Rezension [Retrospektive] Cyberpunk 2013

Skyrock

t. Sgeyerog :DDDDD
Registriert
10. September 2003
Beiträge
13.445
Anlässlich des Jahres 2013 erlaube ich mir eine kleine Retrospektive auf die erste
Edition von Cyberpunk, die bekanntlich 2013 spielt. Obwohl das Spiel nur "Cyberpunk"
hieß, bezeichne ich es im folgenden als "Cyberpunk 2013", um es besser von CP2020
abzugrenzen.

Ich muss gleich dazu sagen, dass ich 2013 bisher nur in Papierform kenne, mir aber vorgenommen habe es bei den diesjährigen Cons als "The Dark Future That Never Was" anzubieten.

Aufmachung
CP2013 kam als Box mit drei dünnen klammergebundenen Heften heraus:
  • View From The Edge (Grundregeln - 42S.)
  • Friday Night Firefight (Kampfregeln - 17S. Auch unabhängig von CP2013 mit
    anderen Interlock-Spielen und als Stand-Alone-Table-Top nutzbar)
  • Welcome To Night City (Settingbeschreibung - 37S.)

Zusammen mit Anhängen kommt es also auf rund 100 Seiten (ich war zu faul zum
genauen Nachzählen).

Timeline
Die Zukunftsvision ist im wesentlichen die gleiche wie in CP2020 - es gibt Cyberware,
fliegende Autos, Cyberspace, Kampfzonen, Südamerikakrieg und Megakonzerne.

Wichtige Abweichung in der Timeline von 2020 ist, dass die Sowjetunion nicht
untergegangen ist. Allerdings wurde sie erheblich reformiert, betreibt kräftig Handel mit
der EG, die Teilrepubliken sind autonom bis halbautonom und leidet unter Konflikten
zwischen westlich orientierten Reformern und sowjetischen Hardlinern. Insgesamt sehr
nah dran nah an der GUS der 90er.

Interessant ist auch, dass die Gründung der EG, eine europäische Freihandelszone und
die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Währung vorhergesagt wurde, und das
ziemlich akkurat mit 1992. (In unserer realen Geschichte waren die EG-Gründung und
Vertrag von Maastricht 1992, Schengen II trat 1995 in Kraft, Euro als Buchgeld kam
1998.)
Ebenfalls interessant ist, dass Italien (!), Spanien (!!) und Griechenland (!!!) namentlich
als die drei Länder genannt sind, die nicht Teil dieser EG sind und als ökonomische
schwarze Löcher mit instabiler politischer Führung als reine EG-Anlieger ihr Dasein
fristen.

Regeln
Teilweise sind sie sehr nah an CP2020, teilweise weichen sie auch frappierend ab.

Da jeder Leser hier drin CP2020 kennen und hauütsächlich an den Unterschieden
interessiert sein sollte, gehe ich von 2020 aus und liste die Abweichungen.

Roles
  • Roles unterscheiden sich nur durch den Special Skill. Andere Fertigkeiten
    kommen aus dem Lifepath.
  • Special Skill ist nur +2. Wer mehr will, muss dafür 1:1 Attributspunkte von REF,
    COOL oder INT abziehen.
  • Netrunner: Interface hängt an REF, nicht an INT.
  • Solos: Combat Sense greift bei Initiative und Athletics, nicht bei Initiative und
    Awareness. Da Wurfwaffen über Athletics laufen, sind Solos in 2013 verdammt
    gefährlich wenn sie Granaten werfen.
  • Tech/Medtech: Statt Jury Rig/Medtech haben sie Scrounge, die Fähigkeit Teile
    aufzutreiben und zu improvisieren.

Charaktererschaffung
  • Für die Attribute gibt es nur die Poolmethode (wahlweise 9d10 oder 30+6d10).
    Auswürfeln von Einzelattributen (die Standardmethode in 2020) fehlt komplett.
  • Einige Zufallstabellen fehlen (Ethnische Abstammung, Familienhintergrund,
    Einstellung gegenüber anderen Leuten)
  • Man muss eine von drei Kindheiten wählen: Normal, Streetkid oder Nomad Brat.
    Davon hängen Kindheitsskills und Chancen, in bestimmte Karrieren
    reinzulommen ab.
  • Fertigkeiten werden über Karrieren in Traveller-artigen 4-Jahres-Dienstzeiten
    bestimmt - Straße, Militär oder Uni. Man muss erst mal in die Karriere
    reinkommen und dann drinbleiben, wobei die Chancen v.a. von der Kindheit
    abhängen. Man kann dabei maximal 3 Dienstzeiten durchlaufen, ist also 16, 20,
    24 oder 28 Jahre alt.
  • Jede Dienstzeit erlaubt es einem, 6 Fertigkeiten aus der Skilliste der Karriere
    auszuwählen und um +2 zu steigern. Fertigkeiten sind also viel weiter gestreut
    und im Schnitt niedriger als in 2020.
  • Startgeld ist viel niedriger - pauschal 2.000 EB, plusminus Life Events. Selling
    Out gibt nur +2.000 EB. Manche Roles erhalten auch noch Lohn, je nach Role
    und Würfelglück zwischen 200 und 4.000 EB pro Monat.

Netrunning
  • Es gibt kein Quadratrastergrid, sondern stattdessen ein Knotensystem à
    Shadowrun.
  • Konflikte zwischen Programmen werden nicht mit Programmstärke+1w10
    gewürfelt, sondern mit REF+Interface+Programmstärke+1W10. Hosts würfeln mit
    15+Programmstärke+1W10. (Das Hinzuzählen von Interface ist übrigens der
    ganze Vorteil von Netrunnern. Ansonsten kann jede andere Role genauso gut
    versuchen, zu hacken.)
  • Jedes Deck kann maximal 5 Programme tragen. Damit sind Daemons noch
    wichtiger als in 2020, und mehrere zusammenarbeitende Netrunner deutlich
    flexibler und schlagkräftiger.
  • Es gibt kein Menü. Wer Wifi-Geräte übernehmen will, muss sich erst mal in das
    System dahinter hacken.
  • Es gibt keine Memory Units. CP2013 geht davon aus, dass ein Cyberdeck
    ungefähr ein Megabyte Festplatte hat (und ist damit schon mit Erscheinen der
    3,5'-Floppy mit ihren unverschämt luxuriösen 1,44MB Speicherplatz veraltet
    gewesen :p ) Sicherheitskopien erfordern im übrigen den Besuch spezialisierter
    Copyshops, die für die Sicherung des satten Megabytes samt externem Speicher
    1.000 EB verlangen...
  • Das Erscheinungsbild des Netzes hängt nicht vom Programmierer ab, sondern
    vom Interface-Programm des Netrunners. Ein Brainwipe-Programm ist erst mal
    nur ein Brainwipe-Programm, im Dungeon-Interface erscheint es als level-
    drainender Lich, im Noir-Interface als irrer Doktor der mit einem langen Nagel
    eine Lobotomie versucht.

Sonstiges
  • Gewürfelte 1en sind keine Patzer, gewürfelte 10er explodieren nicht.
  • Die Fertigkeitenliste ist nur etwa halb so lang (43 Fertigkeiten)
  • Es gibt nur einen Martial-Arts-Skill, keine Trennung in Stile
  • Sprachen werden nur in Simple und Complex Languages unterschieden. Die
    Sprachfamilien und einzelnen IP-Faktoren fehlen.
  • Es gibt keine IP-Multiplikatoren für schwierige Fertigkeiten - stattdessen gibt es
    einen festen Aufschlag auf jeden Verbesserungsschritt. (Wenn eine Fertigkeit
    also mit (+10) angegeben ist, kostet der Sprung auf +2 30 statt 20 IP, der auf +3
    40 statt 30IP etc.)
  • Es gibt keine Facedown-Regeln
  • Es gibt keine Zufallstabelle für Expendable Goons. (Die kam erst später in Hardwired.)
  • Es gibt keine Zufallsbegegnungstabelle.

Kampf
  • Ini ist fest und nicht ausgewürfelt, nur abhängig von REF.
  • Kampfrunden gliedern sich in 3 Phasen, wobei man je nach REF in 1, 2 oder 3
    Phasen handeln kann.
  • Es gibt nur eine Handlung pro Phase, keine Mehrfachaktionen.
  • Auch Fernkampfangriffe gehen gegen Widerstand (REF+Dodge+1W10)
  • Wer sich nicht bewegt, greift normal an, kann aber auch nicht aktiv ausweichen
    (fixer Mindestwurf 10 + Reichweitenmods für den Angreifer)
  • Wer sich bewegt, kann aktiv ausweichen, muss aber dafür seine Angriffssumme
    halbieren (hat also nicht REF+Skill+1W10, sondern (REF+Skill+1W10)/2!)
  • Gezielte Angriffe auf Gliedmaßen halbieren ebenfalls die Angriffssumme,
    kumulativ zur Halbierung für Bewegung.
  • Es gibt eine COOL-abhängige Combat Experience Measure (CEM), eine Art
    Coolness unter Feuer. Die CEM muss sich jeder bei jedem Wurf abziehen und
    baut sie nur langsam durch das Überleben von Feuergefechten ab. Damit haben
    uncoole Charaktere extrem niedrige Überlebenschancen, und COOL-steigernde
    Kampfdrogen sind ein sehr mächtiger Vorteil.
  • Die Differenz zwischen Angriffs- und Verteidigungswurf wird auf den Schaden
    addiert. Damit ist vor allem Autofeuer auf Kurzdistanz viel tödlicher als in
    CP2020, da es a.) einen Bonus auf den Angriffswurf gibt, b.) die Anzahl treffender
    Kugeln gleich der Differenz ist und c.) jede einzelne Kugel auch noch einen
    Schadensbonus gleich der Differenz bekommt.
  • Schrotladungen sind gefährlicher als in CP2020, da sie vollen Schaden gegen
    zwei Körperzonen gleichzeitig anrichten und dazu noch auf Kurzdistanzen einen
    Bonus auf den Angriffswurf bekommen. Sturmschrotflinten wie die CAWS sind in
    Verbindung mit o.g. Autofeuerregeln wirklich häßlich im Häuserkampf..
  • Suppressive Fire ist in 2013 viel effektiver als in 2020, da es als regulärer Angriff
    gegen jeden in der Feuerzone behandelt wird und je nach RoF und
    Feuerzonenbreite noch einen Bonus bis zu +5 erhält. Der einzige Nachteil
    gegenüber Autofeuer ist, dass immer nur eine Kugel trifft.
  • Geschichtete Panzerung wird voll angerechnet, ist aber auf maximal SP30 pro
    Körperzone limitiert.
  • Den Hinterhaltsbonus aus CP2020 gibt es nicht. Da die Hinterhältler aber eine
    Phase lang frei angreifen können (REF+Skill+1d10 ohne Halbierung, plus
    eventuelle Boni für Zielen), während die Überraschten stillstehen (Mindestwurf 10
    + Reichweitenmods), sind die Effekte ähnlich vernichtend.
  • Reliability ist viel wichtiger als in 2020, da sie nicht nur bei Verschmutzung,
    sondern auch bei jedem einzelnen vollautomatischen Feuerstoß überprüft wird.
  • FNFF hat keine 2020-Waffen wie die Minami 10 - alle Waffen und Rüstungen
    sind aus der Jetztzeit oder älter. Das heißt auch, dass als Beinpanzerung nur
    Lederhosen (SP4) zur Verfügung stehen, außer man benutzt Cyberbeine.

Wunden
  • Es gibt keinen Wound Track. Stattdessen wird auf einer Tabelle der effektive
    Schaden über Kreuz mit dem BOD-Wert verglichen und die daraus resultierende
    Wunde direkt dem Körperteil zugeordnet.
  • Es gibt fünf Arten von Wunden: Flesh Wound, Serious Wound, Critical Wound,
    Mortal Wound und Instantly Deadly Wound.
  • Flesh Wounds haben keine Auswirkungen.
  • Serious Wounds resultieren schon in gebrochenen Armen, Beinen und Rippen,
    verlorenen Augen und Schädelfrakturen, jeweils mit häßlichen Abzügen.
  • Critical Wounds repräsentieren abgetrennte Gliedmaßen (inklusive Köpfen!), im
    Falle des Glückes eines Torsotreffers "nur" Lungenpunkturen und
    Eingeweidetreffer
  • Mortal Wounds verlangen zusätzlich jede Runde einen Death Save, je nach BOD
    mit Abzug von -2 bis -6.
  • Instantly Deadly Wounds sind genau das, ohne jeden Rettungswurf.
  • Auch in 2013 gibt es Stun Saves, wobei die Abzüge aus einer Tabelle nach
    Wundenstufe und BOD-Wert abgelesen werden.

Implikationen
Startcharaktere bei CP2013 sind in ihrem Spezialgebiet schwächer und haben deutlich
weniger Ressourcen. Dafür haben sie sehr viel breiter gestreute Fertigkeiten und einen
besser definierten Hintergrund durch die Karrieren.

REF ist noch wichtiger als in 2020. Es hängt davon nicht nur Angriffschance und
Initiative, sondern auch Zahl der Angriffe, Verteidigung auch gegen Feuerwaffen und
Schaden ab. In Verbindung mit dem Poolsystem zum Attributskauf wird sich jeder, der
noch alle Tassen im Schrank hat, erst mal REF auf 10 setzen und dann weiterschauen.
COOL ist fast genauso wichtig, da es direkt in CEM und damit in jeden Wurf im Kampf
einfließt.
Wenn ich 2013 spielen würde, wäre die Übermächtigkeit von REF das erste, was ich mit
Hausregeln anpacken würde.

Beim Netrunning in 2013 spielen die Fähigkeiten des Netrunners in Verhältnis zu seiner
Ausrüstung eine größere Rolle als in 2020. Durch Programmslots statt MUs ist das
Zusammenstellen der Deckladung auch einfacher als in 2020 (hat aber natürlich auch
weniger Stellschrauben fürs Optimieren). Knotenbasierte statt gridbasierte
Datenfestungen sind Geschmackssache.

Wo das Spielgefühl wirklich ein anderes ist, ist beim Kampf.
Bewegung spielt eine viel größere Rolle als in 2020. Die entscheidende taktische Frage
in jeder Phase ist, ob man sich defensiv verhält und sich bewegt, oder offensiv und
stehen bleibt.
Wem seine eigene Haut etwas wert ist, der bleibt keine Sekunde stehen, sondern
hechtet sich von Deckung zu Deckung. Man halbiert damit zwar seine Angriffschance,
aber dafür kann man auch versuchen aktiv auszuweichen. Wer stehenbleibt, um einen
sauberen Schuss abzugeben, ist eine sitzende Ente falls dieser Schuss nicht trifft (und
ist angesichts des brutaleren Verwundungssystems in ernsten Schwierigkeiten wenn der
Gegenangriff trifft, was er sehr wahrscheinlich tut).
Teamwork ist noch wichtiger als in 2020. Wenn man es schafft, einem Teamgefährten
so zu positionieren und zu schützen dass er seine Stellung halten und ordentlich zielen
kann, ohne dass er sich eine Kugel einfängt, hat man einen riesigen Vorteil. Noch
besser, wenn man das ganze schon davor so einrichten kann, ehe der Kampf zum
Kampf geworden ist (L-Hinterhalt etc.)
Nahkampf hat in 2013 einen höheren Stellenwert als in 2020, da die Trefferchancen im
Fernkampf gegen ein bewegliches Ziel lausig sind. Auf einen Pistolenkämpfer im
Nahkampf im Zickzack zurennen, um ihm ein Messer in die Eingeweide oder einen
Gewehrkolben ins Gesicht zu rammen, ist in 2013 nicht nur eine überlebbare Taktik -
manchmal ist es auch sehr sinnvoll.

Wovon ich nicht ganz überzeugt bin, ist der Whiff-Faktor. Halbierte Angriffe gegen volle
Verteidigung haben sehr geringe Trefferchancen, und bei hohen Werten in Dodge und
REF kann man in die Situation kommen, dass jemand mathematisch betrachtet gar nicht
mehr getroffen werden kann. Vielleicht ist das aber auch nur ein theoretisches Problem,
und wird von positiven Modifikatoren (Accuracy, Aiming, Smartguns, Autofeuer und
Schrot auf Kurzdistanz), Granaten (nicht dodgebar) und Nahkampf aufgefangen.

Fazit
CP2013 hat einige starke Seiten gegenüber CP2020, aber auch einige Stellen wo sich
sein Alter und seine Unausgereiftheit zeigen.
Mit ein paar Hausregeln und ein paar Ergänzungen aus der zweiten Edition ist es eine
interessante Alternative zu 2020, die sich durch breiter angelegte und ärmere
Charaktere sowie durch ein brutaleres Kampfsystem auszeichnet.
 
Solos: Combat Sense greift bei Initiative und Athletics, nicht bei Initiative und Awareness. Da Wurfwaffen über Athletics laufen, sind Solos in 2013 verdammt gefährlich wenn sie Granaten werfen.
Wie ich beim genaueren Nachlesen gesehen habe, gibt es gar keinen Dodge-Skill, sondern läuft das Ausweichen auch über... Athletics. Worauf Solos in CP2013 ihren Combat Sense addieren.

Ein ausgemaxter, hochgespielter 2013-Solo kann damit nach RAW wie der uneheliche Sohn von Neo und Spiderman durch jeden Kugelhagel spazieren und kriegt nicht mal Kratzer in seinen Ledermantel. Selbst der weltbeste Sniper, der eine versmartete Autoschrotflinte auf Point Blank auf den Solo richtet, hat da nur mit Luck-Einsatz eine Chance.
 
Ich habe es nie ausprobiert, allerdings klingt es immer wieder reizend. Gerade FNFF und die anderen Hacking-Regeln (mit echter Programmierung!) fand ich zumindest beim Drübersehen recht nett. Gut, es hat Macken, aber das hat CP2020 ja auch.

Auf jeden Fall danke für die Rezi, Skyrock!
 
Ich habe es über die Feiertage nochmal ausgegraben - und frage mich, ob man die Kinken mit den halbierten Würfen bei Bewegung nicht ausbügeln könnte, indem man stattdessen die Disadvantage-Regelung aus D&D 5th einsetzt: Man würfelt zwei W10 und wertet den schlechteren. Hat theoretisch die gleiche Wertespanne, aber de facto tendieren die Ergebnisse unter den Durchschnitt. Also genau der Effekt, den Schießen während Bewegung hat :)
 
Bis dahin sollte Cyberpunk 2077 draußen sein das parallel zum Videospiel erscheinen soll, das hat dann wieder viel Luft.

Und dann ist da noch Barbiepunk Cyberpunk 203x... o_O
 
Zurück
Oben Unten