Muties antritt, etc. (mehr oder weniger bewußt) in Kauf genommen.
Ich finde die Formulierung "Dann kann ich doch gleich nach Hause gehen und die SL spielt alleine." völlig abwegig.
Wenn ich ein Rollenspiel mit eben diesen Möglichkeiten die Kontrolle über meinen Charakter zu verlieren spiele, dann weiß ich das doch im voraus. Dann kann ich mich auch darauf einstellen, daß mein SC im Abenteuer "Gegen den Basilisken-König" eventuell versteinert werden kann und es - je nach Fähigkeiten innerhalb der SC-Gruppe - auch länger dauern könnte, ihn, falls das nach diesem Regelwerk überhaupt möglich ist, zu "entsteinern"/"verfleischlichen".
Will ich meine zweite Chance, will ich einen regeltechnischen Airbag gegen solche Schicksalsschläge - die bitteschön ungedämpft nur NSCs, vorzugsweise Extras, Mooks, ... passieren - haben, dann suche ich mir ein Regelsystem, welches die Vermeidung solcher Ereignisse für SCs regeltechnisch ermöglicht, oder mache im Gruppenkonsens hierzu eine Hausregel.
Aber selbst eine Hausregel oder ein zweite Chance Regel ist keine Garantie, daß der SC nicht DOCH versteinert wird, oder nicht DOCH vom PSI-Cop Bester mental "umgedreht" wird.
Also, was tun?
Ganz einfach.
Keine "normalen" Rollenspiele mehr spielen, bei denen es bei der Zufallseinflußnahme um den Erfolg von Handlungen geht, sondern solche Systeme spielen, bei denen nicht der Erfolg der Handlung der Gegenstand der Würfelei ist, sondern das ERZÄHLRECHT. Dabei kann der Spieler dann frei selbst entscheiden, ob sein SC mit einer Handlung (oder besser: Szene) Erfolg haben soll, oder ob es interessanter wäre, wenn er hier scheitern würde.
Das hört sich alles richtig toll an: der Spieler entscheidet selbst. Die Allmacht des Spielleiters ist gebrochen und geht (so toll demokratisch - Wir sind SL! Wir sind SL! skandierend) an die Spieler (zumindest zeitweise) über.
Warum formuliere ich das aber nicht als rückhaltlose Jubelnachricht?
Weil nicht jeder Spieler auch Spielleiter sein WILL. Und längst nicht jeder auch das Zeug dazu hat, die Verantwortung für die GEMEINSAME Geschichte zu übernehmen. - (UN-)Schönes Beispiel: Engel. Hier können die Spieler beim Ziehen einer Karte nach Arkana-System frei losfabulieren. Es gibt eigentlich garkein Arkana-REGEL-System, sondern nur die Karten und ein paar Ideenskizzen, wann man wohl mal Karten im Spiel ziehen sollte. - Das führt (nicht nur potentiell, sondern ganz konkret aus meiner Erfahrung) zu dem wüstesten Übel-Powergaming-Ich-sprenge-die-Kompetenzbalance-der-Spielwelt-weil-ich-es Kann!-Har-Har-Har.
Damit meine ich: weil es KEINE Regeleinschränkung gibt, kann jeder Spieler seinen SC zu Superman-Fliegt-Wieder machen und hat (Scheiß auf mein Charakterkonzept, habe ich eh nach der Postulanten-Sitzung nicht mehr angeschaut!) immer Erfolg bei ALLEM. - Oh, ja. Das ist vielleicht langweilig. - Oh, nein. Das hindert längst nicht alle Engel-Spieler, diese tolle "player empowerment"-Mißbrauchs-Chose abzuziehen.
Vielleicht funktionieren solche Rollenspiele mit der Umkehr bzw. der Auflösung der Rollentrennung zwischen Spieler und Spielleiter nur in Runden, wo alle Mitspieler zum einen Spielleiter sind, zum anderen fähige, erfahrene Spielleiter, zum weiteren verantwortungsbewußte, rücksichtsvolle, an der gemeinsamen Spielerfahrung interessierte Spielleiter sind?
Ich finde die Formulierung "Dann kann ich doch gleich nach Hause gehen und die SL spielt alleine." immer noch völlig abwegig.
Wenn Du gleichbedeutend mit Dir in Deinem Ich als Spielleiter wärest (hier im "empowered" Zustand eines Spielers eines solchen Inversion-Rollenspiels), würdest Du Deinem SC in diesem Rollenspiel dann eine "Auszeit" von 1W6 Stunden durch einen Knock-Out-Zauber eines Oberschurken-Bösemagier-Gegners verpassen? Wäre das die Geschichte, die DIR für Deinen SC vorschwebt? - Was, wenn ein anderer Mitspieler aber über Deinen SC die aktuelle Szene so erzählt, daß SEIN SC dem durch den Raum zuckenden Knock-Out-Zauberstrahl ausweicht, wobei leider Dein SC diesen voll abbekommt?
Für solche Fälle bieten manche Regelsysteme wie z.B. Universalis einen Biete-Mechanismus an, bei dem um das Recht über einen bestimmten SC (die hier KEINEM Spieler exklusiv gehören!) gerungen wird. Gewürfelt wird da nur um die Erzählrechte bzw. die Rechte bestimmte Eigenschaften von Erzähl-Elementen zu verändern. - In meinem Empfinden ist dies kein Rollenspiel mehr, da ein für mich wichtiger Punkt - die Identifikation mit einem Charakter in Form eines Spieler(!)-Charakters - hier völlig fehlt. Man erzählt sich nur gegenseitig Geschichten über Charaktere, zu denen man selbst völlig indifferent steht. - Genausogut könnte man nach Hause gehen und ein gutes Buch lesen oder man schreibt gleich selbst eine Geschichte und gibt die anderen zum Lesen.
Wenn ein SC in einem der üblicheren Rollenspiele (den veralteten Dingern noch mit separatem Spielleiter und so) von einem Mind Control Device dazu bewegt wird, seine Kumpels in der Gruppe anzugreifen. Oder den Warpkern abzustoßen. Oder das Trinkwasser von Solingen zu vergiften. Wie SOLLTE Deiner Meinung nach ein Rollenspiel idealerweise aus DEINER SICHT mit solchen in der Spielwelt existenten Kontrollmöglichkeiten über Bewohner der Spielwelt umgehen?
Ich bin hier wirklich neugierig, weil auch in den Systemen, die ich spiele und die (fast) alle einen "Zweite Chance"-Mechanismus haben, es dazu kommen kann, daß auch die zweite Chance nicht gereicht hat, und man nun seinem eigenen SC mit Entsetzen zusehen muß, wie er gerade versucht alle seine Freunde in die Scheiße zu reiten.
Also, ich habe ein offenes (Browser-)Ohr für Deine Idealvorstellungen.