AW: Wie Regeln umsetzen für soziale Konflikte?
Man sollt sich aber darüber im Klaren sein, dass man sich mit klar definierten Regeln zu sozialen Konflikten bzw. Überzeugungsvorgängen auch immer den begrenzten Kontrollverlust der Spieler über ihre Charaktere mit einkauft!
Und den hat man auch, wenn das Kampfsystem einen bewußtlos werden läßt oder gar den eigenen Charakter als TOT aus dem Spiel nimmt(!). Kontrollverlust gibt es auch, wenn es entsprechende Drogen gibt, und erst recht bei Gedankenkontroll-Magie, Berserker-Wahn, Raserei, Sanity-Verlust, Furcht-Aura von Drachen, usw.
Eigentlich gibt es solche "Kontrollverlust"-Effekte in den meisten Rollenspielen, und sie kommen ständig zum Tragen. Nur scheinen sich manche Spieler beim Gedanken einem Einschüchtern eines NSCs oder - schlimmer noch - eines Mit-SCs nachgeben zu müssen (weil der andere (N)SC verdammt gut gewürfelt hat und man selber ziemlich mies), in die Hose zu pissen.
Wie "schröcklych" es doch sei nicht mehr den "freien Willen" des Spielers als den ständig unangetasteten "freien Willen" des Charakters heranziehen zu können.
Es ist völliger Unfug zu meinen, der Spieler müsse IMMER und STÄNDIG über seinen Charakter und dessen Tun die VOLLE Kontrolle haben. - Solange es Regeln gibt, die für jeden VOR dem Spiel klarmachen unter welchen Bedingungen in welcher Form ein Kontrollverlust eintreten kann, und solange der Spieler die für ALLE Charaktere geltenen Regeln akzeptiert, hat er auch mit den Konsequenzen, die durch das Regelsystem eintreten, zu leben.
Spiele nie ein Regelsystem, mit dessen Konsequenzen Du nicht leben/weiterspielen kannst.
Der FREIE WILLE des Spielers ist das freiwillige Akzeptieren der Konsequenzen aus einem Einsatz sozialer Fertigkeiten in einem Konflikt.
Erzählerische Regelsysteme mit Konfliktauflösung kennen das schon lange und da scheint das ohne das "in die Hose Pissen" zu funktionieren: Worum geht es in dem Konflikt? - Gut. Das ist jetzt klar. - Wie geht der Konflikt aus? Das machen wir jetzt anhand des Regelsystems aus. - Damit haben wir ein Ergebnis. - Weiter geht's.
Sind die Spieler/Spielleiter von Konfliktauflösungssystemen denn wirklich so viel "reifer" als die von Handlungsentscheidungssystemen? - Den Anschein erweckt das Gejammer wider die Anwendung von sozialen Fertigkeiten.
Mal ein Beispiel: Ein Rollenspiel hat Fertigkeiten wie Nahkampf, Fernkampf, Ausweichen, Parieren. Mehr nicht. Das ist alles, was das Kampfsystem betrifft. Dann hat es Fertigkeiten wie Überreden, Überzeugen, Anlügen, Bitten, Feilschen, Schauspiel, Einschüchtern, Verspotten, Provozieren, Kommandieren, Geschichten erzählen, Predigen, sowie die "Paraden" wie Durchschauen, Gegenargumentieren, Willensstärke, Fanatismus, Humorlosigkeit, Coolness, usw.
Es gibt eine ganze Reihe Rollenspiele, die allein schon aufgrund der Fülle an sozialen Fertigkeiten gegenüber nur wenigen Kampffertigkeiten zeigen, wo es nach der Vorstellung der Autoren langgehen soll, wenn man das Spiel spielt, d.h. wenn man das Regelsystem anwendet.
Würde man nun nur die Kampffertigkeiten und vielleicht noch andere "Handhabungen" wie Autofahren, Klettern, Bibliotheksbenutzung würfeln lassen, aber nicht die sozialen Fertigkeiten, dann käme DIE HÄLFTE DER CHARAKTEREIGENSCHAFTEN nie zum Einsatz!
Man könnte genauso gut den Charakterbogen halbieren, da die für teuere Charaktererschaffungspunkte angeschaffenen sozialen Fertigkeiten eines darauf ausgelegten Charakters NIE zur Anwendung kämen.
Was sind das für Rollenspieler, die sich in die Hose machen, wenn ein anderer SC oder ein NSC ihren "Sozialkrüppel"-Charakteren mit ausgemaxten Kampffertigkeiten den Gürtel aus der Hose schwätzt? - Sie als SPIELER dürfen nach Belieben gegenargumentieren, daß das nie und nimmer ginge und der Spielleiter läßt solche sozialen Fertigkeiten bei SC vs. SC Zwist gleich garnicht würfeln. - Resultat: Der Face-Man-SC, der tatsächlich den anderen SC laut REGELN und laut CHARAKTERWERTEN locker belabern könnte, darf das nicht. Seine einzige Option ist, den anderen SC tätlich anzugreifen, denn DAS lassen entsprechenden Spielleiter im SC vs. SC IMMER zu. Nur ist das sinnlos, da er ja kaum Kampffertigkeiten hat, während sein Gegenüber das sozial-unbeleckte Kampf-Killermonster ist.
Wenn Regeln für soziale Fertigkeiten existieren, wenn sie sogar im Regelwerk einen breiteren Raum eingeräumt bekommen haben, als die Kampffertigkeiten, dann sollte man diese für ein FAIRES Spiel ALLEN Spielern gegenüber auch ANWENDEN.
Alternative ist, daß die "Sympathisanten" des Spielleiters sich einer unguten "Immunität" ihrer Charaktere erfreuen dürfen und es in der gesamten Gruppe SINNLOS wird die vom Regelsystem breit angebotenen sozialen Fertigkeiten für den eigenen Charakter zu nehmen. - Resultat: eine gestörte Gruppe, ein gestörtes Gruppenklima, und man spielt ein anderes Spiel, als das, was man zu spielen vorgibt.
Wer seine Spielercharaktere nicht durch einen eloquenten NSC-Redner beeinflussen lassen möchte und deshalb nicht würfeln läßt, bzw. einfach die Spieler sagen läßt "Das läßt meinen Charakter völlig kalt. Er ist nicht so ein Charakter, der einfach so sich beeinflussen läßt. Nein. Meinem Charakter passiert nichts.", der darf sich nicht wundern, wenn - aus Fairness-Gründen - bei einem Kampf eines meisterlichen NSC-Schwertkämpfers ein Spieler ebenfalls sagt: "Das läßt meinen Charakter völlig kalt. Er ist nicht so eine Art Charakter, daß er einfach so in einen Schwerthieb hineinläuft. Nein. Meinem Charakter passiert nichts."
Wenn man nicht willens ist die Regeln anzuwenden, dann kann man eh gleich völlig REGELLOS spielen. Denn das wäre fairer als eine "selektive Regelanwendung" nach Gusto des Spielleiters und mancher Spieler.
Anders sieht das aus bei Spielen OHNE soziale Fertigkeiten. Im uralten Basic-Set D&D gab es solche sozialen Fertigkeiten nicht, sondern bestenfalls Charisma als Attribut. - Hier ist der Spielleiter und sind die Spieler gezwungen soziale Belange anderweitig, durch die Moderationsfähigkeit des Spielleiters zu entscheiden.
Interessanterweise hat das alte Traveller schon eine FÜLLE an sozialen Fertigkeiten, die sehr unterschiedlichen "Geschmacksrichtungen" des sozialen Miteinanders abbildeten. Hier war es üblich, daß man diese sozialen Fertigkeiten in den Szenarien STÄNDIG anwenden konnte und sie z.T. szenarioentscheidend waren.
Nicht alle "alten" Rollenspiele haben keine sozialen Fertigkeiten. - Die sozialen Fertigkeiten gibt es schon LANGE ZEIT in unterschiedlichsten Regelsystemen. Sie sind keine "Errungenschaft" neueren Datums.