Rezension Die Geisterseherin (Magic Edition #1)

Nepharite

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Die Geisterseherin - Magic Edition 1


[User-Rezi] von Nepharite


Elizabeth Butler besitzt eine besondere Fähigkeit: sie kann die Schemen längst vergangener Zeiten sehen: prunkvolle Gebäude, die heute nur noch Ruinen sind, Verstorbene bei ihrem Jahrtausende zurückliegenden Tagwerk. Diese Fähigkeit brachte sie einst in eine Nervenheilanstalt und letztendlich auch dazu, Mann und Tochter zu verlassen, um ihrer "wahren" Berufung zu folgen: der Archäologie. Und nun leitet die mittlerweile renommierte Forscherin die Ausgrabungen in einer alten Maya-Metropole in den Wäldern Yucatans. Eines der Schemen, die sie dort zwischen den verfallenen Gebäuden heimsuchen, ist der Geist der Priesterin Zuhuy-Kak, welcher im Gegensatz zu den anderen Visionen in der Lage ist, mit Elizabeth zu kommunizieren und sie so in die Geheimnisse der untergegangenen Stadt einzuweihen.

Eines Tages taucht Elizabeths erwachsene Tochter Diane im Camp auf. Nach dem Tod ihres Vaters, bei dem sie von klein auf lebte, versucht auch sie, die Vergangenheit zu begreifen, den Grund, weshalb ihre Mutter sie einst im Stich ließ; und sie möchte eine normale Beziehung zu der ihr fremden Frau aufbauen. Obwohl Elizabeth schroff und abweisend reagiert, kann ihr Kollege und alter Freund Tony die Archäologin überreden, Diane vorübergehend als Hilfskraft im Team mitarbeiten zu lassen.

Schon bald spitzen sich die Ereignisse zu. Dank ihrer Fähigkeiten entdeckt die Forscherin einen versteckten, geheimnisvollen Tempel, während der nunmehr sehr "stoffliche" Geist Zuhuy-Kaks die Rückkehr einer alten Maya-Göttin prophezeit; und falls Elizabeth bereit ist, das zu opfern, was sie am meisten liebt, würde sie zu einer mächtigen Frau werden.

Patrice Anne Murphy erhielt 1987 für "The Falling Woman" den Nebula-Award. Dass es dennoch fast 20 Jahre dauerte bis dieser Roman seinen Weg nach Deutschland gefunden hat, wirft ein trübes Licht auf die Szene der "deutschen" Großverlage, denen aus absatzpolitischen Gründen klare Genre-Grenzen und damit wohl definierbare Zielgruppen wichtiger zu sein scheinen als literarische Qualität.

Seinem Wesen nach ist "Die Geisterseherin" eine ruhige, psychologisch fundierte Analyse einer problembehafteten Mutter-Tocher-Beziehung vor einem magisch-realistischen Hintergrund.
Im ersten Augenblick ist man daher und auf Grund der Tatsache, dass es von einer Frau geschrieben wurde, geneigt, das Buch als einen "fantastischen", aber dennoch typischen Frauenroman anzusehen. Dieses wird allerdings dem Buch keinesfalls gerecht, denn die vermittelten Erfahrungen und Probleme der Protagonistinnen sind universell. Es geht um den Preis, den ein Mensch bereit ist, für die Verwirklichung eines Traumes zu bezahlen, um die Freiheit des Willens, um die Notwendigkeit des Nehmens und Gebens in einer Beziehung.

Mit Elizabeth und Diane Butler schuf Murphy zwei komplexe, psychologisch ausgefeilte Charaktere, die in ihren Schwächen und Stärken kein simples Schwarz-Weiß-Schema bedienen. Elizabeth´ misanthroper, sarkastischer und zuweilen zynischer Charakter auf der einen Seite und ihre Hingabe und Begeisterung für die Wissenschaft sowie die Fähigkeit, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren, auf der anderen, machen sie zu einer Figur, die man zwar nicht lieben muss, die man jedoch verstehen kann. Diane erscheint anfangs eher als verzogenes "Kind", das nicht weiß, wann es unerwünscht ist, bzw. das die Wünsche anderer ignoriert, beweist aber im Laufe der Geschichte Stärke, Durchhaltevermögen und schließlich ein tieferes Verständnis für die Dilemmata der Mutter.
Die dritte Frau im Bunde, die Priesterin Zuhuy-Kay, bleibt hingegen ephemer, schemenhaft. Ihre Rolle ist lediglich die eines Katalysators, welcher Elizabeth in die Auseinandersetzung mit ihrer Tochter und dem eigenen Wertesystem zwingt. Die restlichen Figuren des Romans sind zwar nur mehr (Tony, Barbara) oder weniger (Emilio, Marcos) bedeutsame Statisten, dennoch besitzen auch sie in ihrem Auftreten genug Tiefe, um als Individuen wahrgenommen zu werden.

Doch nicht nur hinsichtlich der Beziehungsebene weiß "Die Geisterseherin" zu überzeugen; auch die Handlungsebene unterscheidet sich positiv vom belletristischen Mainstream. Der Verzicht auf plumpe, reißerische Action alá Indiana Jones oder Lara Croft lässt keine Zweifel daran, dass Archäologie in erster Linie als Wissenschaft und weniger als Abenteuer zu sehen ist, und immer wenn Murphy ihr Augenmerk darauf richtet, ist ihre Erzählung einerseits unsentimental und distanziert und andererseits doch voller wissenschaftlichem Enthusiasmus. Sie schildert das Alltagswerk der Archäologen, verwaltungstechnische Fährnisse und die Unbequemlichkeiten eines "naturnahen" Arbeitens auf eine so bildhafte und lebendige Weise, dass zu keinem Zeitpunkt Langeweile aufkommt.

Die metaphysischen, phantastischen Aspekte spielen in diesem Roman eine untergeordnete Rolle, da die Story selbst dann noch funktioniert, wenn man die Geistererscheinungen als Visionen einer psychisch kranken Frau ansieht. Die Spannung und intensive Atmosphäre der Geschichte resultiert daher nicht primär aus der Konfrontation mit dem Übernatürlichen, sondern vielmehr aus der Auseinandersetzung mit den eigenen, inneren "Dämonen". Von elementarer, atmosphärischer Bedeutung sind allerdings auch die fundierten Kenntnisse und das Einfühlungsvermögen der Autorin, welche sich in Elizabeths Visionen manifestieren. So vermittelt Murphy das Gefühl, eine längst untergegangene Kultur hautnah -durch Elizabeths Augen- mitzuerleben, und zwar nicht nur in ihren historischen Brennpunkten, sondern gerade auch im alltäglichen Leben.
Ein Exkurs in das zyklische Kalendersystem der Maya und deren Götterwelt runden das positive Faktenbild ab und in Teilen erinnert "Die Geisterseherin" durchaus an John L. Stephens fesselnden Reisebericht "In den Städten der Maya" (... wer dieses Buch noch nicht kennt, dem sollte Murphys Roman als Lese-Anlass dienen).

Schlussendlich ein paar Worte zum formalen Aufbau: der kapitelweise Wechsel der Erzählperspektive zwischen zwei Ich-Erzählerinnen, Elizabeth und Diane, ist anfangs gewöhnungsbedürftigt, hemmt aber den Fluss der Geschichte nicht, da sich die beiden Protagonistinnen in ihrem Urteilen und Verhalten deutlich genug unterscheiden, wobei aber Dianes Parts durchaus etwas mehr Esprit und Jugendlichkeit hätte vertragen können.

Fazit: Ein lebendiger und doch ruhiger, ein lehrreicher, jedoch nicht belehrender Roman, dessen intensive, magisch-realistische Atmosphäre den Leser bis zum Schluss zu fesseln weiß. Zu Recht preisgekrönt!Den Artikel im Blog lesen
 
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