20.4.04 - Und Ströme von Blut, wie Wasser das vom Himmel fällt

Nightwind

Erzketzer
#StandWithUkraine
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11. September 2003
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Hunger! Sie rast durch die Nacht über die nasse Straße, hin und wieder rutscht sie bei einer Bremsung so dass sie schon denkt sie hat es endgültig übertrieben, aber im letzten Moment bekommt sie das Rad wieder unter Kontrolle. Fast würde sie es begrüßen, dass sich das Bike querlegt, sie davonschleudert und über die Straße rollen läßt, dann gäbe es etwas anderes, eine andere Art von Schmerz, die sie ablenken würde von dem Biest das in ihr schon mehr als grollt... das ihr die Zähne in die Bauchdecke gräbt und daran herumzerrt.

Sie hat ein Ziel. Andi trifft sie normalerweise am Wochenende im Mexican, aber da war er länger nicht mehr und heute ist nicht mehr Wochenende. Es gibt immer mal so Phasen wo er die Samstagabende lieber zuhause verbringt als unter Leuten. Er ist ein Mann von der Sorte, von der immer behauptet wird sie kriegen keine Frauen ab weil sie viel zu nett und verständnisvoll sind. Umso eher hat er auf sie angebissen und auch recht bald zu verstehen gegeben, dass er mehr will als ausgehen und hin und wieder ein Bettabenteuer; ja tatsächlich, er will mehr als nur Sex, aber natürlich hat er sich da die Falsche ausgesucht. Seit Monaten zögert sie und täuscht Bindungsängste vor denn was er von ihr will kann sie ihm aus mehreren Gründen nicht geben. Jetzt schon gar nicht mehr, nachdem sie Julian kennengelernt hat. Er ist eben der ewige Pechvogel und eigentlich tut er ihr leid. Aber was soll sie machen? Sie ist nicht die gute Fee, sie kann nur vortäuschen, ihn bestehlen und ihm dafür wenigstens kurzzeitig die Ekstase des Bisses verschaffen. Es ist eine armselige Welt, und sie wird nicht besser.

Vor allem nicht seit dem Fluch. Vor allem nicht heute Nacht. Meyye hat sich schon an zwei Leichen versucht auf dem Weg hierher, aber sie müssen schon seit letzter Nacht daliegen, und sie hat es nicht geschafft, allzuviel von dem alten Blut herunterzuwürgen. Immerhin hat es gereicht, die schmerzenden Stellen von den Schlägen der Wasserwesen zu heilen, viel mehr brachte es aber nicht. Ein dritter Toter war frischer, aber der Blödmann hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Da war nicht mehr viel zu holen. Darum fährt sie zu Andi. Sie hat genug davon, Leichen zu fleddern, wenigstens einmal diese Nacht braucht sie frisches Blut. Andi wird jetzt wohl schon aufgestanden sein um zur Arbeit zu gehen, falls er das noch tut. Sie wird kurz vorbeischauen und ihm die übliche Menge abzapfen, dann verschwindet sie nachhause. Ganz einfach.

Ein nettes kleines Häuschen mit Vorgarten inmitten vieler gleichartiger. Er wohnt allein und hat darum viel Platz für sich und seine Hunde, zwei an der Zahl. Schäferhunde. Es hat ihn immer fasziniert, wie sehr Meyye ihnen sympathisch war. Das Rad läßt sie am Zaun des Nachbarhauses, dann steigt sie über ebendiesen um sich noch ein wenig mit Wasser aus der Regentonne 'frischzumachen'. Sie sieht zwar immer noch furchtbar aus, aber das paßt ja durchaus zu dem was auch Andi von den letzten Tagen mitbekommen haben sollte; nur hoffentlich nicht mehr allzu blutig, denn das wäre zuviel des Guten. So geht sie dann an seine Tür und...

Nein, sie klingelt nicht. Die Tür ist offen, einen Spalt. Das ist ungewöhnlich. Was aber Meyyes merkwürdigerweise bisher noch unangetastete Hoffnung, hier alles in bester Ordnung vorzufinden weit mehr erschüttert, ist das dünne Rinnsal von schwarzrotem Blut, das durch diesen Spalt nach draussen ins Gras sickert. Langsam schiebt sie die Tür auf, bis sie auf etwas stößt das davorliegt. Es läßt sich mit ein wenig Aufwand weiterschieben. Es ist einer der Schäferhunde, Ylva heißt... hieß sie. Blut sprenkelt den Rahmen und den Schrank an der Tür, und sie braucht nicht näher hinzusehen um zu sehen, wie der Tod zustandekam... Hunde haben im Vergleich zu Menschen recht wenig Hirnmasse, und es ist einfach es mit gezielten Schlägen (Axt oder Baseballschläger oder was auch immer) oder einem Pistolenschuß auf den Fußboden zu verteilen. Wer hat das getan?

"Andi?" ruft sie halblaut und ihre Sinne sind gespannt. Das Blut läßt ihr Tier sich wieder regen, aber gleichzeitig ekelt sie sich davor. Wieder totes Blut, diesmal noch von einem Vierbeiner. Mit möglichst großen Schritten geht sie an der Leiche vorbei und weiter in den Küchenbereich. Rechts davon geht eine Treppe nach oben, und da sie hier unten kein Licht sieht, muß er im ersten Stock sein, wenn überhaupt. Wohn- und Schlafzimmer sind von der Straße aus gesehen hinten, also wäre es kein Wunder, wenn sie es von draussen nicht erkannt hat. Sie ersteigt die Stufen, die viel zu laut knarzen, und lauscht... nichts. Immerhin, Licht kommt durch den Türspalt zum Schlafzimmer, also sollte sie da wohl als nächstes nachschauen.

Sie öffnet die Tür. "Andi! Himmel, was..." Weiter kommt sie erstmal nicht, denn das Bild spricht für sich selbst. Andi sitzt auf seinem Bett, noch im Schlafanzug, und starrt auf einen Punkt vor seinen Füßen, auf dem Teppich mit dem interessanten Muster. Zwischen ihm und der Tür liegt Joscha. Den hat er in die Brust geschossen, was für den Hund nicht viel Unterschied macht, aber keine solche Sauerei hinterläßt wie unten. Er hat einen Revolver in den Händen. Meyye wußte nicht, dass er eine Waffe besitzt. Er wäre der Letzte gewesen, bei dem sie eine vermutet hätte!

"Geh weg." flüstert er nur, ohne ihr den Blick zuzuwenden.
"Andi, was hast du gemacht?" fragt sie anstatt seiner Aufforderung nachzukommen.
Er lächelt schwach. "Sie vorausgeschickt."
Kein Zweifel, was er damit meint. Sie kommt einen langsamen Schritt näher, hebt beschwörend die Hände. "Andi, tu das nicht... du hast noch viel vor dir, das läßt sich alles wieder einrenken... hörst du? Wie schlecht du dich auch fühlst, das vergeht wieder. Ich schwörs dir!"
"Bleib wo du bist!" brüllt er. Plötzlich ist er aufgesprungen und hat die Kanone auf sie gerichtet. Er atmet heftig, in seinen Augen irrlichtert es. "Du... du hast doch gar nichts für mich übrig... du... willst doch nur mein Blut!"

Hoffentlich versteht er es falsch. Hoffentlich hält er das Erschrecken in ihrem Gesicht für Unglauben wegen der Behauptung. "Dein... dein was?" bringt sie schließlich hervor.
"Glaubst du denn, ich bin ein Vollidiot? Bestimmt glaubst du das. Du bist doch nur... eine verdammte Blutsaugerin! Nie rufst du an oder kommst mal so vorbei... nur in der Nacht, wenn du es mal wieder brauchst. Und du wirst nie zu mir ziehn oder mir einfach mal deine Wohnung zeigen, hab ich recht? Nur wenn du mal wieder... Hunger hast, du... Vampir!" Er fängt an zu schluchzen. Der Fluch verstärkt, was schon lange in ihm gärt und bringt ihn zu Einsichten, die er gar nicht haben dürfte.

Jetzt wäre es ihr lieber, er hätte nur mit Kugeln geschossen. Sie steht da wie vom Donner gerührt und schaut ihn mit geweiteten Augen an, wie unter Schock. Ihre Lippen bewegen sich, ohne dass sie etwas sagt, dann flüstert sie doch noch: "Du irrst dich..." Und lauter, während sie auf ihn zugeht: "Du irrst...!"
Der Schuß ist ohrenbetäubend und die Kugel bohrt sich in ihre Brust, knapp neben dem Herzen. Der zweite trifft ihren Kehlkopf. Anstatt einem Schrei erzeugt sie nur ein gurgelndes Geräusch, sie stolpert zurück, mehr aus Schreck als sonst irgendetwas, und fällt zu Boden. Schmerz! Blut, sie hat Blut... sie kann sich heilen... dann kann sie wieder sprechen! Das Kaliber ist zum Glück nicht allzu groß.

Aber das braucht es auch nicht. Mit verzweifeltem Schluchzen richtet er die Waffe gegen seine Schläfe. Sie springt auf, aber es ist schon zu spät. Noch ein Knall, dann ist er es, der zu Boden fällt. Sie hört nicht das Geheul, das von ihr ausgeht und entfernt an einen verletzten Hund erinnert. Sie sieht nicht ihr Gesicht, als sie auf ihn zustürzt und weinen würde, wenn sie es noch könnte - auf die herkömmliche Art, das mit dem Blut ist nicht so einfach. Dann schlägt sie ihre Fänge in den Hals und kann noch die letzten schwachen Ausläufer des Pulses spüren, bevor er erstirbt. Für sie macht es nichts, sie kann auch so saugen. Blutsauger! Du bist eine Blutsaugerin!

Als sie fertig ist, flüchtet sie. Gesättigt fühlt sie sich, aber am liebsten würde sie alles wieder auskotzen. Sie hat gedacht, sie kommt damit klar. Sie hat gedacht, sie könnte auch so existieren, sie muß es nunmal. Sie hat sich abgeschottet gegenüber der ganzen Welt, war für sich allein geblieben weil sie das Schicksal anderer weniger berührt, wenn sie Fremde sind. Oder sie sie nur als Gefäße betrachtet. Es nicht übertreiben und niemanden töten, weil sie fair ist, das war okay für sie. Was ist schiefgelaufen? Warum, verdammt nochmal kann sie nicht ruppig und distanziert sein wie sie es gerne hätte? Warum nicht gefühllos, wie es Vampire angeblich doch alle sind?

Als sie nachhause kommt ist ihr anzusehen, dass sie eine wahrlich beschissene Nacht hatte. An Tatjana gibt sie nur die gute Nachricht weiter, dass sie sicher einen Weg gefunden haben, Zacharii zu besiegen und erzählt von der Schriftrolle. Über den Rest (denn Tatjana sieht ihr sicher an, dass etwas nicht stimmt) will sie nicht mehr sprechen; es ist ja auch schon spät, sie muß sich schlafenlegen. Und das tut sie dann auch.
 
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