AW: Vampire religiöser als Sterbliche?
So. Nun hoffentlich etwas umfangreicher.
Sind Vampire häufig besonders fromme Menschen, denen die Religion hilft, mit ihrer neuen Conditio fertig zu werden?
Vorweg finde ich die Frage an sich schon etwas skurril (und zu abstrakt), und ich hab sie pauschal mit „nein“ beantwortet, weil mir hier zwei Phrasen besonders ins Auge gestochen sind: „häufig“ und „besonders fromm“. Hier wäre es sicher nicht uninteressant Frömmigkeit etwas konkreter abzustecken. Partout finde ich nur eine Definition auf der Wikipedia.
Frömmigkeit bezeichnet das religiöse Verhalten eines Menschen, seine Gesinnung und sein Handeln in der Beziehung zu Gott. Der fromme Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass sein Denken und Tun den religiösen Vorschriften entsprechen.
Insbesondere der zweite Satz leuchtet hier mit einem roten Fähnchen hervor. Es stellt sich die (philosophische/theologische) Frage, inwiefern eine Kreatur, die scheinbar keine Seele mehr hat (o.B.d.A.), quasi unsterblich ist und sich vom Blut von „Gottes Geschöpfen“ ernähren muss, überhaupt nicht ständig im Konflikt mit „Denken und Tun [religiöser] Vorschriften“ steht.
Die Lancea bietet hier dogmatisch eine nicht unumstrittene Antwort, sie seien Teil von Gottes Plan. Man könnte aber auch behaupten, dass das an religiöser Verzweiflung angrenzt. Ob das nun Pustekuchen oder göttliche Wahrheit ist, ist an sich aber irrelevant – es ist ein Dogma und gemäß den unscharfen Definitionen von Frömmigkeit und Religion vermutlich hinreichend; und vor allem natürlich auch hilfreich, um die eigene untote Existenz zu rechtfertigen. Dennoch bleibt es nur ein Dogma – ob man nun alle Bundmitglieder in den „ja“-Topf werfen kann halte ich für zweifelhaft. Ich würde sogar behaupten, dass die, die vor ihrer Erzeugung christlich oder jüdisch religiös angesiedelt waren, vorrangig in diesen Bund hüpfen. Ob sie nun als „
besonders fromm“ zählen oder nicht kann ich jetzt nicht beantworten.
Der Circle of the Crone ist dagegen in einer anderen, der paganistischen, Ecke angesiedelt. Da muss ich aber passen – den Orden kenn ich nicht im Detail, noch hab ich wirklich Einblick in Paganismus. Historisch gesehen dürfte es sich aber bis zur aufsteigenden Dominanz des Christentums in Europa argumentativ nicht besonders anders verhalten als bei der Lancea. Die religiöse Bindung gab es davor, und es gibt sie auch danach. Anders als die Lancea hat der Circle aber scheinbar keine besondere Bindung, um die untote Existenz an sich dogmatisch zu rechtfertigen, abgesehen davon, dass sie ein Zwischenschritt zwischen Leben und Tod seien.
Die anderen drei Bünde (und die Bundlosen) haben oberflächlich betrachtet nichts mit Religion an sich am Hut – Invictus, Ordo Dracul, Carthian Movement. Vor allem letztere sind stereotypisch eher auf der modernen Schiene und dürften überwiegend eher agnostisch, atheistisch oder bei neuen Religionen angesiedelt sein – sofern sie sich überhaupt mit der Religionsfrage an sich beschäftigen.
Abgesehen von den Bundideologien, das Argument „mir ist etwas Unmögliches passiert, nun bin ich Vorzeige-Christ/-Buddhist/-Jude/-Scientologe/-Paganist/-…“ find ich ein wenig seltsam. Es ist etwas Unbekanntes/Unmögliches passiert, was man sonst nur aus Gruselgeschichten kennt – man muss sich vom Blut der anderen ernähren und die Sonne grillt einem zu Tode. Wie man mit dem Punkt umspringt ist sicher individuell beantwortbar (aber pauschal?), prinzipiell hab ich persönlich aber Schwierigkeiten mir vorzustellen, dass man nun Unterschlupf in der Religion sucht – insbesondere, wenn man vorher schon nicht religiös war. Wenn es einen Gott gibt, warum lässt er das zu? Ist man nun von der Erlösung ausgesperrt? Harrt man nun die Ewigkeiten bis zum jüngsten Gericht aus? Wenn ich mich richtig erinnere, dann hat auch die konservative Religion keine Antworten auf diesen neuen, unbekannten Zustand – mit Ausnahme der Lancea, wo man sich aber insgeheim immer noch fragen muss, ob sie sich den Kram nur ausgedacht haben oder nicht. Sünder wurden im Alten Testament noch vorwiegend anders bestraft – und im Neuen Testament war Vergebung schon fast irgendwie Gewohnheit (meine Meinung). Man kann jetzt sicher nach der Erzeugung frommer werden, aber irgendwann muss man sich auch die Frage stellen „und wo bleibt denn nun die Vergebung?“ Zudem, Vampire gibt es schon länger als Longinus. Da stellt sich schon eine gewisse kausale Frage, und es wird immer schwieriger hier handfest zu argumentieren, ob die Lancea-Doktrine überhaupt „korrekt“ ist.
Der griechische Polytheismus hatte da eher noch zumindest halbwegs (wenn auch weit ausgeholte) Parallelen, was das Konzept der ewigen Verdammnis betrifft (Sysiphus, Prometheus und Konsorten). Aber (iirc) auch nicht wirklich etwas, was wie die Faust aufs Auge passt.
Hat man sich denn nun mit einer religiösen Sichtweise abgefunden… früher oder später könnte man in seinem Requiem auch auf andere Dinge stoßen (Mages, Changelings, Werewolves, …), wo man sich fragt, ob da nicht etwas Anderes dahintersteckt.
So. Jetzt hab ich bei mir selber den roten Faden verloren, und ich muss eh schon wieder weiter. Hoffe die Ursprungsfrage hinreichend verkompliziert zu haben.