MalfeanZ schrieb:
frage mich so langsam, was denn nun gothic ist? Ich bitte um eine Definition (vermutlich kann mans gar nicht definieren, weil es so unterschiedlich verstanden wird - in diesem Fall diskutiert in diesem thread jeder für sich, denn es fehlt die gemeinsame Basis)
Eine sehr gute Frage!
rof:
Ich glaube tatsächlich, dass dies mit ein Knackpunkt bei diesem Thema und nicht einmal, ob man jetzt richtig oder richtiger, falsch oder falscher spielt als andere.
Leider sprengt eine solche Definition sicher den Rahmen und obwohl man durchaus definieren kann, bleiben subjektive Vorlieben doch immer noch offen.
Ich versuchs trotzdem mal ... ich kann ja doch nicht anders *g*.
Das grundsätzliche Klischee eines Goth kann man wohl unter folgenden Kriterien zusammenfassen, die hier auch teilweise Verwirrung stiften:
Leute, die schwarze Klamotten anziehen, sich bleich schminken und am besten noch schwarzen Lippenstift und Nagellack nutzen, eben "Gothic" hören und im "Idealfall" daheim umgeben sind von Dunkelheit, Depression, Okkultismus, Grabkerzen und Co.
Die Satanistennummer und ähnliches schenke ich mir einfach mal an der Stelle.
Gothic entstand grundsätzlich mal als Subkultur in den 70er Jahren und war vom Ursprung her ein Stil, der sich vom Punk abgrenzen wollte. "New Wave" war hier der Anfang und ist sicher vielen auch ein Begriff. Das Ganze wurde dann zunehmend etwas eigenes und bekam immer neue Gruppierungen in der Musik (die ich ja bereits angesprochen habe).
Der Witz der Sache liegt nun eigentlich schlicht und ergreifend in der Beantwortung einer Frage:
Warum wollte man sich denn vom Punk abgrenzen?
Zentraler Bestandteile des Punk sind Protest, Frustration und Destruktivität, kurzum: Alles scheiße! *g*
Haben die ersten Goths im Grundsatz wohl auch so gesehen, aber sie wollten einen Ausdruck ohne den destruktiven Aspekt und zwar nicht aus rein gesellschaftsfreundlichen Gesichtspunkten, sondern vielmehr wohl erstmal aus egoistischen Beweggründen heraus. Wer auf nichts Bock hat, der hat auch keine Arbeit, kein Geld, keine gesellschaftliche Zukunft. Und damit konnten sich diese Goths nicht anfreunden, denn sie wollten durchaus am Leben teilhaben und auch zur Gesellschaft beitragen - trotzdem waren sie eben von vielem enttäuscht und sahen vieles als nicht ausreichend reflektiert etc. an.
Im Grunde ist nur die Suche nach einer neuen Ausdrucksform also "schuld" an allem.
Das impliziert natürlich bereits, dass Gothic sich nicht auf Kleidung oder Musik reduzieren lässt, sondern sich eben auf eine bestimmte Meinung, ein bestimmtes Bild von den Dingen gründet.
Goths sind Leute, die sich im Grunde einer Art Suche verschrieben haben. Klingt jetzt irgendwie um Längen pathetischer, als ich es eigentlich meine, aber eine bessere Formulierung fällt mir im Augenblick auch nicht ein.
Es geht um das Nachdenken, das Nachdenken allgemein, das Reflektieren im besonderen und die Enttabuisierung der Dinge im Speziellen.
Darum ist auch der Tod beispielsweise ein so häufig auftretender Punkt bei Goths. Das hat nichts damit zu tun, dass man zum Lachen in den Keller gehen muss und schon gar nichts mit Todessehnsüchten oder so etwas, sondern einfach damit, dass der Tod in der jetzigen Gesellschaft ein Tabuthema ist - ergo lohnt es, sich damit zu befassen.
Darum findet man auch des öfteren Überschneidungen mit der S/M-Szene. Dieser ganze Bereich ist nämlich auch und nach wie vor ein Tabu, auch wenn das Rollenspieler vermutlich im großen und ganzen (und auch als Subkultur oder eben Szene für sich betrachtet) nicht so sehen
Themen und Aspekte sind vielfach philosophischer Natur, Fragen nach dem Warum und das schlichte "Wer bin ich? Wer sind die anderen?"
Kreuze, heidnische Symbole etc. werden nicht so häufig getragen, weil man "das eben so macht als echter Goth", sondern wegen ihres Symbolismus.
Es geht also nicht nur um den Tod an sich, sondern auch um Mythologie und um Brauchtum, verschiedene Aspekte derselben Dinge, verschiedene Weltanschauungen und Religionen - eben darum kommt der Mix der Symbole zustande. Neben dem Lernen der eigentlichen Bedeutungen dieser Symbole für andere, in anderen Zeiten etc. werden eben auch Punkte übernommen oder eben abgelehnt. Es geht eben um ein "Was steckt dahinter? Ist das ein Teil von mir, steckt davon auch etwas in mir?"
Da Gotik eine Epoche unserer Geschichte ist, wird eigentlich auch schon ein Stück weit klar, dass sich Goths eben nicht nur mit Musik befassen, sondern auch mit anderen Dingen und viel mit Vergangenem.
Aus demselben Grund gelten Goths zumeist als friedlich und tolerant. Nicht, weil es alle wären oder weil man diese "furchtbar aussehenden Leute" damit becshwichtigen will *g*, sondern weil sie in der Regel eben Dinge hinterfragen und reflektieren, bevor sie sich eine Meinung dazu übers Knie brechen.
Auch wieder dieselbe zu Grunde liegende Intention erklärt die Klamotten, die ja nun meist - abgesehen jetzt von wirklich modernem Styling, das es ja gerade im elektronischen Bereich gibt - "rückständig" sind. Gothklamotten sind oft anderen Epochen entnommen, zum Beispiel der Gotik (nein! echt? :eeek: ) - sorry, konnte ich mir jetzt nicht verkneifen
Aber im Ernst: Man findet oft eher pseudomittelalterliche Kleidung, Barock, teils sogar wirklich archaische Outfits (die übrigens längst nicht unbedingt schwarz sein müssen).
Im Grunde ist dieses Schwarz=Trauer auch eine Assoziation, die von außen kommt, denn gerade jemand, der sich eben viel mit Tabuthemen und Sinnsuche befasst weiß, dass schwarz zwar hier eine Farbe ist, die mit dem Tod in Verbindung gebracht wird, anderswo auf der Welt aber weiß diese Bedeutung hat - die Assoziation hinkt also.
Rückzug und Schutz wären hier wohl viel bessere erklärende Vokabeln.
Die Musik hat oft auch sakrale Klänge und / oder klassische Elemente.
Dass die Musik meist depressiv ist, stimmt sowieso nicht, aber selbst die depressive Musik wird eigentlich nicht als solche empfunden, sondern einfach als ruhig und vielleicht melancholisch, einfach nachdenkliche Stimmungen unterstützend.
Goths schreiben oft auch viel. Gedichte erscheinen mir persönlich da am häufigsten, aber es gibt auch viele, die Geschichten schreiben, Gedanken notieren oder eben auch zeichnen oder malen.
Man denkt also nicht nur den lieben langen Tag so vor sich hin, sondern es besteht auch ein gewisses Mitteilungsbedürfnis.
O-Ton der meisten Ergebnisse ist aus allgemeiner Sicht Tod oder Todessehnsucht, tatsächlich aber findet sich eigentlich immer ein "Denk doch mal nach, Mensch!" oder auch ein "Ich hab die Schnauze voll!" (siehe Verbindung zum Punk) als Aussage darin - also doch nicht nur purer Weltschmerz ...
Ich glaube nicht, dass ich hier eine Art Weisheit aufstellen kann, wie ein Goth nun letztlich genau ist oder nicht. Wäre auch widersinnig bei dem Gespräch über eine Subkultur, die letztlich auf Individualisierung ausgelegt ist.
Natürlich sind auch nicht alle so wie beschrieben.
Natürlich treten bei einigen manche Aspekte stärker oder schwächer hervor.
Natürlich gibt es auch schwarze Schafe.
Natürlich gibt es tatsächlich kleinere Gruppen, die rechtsextrem sind.
Natürlich gibt es tatsächlich kleinere Gruppen, die sich tatsächlich Satanismus auf den Leib schreiben.
Das ist aber alles nunmal überall so und ich wollte an der Stelle nur versuchen, ein wenig zu erklären.
Wenn man ein wenig drüber nachdenkt, erkennt man, glaube ich, dass jeder genannte Aspekt in den anderen greift und auf weitere Querverweise usw. kommt man dann auch von allein, wenn man möchte.
Dann versteht man aber auch, dass es letztlich scheißegal ist, ob man jetzt schwarze Klamotten trägt oder "böse Deprimucke" hört oder nicht - dazu sagt man übrigens eher Pseudo, Wannabe oder Fake statt Goth.
Gothic lebt / denkt man oder eben nicht - dass es keine Religion, Sekte etc. ist, sollte ich anhand o.g. Ansätze eigentlich ja nicht mehr explizit erwähnen müssen, gell?
Naja, soviel zum Versuch, Gothic ein wenig näher zu erklären.
Und das erklärt dann wohl auch, warum manchen Leuten komisch wird, wenn sie solche Auffassungen wie im Eingangsbeitrag lesen.
Ich finds nicht mal ärgerlich, ich finde es nur unendlich schade, dass man sich die Mühe macht, Klischees zu erfüllen, sich aber nicht die Mühe macht, sich stattdessen mal die Dinge dahinter anzusehen - was wohl auch nicht mehr Arbeit kosten würde.
Außerdem sind wir bei der Definition damit lang noch nicht am Ende. Das Gothic aus GothicPunk, wie es bei der WoD (juhu, ein Schlenker back to topic!) auftritt, hat genau genommen nämlich nicht wirklich allzuviel mit der Subkultur Gothic, der ich mich jetzt die ganze Zeit gewidmet habe, zu tun. Ist das nicht prima - ihr habt das alles umsonst gelesen!
Tatsächlich bezieht sich dieses Gothic (und wohl auch der Punk) schlicht und ergreifend wohl auf den Stil, der durch die Literatur geprägt wurde.
Gothic Novels bezeichnet man nämlich so genannte "Schauerromane", die zwar prinzipiell zum Horrorgenre zu zählen sind, allerdings auf andere Weise mit dem Horror arbeiten. Vielfach kommen naturalistische Elemente zum Einsatz und tatsächlich gibt es praktisch kaum irgendwelche Splattergeschichten (die waren eine Strömung irgendwo zwischendurch), sondern vielmehr subtilen Horror, bei dem man die Vergänglichkeit, den Schmerz, die Einsamkeit, die Verzweiflung etc. ahnt, aber in der Regel nicht ins Gesicht gebrettert bekommt - es liegt bei einem selbst, den Horror dabei zu empfinden oder eben nicht.
Natürlich gab es die Gothic Novel bereits vor der Subkultur
und sie haben diese u.a. auch mitgeprägt (man guckt ja, was sich da sonst noch so Gothic nannte oder nennt, nöch?), was im übrigen auch viele geschriebene Werke bzw. die in ihnen aufkommende oder versuchte Stimmung erkennen lassen.
Und ich könnte es jetzt nicht beschwören, aber bei Gothic Novels wird nun nicht wirklich mit unbunten Farben, Ledermänteln und Grabkerzen gearbeitet und Musik gibts da auch nur ganz selten.
So, jetzt dürft ihr mich aber endlich für alles steinigen, was ich schrieb, obwohl ich es extra zu relativieren versucht habe - ich hab schließlich rote Haare.