AW: Was muss man als Spielleiter wissen? (Spoiler)
Skyrock schrieb:
Ich halte einen nicht die ganze Wahrheit erzählenden NSC nicht wirklich damit vergleichbar, die Spieler bezüglich des Settings und des Wesens ihrer Charaktere gründlichst zu verscheißern.
Habt ihr mal das nach dem Film "Identität" ausgerichtete Szenario gespielt?
In solchen Fällen (wie "Identität" im Kleinen, oder Engel im Großen) ist es tatsächlich nicht nur legitim die Spieler nicht von allen Informationen die Spielwelt und ihre Charaktere betreffend in Kenntnis zu setzen.
Ich scheiße auf "stimmungsvolles Geschichtenerzählen bei Kerzenschein und Kamillentee". Ich scheiße ebenso auf "Ich will aber nur Abenteuer spielen, die ich vorher komplett gelesen habe, da ich meinem Spielleiter, meinen Mitspielern und mir selbst nicht traue, und ich mit Unsicherheiten nicht umgehen kann".
Was die Filterung der an die Spieler von Engeln fließenden Informationen anbelangt, so muß man natürlich "vorher" und "nachher" unterscheiden. Wie hier schon angesprochen wird ein Spieler(!) nur einmal erfahren können, was hinter seinem Spielercharakterengel steckt. Die sonstigen Machenschaften der Kirche, die Unsterblichkeit des Papstes, usw. interessieren den Spieler auf ganz anderer Ebene (und könnten ihn auch leichter kaltlassen), als der Hintergrund seines Alter Egos in der Welt der Engel.
Diesen Hintergrund im Spiel zu erfahren, ist eine besondere Form des Spielerlebens, die man pro Spieler genau einmal haben kann. Es gibt also Engel-Spieler im Zustand "vorher" und im Zustand "nachher". Nachher ist das Spiel selbst desselben Charakters ein wenig anders. Das Spielen desselben Charakters, der im Spiel auf gewisse Wahrheiten gestoßen ist, wird aufgrund der von diesem Charakter erfahrenen Informationen, die dann ja Fakt in der Spielwelt sind, zwangsläufig beeinflußt sein. Und das Erschaffen neuer Charaktere unterliegt dann ohnehin dem neuen Wissen um die Spielweltfakten des Spielers (falls der Spieler "nachher" dann noch Lust dazu hat einen neuen Engel-Charakter zu erschaffen - ich habe nämlich auch erlebt, daß ein Spieler nach der "Erkenntnis" eben KEINE Lust mehr hatte, und zwar nicht etwa, weil er sich betrogen oder angelogen fühlte - das sogar überhaupt nicht, da die Filterung der einem Engel-Charakter zugänglichen Informationen auch hinsichtlich des Spielers als das einzige Mittel für den Aufbau einer solchen Enthüllungserfahrung stets akzeptiert wurde - sondern weil er eben keine ECHTEN Kinder spielen will, sich das nicht vorstellen kann und so nicht mehr den Zugang zu den üblichen Engel-Spielercharakteren finden konnte).
Wenn ich ein "vorher"-Spiel spielen will, das zum Inhalt die Erkenntnis, den - ja, genau - Schockeffekt haben soll, der dann eintritt (Horror ist IMMER persönlich), wenn nicht etwa der Charakter, sondern der SPIELER diese Erkenntnis gleichermaßen durchlebt, dann muss ich dem Spieler vorab Unklarheiten präsentieren, die erst im eigentlichen Spiel nach und nach aufgelöst, entdeckt, geklärt werden. - Diese Art des "vorher"-Spiels bei Engel ist sehr interessant, weil man eben auch als Spieler mit bisweilen stark gegensätzlichen Informationen in der Spielwelt und über die Spielwelt konfrontiert wird und versucht daraus die "Wahrheit" abzuleiten. Nur das "vorher"-Spiel kann die große Lüge, die die Spielwelt der Engel als roter Faden durchzieht, wirklich thematisieren.
Nochmal zum Vergleich mit "Identität". Wenn ich den Spieler vor dem Identität-Szenario sage, was für Charaktere sie hier verkörpern werden, dann brauche ich eigentlich nicht mehr zu spielen, weil sie in diesem "One-Trick-Pony"-Szenario das Schlüsselelement bereits kennen und somit keinerlei der beabsichtigten und der die Filmvorlage "Identität" so besonders machenden Szenen voller Zweifel, Unsicherheit und langsamen Heraufdämmerns, daß ALLES anders ist, als man denkt, mehr möglich sind.
"Identität" hat nur diesen einen "Trick" drauf. Engel hat noch viel mehr "Tricks" drauf, weshalb es auch sehr vielen Leuten Spaß macht Engel-Spielercharaktere in "nachher"-Runden zu spielen, wo dieser eine Trick, der in UA einen Stress-Check gegen "Identity" ausgelöst hätte, bereits jedem Spieler bekannt ist.
Wenn man jetzt aber herumjammert, daß ein Engel-Spielleiter seine Spieler anlügen würde, dann kann ich das nicht verstehen. Wo ist denn der Unterschied, ob ich in einem Cthulhu-Abenteuer (Sänger vom Dhol), einem UA-Abenteuer (Jailbreak), einem Deadlands-Abenteuer (The Dark Canyon) oder eben einer (meist der ersten) Engel-Chronik eine Konstellation erzeugen muss, damit diese Szenarien mit diesem besonderen "Trick" funktionieren - eben eine Konstellation, bei der ich den Spielern wirklich nicht alle Informationen über ihren Charakter bzw. die Art ihres Charakters geben kann, ohne daß ich den "Trick" verrate und damit das Szenario oder der Inhalt der "vorher"-Chronik hinfällig würde?
Ähnliches gilt - zwar nur für einen Teil der Spielercharaktere - in der Fantasy-Kampagne "Evernight", in deren Spielwelt aber tatsächlich keiner weiß, was dieser eine, besondere Haken an der Vorgeschichte der gesamten Welt und insbesondere an bestimmten Charakter-"Berufen" ist. Die Entdeckung dieser Vorgeschichte und die - durchaus auch eine Identitätskrise auslösen könnende - Enthüllung zu bestimmten Charakter-"Berufen" ist hier sogar eines der beiden Kampagnenziele (das primäre ist natürlich "Buttkicking for Goodness"). Wenn ich diese paar Seiten Text jedem Spieler vorher ausplappern würde, dann ist das eben nicht mehr "Evernight", sondern eine langweilige 08/15-Buttkicker-Kampagne, bei der man es den "Bösen" so richtig reinwürgt.
Die vollständige, umfassende Information der Spieler über alles, was ihre Charaktere anbetrifft, wird von manchen in diesem Thread wirklich überschätzt. - Mal ganz offen: wenn Ihr solche Sensibelchen seid, dann spielt halt keine Rollenspiele, bei denen es "Identitätskrisen" der Spieler als zentrale Aspekte geben könnte. Dann darf man aber wirklich kaum etwas spielen, was in irgendeiner Form "Horror" enthält, denn der Horror, der etwas mit der Verunsicherung darüber, wer man wirklich ist, was man denn nun wirklich für einen Charakter spielt, zu tun hat, dieser Horror geht halt nur durch das Im-Unklaren-Lassen der Spieler durch den Spielleiter.
Bei nicht gefestigten, nicht reifen Persönlichkeiten der Spieler könnte dies zu ernstzunehmenden Problemen führen, womit wir hier den Bogen zu solchen alten Fragen wie "Was darf ein Rollenspiel?", "Wie weit darf man in einem Rollenspiel gehen? Als Spieler? Als Spielleiter?" und anderen "Klassikern", die jedes Jahr auf dem Gabentisch der Entgleisungsthreadbäumchen liegen, geschlagen haben. KÄ paßt da auch noch mit drauf.
Zusammenfassend kam bei diesen endlos wiederkehrenden "Diskussionen" stets der Punkt "Gruppenvertrag" und "der Spieler soll sagen, was er nicht vertragen kann", sowie die Frage "ist denn sicher, daß ein Spieler das vorher schon weiß, daß er auf etwas extrem unverträglich reagieren wird?" und "kann denn ein Spielleiter wirklich die Verantwortung für die nach dem Spiel noch vorhandene geistige Gesundheit der ihm vertrauensvoll gegenübertretenden Spieler übernehmen?" auf.
Wollt Ihr diesen Thread wirklich mit solchen offensichtlichen Kofferbomben sprengen? - Dann bitte.
Ich erzähle meinen Engelspielern in "vorher"-Runden wortreich und möglichst überzeugend, wie die Welt so ist, daß alles in Ordnung ist, daß alles gut und rein und richtig ist. Und ich lasse sie selbst denken, selbst kombinieren, selbst Fragen stellen, so daß sie selbst drauf kommen, was nicht stimmt. Und nein, ich frage sie nicht vorher, ob ich ihnen vielleicht was erzählen soll, was die gesamte Kampagnenziele kippen würde.
Wer mich jetzt einen Lügner nennt, der muß damit rechnen, von mir bei einer etwaigen persönlichen Begegnung geschlagen zu werden. Ich bleibe da niemandem etwas schuldig.