Rezension Die Jahrtausendflut (Magic Edition #2)

Nepharite

Erstgeborener
Registriert
27. August 2004
Beiträge
1.330
Charles L. Fontenay - Die Jahrtausendflut - Magic Edition 2


[User-Rezi] von Nepharite


Wir schreiben das Jahr ....?! Die zunehmende anthropogene, globale Erderwärmung lässt die Gletscher und das Polareis schmelzen. Der daraus resultierende Anstieg des Meeresspiegels bedroht die Küstenregionen weltweit; dennoch beherrscht der Glaube an die Kontrollierbarkeit der Natur das Denken und Handeln der meisten Menschen. Eines Tages kommt es zur Katastrophe als ein großer Meteorit mit der Erde kollidiert, im Atlantischen Ozean einschlägt und einen verheerenden Tsunami auslöst, welcher in Verbindung mit dem ohnehin schon gestörten Klimageschehen dazu führt, dass sich ganze Kontinente mehre 100 Meter absenken und eine Flut ungeheuren Ausmaßes die Menschheit bedroht.
In diesem Chaos, den Untergang vor Augen, kämpft eine Gruppe von sechs Menschen -der Wissenschaftler Brand Caravel, der Unternehmer Ashley Garland, der Pfandfinder Jimmy Haggard, sowie Camilla Blackthorne und ihre Eltern- um ihr Überleben indem sie versuchen, zuerst der Welle und dann der folgenden Flut zu entrinnen. Dabei wird ihre Flucht aus der Megalopolis New Argos auch zu einer Flucht vor ihren Mitmenschen, denn mit der Vernichtung zivilisatorischer Errungenschaften geht der Rückfall in die Barbarei und in eine archaische Gesellschaft, in der nur die Starken, Schnellen und Skrupellosen überleben, einher.
Schon bald müssen sie sich entscheiden, wem sie folgen werden: dem moralisch integren Wissenschaftler Brand Caravel oder dem skrupellosen Ashley Garland.

"Die Jahrtausendflut" ist einer von drei "Science Fiction"-Romanen des amerikanischen Autors Charles L. Fontenay (geb. 1917). In der ursprünglichen Fassung erschien das Buch schon 1964, wurde aber im Jahre 2004 durch den Autor den aktuellen politischen Umständen -z.B. der Weigerung der USA, das Kyoto-Protokoll zu unterzeichnen- angepasst.
Trotz seines relativ geringen Umfangs handelt es sich um einen facettenreichen Roman, der zahlreichen Interpretationsmöglichkeiten Raum bietet, insgesamt jedoch in vielerlei Hinsicht einen ambivalenten Eindruck hinterlässt.

Betrachten wir zunächst den (natur)wissenschaftlichen Hintergrund: sowohl das langsame Abschmelzen der Gletscher und des Polar-Eises, als auch der Einschlag eines Meteoriten in den Atlantischen Ozean sind Katastrophenszenarien, die für sich genommen durchaus glaubwürdig sind. Entsprechendes gilt für den ungeheuren Tsunami und dessen potenziell verheerenden Folgen, welche im Dezember 2004 der Weltöffentlichkeit in Südostasien drastisch vor Augen geführt wurden. Bedauerlicherweise ist dieses Fontenay jedoch in seinem Anliegen, den materiellen und moralischen Untergang einer ganzen Zivilisation darzustellen, nicht genug. Und so entwirft er ein Szenario, das der Leser wahlweise als hirnrissig, abstrus oder in bildlicher Vorstellung sogar als komisch interpretieren kann: die Absenkung der Landmassen wegen des zusätzlichen Wassergewichtes und eines isostatischen Ausgleichs des "Hochploppens" der Antarktischen Platte auf Grund des Abschmelzens des Eispanzers. Zugegeben, die Theorie der Plattentektonik wurde erst etwa im Jahre 1970 wissenschaftliches Allgemeingut, aber auch Fontenay sollte als gebildetem Mann klar gewesen sein, dass weder die Landmassen auf dem Wasser schwimmen, und sie insofern durch zusätzliches Gewicht nicht einfach untergehen, noch das geophysikalische Isostasie ein Effekt ist, der quasi über Nacht -wenn überhaupt- zum Tragen kommt. Und so leidet auch dieses Buch an dem Dilemma, das so viele Weltuntergangsromane und -Filme kennzeichnet: dem wissenschaftlichen Nonsens.

Doch abstrahieren wir von diesen Defizit und dringen zu Kern des Buches vor. Betrachtet man die Charaktere, so erkennt man, dass drei von ihnen für bestimmte archetypische, soziale Verhaltensmuster stehen. Ashley steht für den Drang des Menschen, sich die Natur einschließlich seiner Mitmenschen untertan zu machen. Er repräsentiert den kriegerischen Aspekt in einer sozialdarwinistischen Ausprägung. Jimmy Haggard ist derjenige, der sich mit der Natur arrangiert; sein Anliegen ist nicht Veränderung, sondern Anpassung, die Existenz im Harmonie mit der Natur und ihren Geschöpfen. Brand hingegen repräsentiert das Streben des Menschen nach Erkenntnis, dem Beschreiben und Verstehen der Natur.

Von diesen drei Ideologien und den damit verbundenen Handlungsstrategien erweist sich in der extremen Situation, in welcher gesellschaftliche Regeln und der allgemeine moralische Konsens ihre Gültigkeit verlieren, lediglich die des Unternehmers Ashley -skrupelloser Einsatz von Stärke und Intelligenz- als geeignet, das Überleben der Gruppe zu gewährleisten. Jimmy hingegen muss an der zerstörerischen Seite der Natur, der er nichts entgegen zu setzen hat, ebenso verzweifeln wie Brand, dessen Fähigkeiten ihm allenfalls die Rolle eines Chronisten und Analysten des Untergangs erlauben. Selbst wenn Ashley letztendlich scheitert, so hält Fontenay dessen unmenschlicher oder -besser- urmenschlicher Philosophie keinerlei tragfähiges Argument entgegen, sondern relativiert diese allenfalls durch ein diffuses Unwohlsein der anderen Protagonisten. Und so bleibt, auch wenn man dem Autor unter Berücksichtigung seines beruflichen Werdegangs ein journalistisch deskriptives Vorgehen zugute hält, auf Grund der sozialdarwinistischen Grundtendenz ein fader Beigeschmack.

Ebenso fade erscheinen jenseits ihrer Funktion die Protagonisten. Camilla und ihre Eltern bleiben kontur- und gesichtslos, während die unsympathische Präsenz Ashleys Brand und Jimmy weit in den Schatten stellt. Hölzerne Dialoge, ein moralinsaures, allerdings vordergründiges Zeigefingerheben ob des Schindluders, das die Menschen mit der Natur treiben, und ein oft nicht nachvollziehbares Verhalten der Charaktere stellen dem Leser kaum einladende Identifikationmöglichkeiten bereit. Ähnlich schwach sieht es mit der storyimmanenten Faktenwürdigung und -interpretation aus. So ist es nicht nachvollziehbar, dass Jimmy und seine Pfadfinder ein mehrere Kilometer entferntes Ziel zu Fuß schneller erreichen als der Rest der Gruppe in ihrem Auto auf einen Highway, oder dass die Straßen und die nähere Umgebung der Metropole merkwürdig leer erscheinen, obwohl Tausende auf der Flucht vor den Fluten denselben Weg wie die Charaktere wählen sollten.

Im diametralen Gegensatz zu den schwachen Charakteren und der fragwürdigen Logik steht eine zuweilen intensive, düstere und bedrückende Atmosphäre. Die Odyssee der Gruppe durch eine apokalyptische, untergehende Welt, die Auflösung des Staates in einer "Militärdiktatur", der Verfall von Moral und humanistischen Werten ist von geradezu voyeuristischer Faszination. Und wenn Fontenay einen Radioreporter den Untergang der Stadt und seinen eigenen live kommentieren lässt, so fühlt man sich an eine Kriegsberichterstattung aus den Anfangszeiten dieses Mediums erinnert.

Fazit: Obwohl "Die Jahrtausendlut" wegen der fragwürdigen Botschaft und dem albern erscheinenden naturwissenschaftlichen Background einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt, handelt es sich dennoch um einen empfehlenswerten Roman, der dem Leser die Zerbrechlichkeit unserer sogenannten Zivilisation und Zivilisiertheit brutal vor Augen führt.Den Artikel im Blog lesen
 
Zurück
Oben Unten