1of3 schrieb:
"Gedanken zum epischen Rollenspiel"
Das trifft den Kern dessen, was die Kompetenz der Spielercharaktere anbetrifft, nur dann wirklich, wenn auch damit verbunden die Charakterentwicklung epische Ausmaße annimmt. So wie z.B. bei HeroQuest (hieß früher mal HeroWars). Nur wenn das der Fall ist, kann man m.E. die obige Fragestellung auf episches Rollenspiel eingrenzen.
Aber es gibt ja noch viele andere Richtungen im Rollenspiel, wo man auch keine inkompetenten Charaktere, keine unerfahrenen Lehrlinge, keine Versager spielen möchte.
1of3 schrieb:
Denn dies sind keine Gedanken zu Horror-Rollenspielen, dies sind keine Gedanken zu komödiantischen Rollenspielen, und würde mir ein tragisches Rollenspiel einfallen, wären es auch keine Gedanken dazu.
Kompetente Charaktere gibt es hier auch überall:
Horror:
Deadlands ist (unter anderem) auch ein Horror-Rollenspiel, doch sind die Charaktere darin gleich von Anfang an relativ kompetent. Da aber das System Mechanismen kennt, um die Auswirkungen von Schrecken, Übernatürlichem, Gefahren, etc. auf die Psyche regeltechnisch zu handhaben, ist die Kompetenz da, doch auch gleichzeitig das notwendige Gefühl der Bedrohung. D.h. die Charaktere scheitern nicht so leicht wie typische 1. Level-Charaktere, wenn sie auf ein scheunentorgroßes Monstrum schießen (oder auf ein menschengroßes
), doch ist die psychische Erschütterung des Charakters immer noch spürbar (auch wenn die Deadlands-Charaktere bei weitem nicht so zerbrechlich sind wie Cthulhu-Charaktere). Auch eine Abhärtung, bei reichlich Umgang mit dem Übernatürlichen ist geregelt, da sonst die Texas Ranger bzw. Pinkerton Agenten sich nicht im Stile von Akte X oder Delta Green darum kümmern könnten.
Komödie:
Z.B. InSpectres ist ein definitiv kömödiantisch angelegtes Rollenspiel, bei dem die Charaktere aber auch keine Nieten sind, sondern - abhängig von der Fabulierkunst des Spielers - durchaus MEGA-Kompetent agieren können.
Tragödie:
Das Paradebeispiel dafür ist Engel, da den Charakteren ein tragisches Schicksal garantiert nicht erspart bleibt. Die Frage ist eigentlich nur, was sie mit ihrem Verweilen auf der Erde anfangen, ob sie etwas bewegen wollen, oder auch können. Und auch hier kommt die Kompetenz ins Spiel: die Engel der Signums-Weihe sind nach Arkana-System schon sehr kompetent, sie können mit gutem Erfolg ihre Mächte auch unter Streß einsetzen, sind gute Kämpfer etc. Die Engel nach dem alternativ angebotenen d20-System sind 1. Level-Nieten, die NICHTS auf dem Kasten haben und so wenig Hitpoints, daß sie ein über siebzigjähriger, greiser Kardinal und Schreibtischtäter niedermacht (konkret: besagter Kardinal hat Level 13 oder so, an die 80 Hitpoints und etwa den achtfachen Angriffsbonus gegenüber einem frischgeweihten Gabrieliten vom 1. Level, der vielleicht 10 Hitpoints hat und nur einen Angriff pro Runde. Der betagte Kardinal steckt somit 6-8 VOLLTREFFER mit dem Flammenschwert ein, bevor er sich von seinem Schreibpult erhebt und dem Gabrieliten mit seinem Federkiel das Hirn rausprügelt. - Das liegt am Stufensystem, welches in einem ansonsten sehr stimmigen Hintergrund komplett unsinnige Kompetenzverhältnisse einführt. Natürlich ist der Kardinal der bessere Politiker und Verwaltungsbeamte, aber bei d20 ist er durch die Kopplung des Angriffsbonus mit dem Level gleich auch der bessere Kämpfer. Und das, wobei Gabrieliten NICHTS ANDERES als kämpfen lernen. - So etwas ist einfach nicht stimmig, weshalb mir auch keine Engel-Runde bekannt ist, die Engel nach d20 spielt, und ich kenne recht viele enthusiastische Engel-Spieler, die auch begeisterte D&D 3rd Ed. Spieler sind - aber hier paßt das eben nicht zusammen).
Mit den obigen Beispielen will ich sagen, daß das Problem, daß viele Rollenspielsysteme einen (zumindest anfangs) inkompetente Charaktere spielen lassen, durchaus quer durch die meisten Genres zu finden ist, und eben auch das Gegenteil. Für die Marktführer mit stufenabhängigem System, die somit zwangsläufig nur Entwicklungsgeschichten zu höherer Kompetenz spielen lassen, gibt es auch die Systeme, bei denen man einen kompetenten Charakter spielen kann, und GLEICH in die interessanten Geschichten einsteigen kann. Damit meine ich, statt über ein, zwei Jahre Spielzeit 1 Hit Die Monster zu plätten und soviel Erfahrung anzusammeln, daß man nicht mehr von einem Buchhalter doppelten Levels gleich mit einem Brieföffner in der ersten Kampfrunde gevierteilt wird, kann man den "Helden", also einen über die Masse der "Normalbevölkerung" der jeweiligen Spielwelt herausragend kompetenten Charakter spielen, der nicht beim Hoseanziehen gleich würfeln muß, ob er sich mit einem kritischen Fehler beim Reißverschlußhochziehen selbst entmannt.
Solche Inkompetenz existiert in manche Systemen aber tatsächlich. Vielleicht nicht bei echten Trivialitäten wie dem Hoseanziehen, aber zumindest bei solchen Aktionen wie Autofahren, Reiten, Springen, Klettern etc. Da kann natürlich immer noch der gesunde Menschenverstand des Spielleiters mildernd eingreifen und entscheiden, daß ein Wurf in diesem Falle eben mal NICHT notwendig ist. Aber ich habe auch schon erlebt (bei Cthulhu), daß man die Schrecken der Großen Alten nicht bekämpfen konnte, da man auf einer popligen Nebenstraße auf Autofahren würfeln durfte und der Spieler des Fahrers einen kritischen Fehler produziert hatte, worauf der Wagen einen Unfall hatte, bei dem drei von vier Insassen so verletzt wurden, daß man das Abenteuer abblasen durfte. DAS ist Inkompetenz, die einfach unstimmig ist, für das, was man eigentlich erzählen will. Wenn der Wurf unter Streß erfolgt wäre, z.B. weil eine Horde Dunkeler Junge hinter den Charakteren her war und der Fahrer, der eh schon einiges an Sanity abgegeben hatte, baut in der Hektik einen Unfall, die Wesen kömmen näher und erledigen den Rest. DAS wäre stimmig gewesen. - Aber eben unabhängig vom Spannungsbogen der Geschichte, die erspielt werden soll, bei - nach Wahrnehmung aller Spieler - trivialen Handlungen immer noch die Unsicherheit des Würfelnmüssens auf niedrige (= inkompetente) Werte zu haben, das ist ärgerlich.
Wenn man sich das erst jüngst hier vorgestellte Enemy Gods anschaut, so hat man dort das genaue Gegenteil vor sich: man spielt einen HELDEN und gleichzeitig auch noch einen der Hauptgötter des Pantheons, welches der Held verehrt. Da hat man die Oberliga, was Kompetenz anbetrifft, zur Verfügung. Nur, was für Geschichten spielt man dort? - Garantiert nicht: "Ein Fremder kommt in die Kneipe und beauftragt Euch einen Zierteller, den ihm drei lahme Halb-Kobolde geklaut haben, wiederzubeschaffen. Sie haben sich in der Abraumhalde hinter dem Dorf eingenistet und sind mit spitzen Stöcken bewaffnet. Ihr bekommt jeder 12 Silberstücke und einen freundlichen Händedruck, wenn ihr diese Heldentat vollbringt." *kotz* Von solchen Laufburschenaufträgen habe ich schon lange genug.
Nicht etwa, daß es garkeinen Spaß machen KANN einen unerfahrenen, jungen Charakter zu spielen, doch sollte der Gesamtkontext der Spielwelt sich auf einem anderen, normaleren Niveau bewegen, als der typisch-pathetische 1.Level Low-Performer-Anspruch. Z.B. bei Deadlands ist ein unerfahrener Charakter im Westen zu sein ein Nachteil (Hindrance: Tinhorn) ebenso wie einen Minderjährigen zu spielen (Hindrance: Kid). Das heißt, diese Charaktere sind herausragend UNTERDURCHSCHNITTLICH gegenüber einer normalen Abenteurergruppe und daher ist dies ein Nachteil. Ein Nachteil, der zudem durch ausreichend langes Überleben (bei Kid) bzw. durch Anpassen an die Gepflogenheiten des Rauhen Westens (bei Tinhorn) abgebaut werden kann.
Blöd ist es nur, wenn man förmlich gezwungen wird, ständig die gesamte langweilige Vorgeschichte eines Charakters explizit auszuspielen, statt nur die "guten Stellen". Bei Enemy Gods gibt es nur die guten Stellen. Und selbst die - vom Spieler bei der Charaktererschaffung selbst festzulegende Vorgeschichte konzentriert sich auf die coolen Aktionen in der Wiege (z.B. erwürgte Herkules zwei Schlangen), die interessante Begebenheiten, die den Helden auf Wanderschaft brachten (so daß er sein sicheres Heim verließ um im eigentlichen Wortsinne "erfahren" zu werden), und die Leiden, die er durchlitt und die ihn erst von einem kompetenten Charakter zu einem HELDEN haben werden lassen. DAS ist eine Vorgeschichte, die eines Helden würdig ist. Und solche überlebensgroßen Helden erledigen dann auch keine Laufburschenarbeiten (außer man geht so weit und nennt die 12 Aufgaben der Herkules so). Solche Helden holen das Goldene Vließ, besiegen Fafnir, den Drachen, begleiten Buddha auf dem Weg nach Westen, holen den Sonnengott aus der Unterwelt zurück, öffnen die Ewigen Jagdgründe für die bösen Manitous, vollführen oftmals symbolische Handlungen, die die Geschicke ganzer Nationen berühren. Das erfordert nicht nur Kompetenz der Charaktere, sondern auch der Spieler.
Wir hatten hier im Forum mal die Diskussion, ob man Schlachten ausspielt, oder nicht. Dabei kam zur Sprache, daß die typischen Abenteurergruppen nur aus Einzelkämpfern oder S.W.A.T.-Teams bestehen, aber den Charakteren in der Regel das Format und die regeltechnisch verfügbare Kompetenz zum Führen von Truppen in die Schlacht, zum Halten von Helms Deep gegen die Orks, zum siegreichen Führen des Rift Wars auf Midkemia, zur Eroberung von Theben, etc. fehlt. Das liegt daran, daß der Fokus dieser Spielsysteme schon grundsätzlich auf klein-klein-Charaktere mit kleinlichen Aufgaben und verzettelten Kompetenzen liegt. Der qualitative Schritt zur Übernahme von Verantwortung über mehr als sein eigenes Schwert, sein Reittier und vielleicht noch die Handvoll "Gefährten", mit denen man herumzieht, dieser wird in den meisten Spielsystemen nicht gemacht (rühmliche Ausnahme sind z.B. Traveller Classic, Savage Worlds, HeroQuest).
Schlimme These:
wenn man als Spieler lange nur den engen Horizont typischer low-powered Rollenspielsysteme kennengelernt hat, dann ist man bei Anforderungen von epischen Ausmaßen überfordert. Wenn Helden wie Odysseus und Achilles gegen Troja marschieren, so müssen sie sowohl ihre Truppen befehligen können, als auch die Logistik für solch eine Armee beherrschen und dann - erst dann! - kommen sie vielleicht auch mal selbst in die Verlegenheit sich schlagen zu müssen. (Ja, bei der unsäglichen Troja-Verfilmung war das natürlich anders - aber wer diesen Unfug klaglos akzeptiert, der wird sowieso nicht begreifen, was episches Spiel wirklich ist: bei der neueren Troja-Verfilmung mit den vielen Copy&Paste-Computer-Armeen haben nämlich die Konflikte der Götter miteinander KEINE Rolle gespielt. DAS ist schon der erste von vielen großen Fehlern dieses Filmärgernisses.)
Episches Spiel erfordert Denken im Großen. Alles Unwesentliche ist genau das: unwesentlich. Es interessiert keinen, ob Siegfried Feuerstein und Zunder dabei hatte, oder wie viele Pfeile der chinesische Held Houyi im Köcher hatte, als er neun von den damals zehn Sonnen vom Himmel schoß.
Ich finde, die Fantasie kann dann erst so richtig frei fließen, je weniger Grenzen man sich - und seinen Charakteren - setzen muß, die nicht aus dem Kontext des Genres, Settings, der Kultur des Charakters selbst kommen. Ohne die Grenze der Stimmigkeit für ein Genre geht es m.E. nicht. Hier ist aber die Balance sehr zur Freiheit verschoben und weg von dem so typischen "du kannst das nicht. Nein, das geht auch nicht. Nein, erst ab Level 20.".
Hatte ich schon erwähnt, daß ich sehr gerne große Geschichten spiele. Sowohl bei Deadlands, als auch bei Engel und erst Recht bei HeroQuest. Für mich muß ein Charakter (egal ob mein eigener oder die Spielercharaktere der Kampagnen, die ich leite) stets etwas bewegen können (und auch wollen!). Ein Charakter muß sich stets bewußt sein, daß das Universum die Konsequenzen aller seiner Handlungen mitzutragen hat. Nur dann ist er ein HELD im Gegensatz zu einem "Helden".