Als Anna nach der Erlaubnis näher trat, bewegte sie naturgemäß die Luft im Raum. Je nachdem, wie fein die Sinne der anderen Frau waren, nahm sie unter Umständen schon jetzt etwas wahr, was nicht stimmte. Ja, Anna hatte die Hände, Gesicht und Hals von dem gröbsten Blut befreit. Die Haare waren allerdings nur kurz gebürstet worden, Arme und Beine hatten eine wesentlich unsorgfältigere Reinigung erfahren und so dürfte sich noch einiges an getrocknetem Blut auf der Tremere befinden. Menschliches Blut. Die Zeit zum Duschen und Haare föhnen hatte sie sich nicht gestattet.
Anna blickte zum angebotenen Stuhl, dann wieder zu der Prinz. „Guten Abend, Senora Cruiz. Mit eurer Erlaubnis mein Prinz, bleibe ich stehen und werde euer Angebot erst nach meinem Bericht annehmen, wenn es dann immer noch besteht.“ Diese Beichte im Sitzen... sie war schon im Stehen kaum denkbar. Im Sitzen... das war einfach nicht richtig. Das durfte sie nicht. Nicht jetzt. Falls jemand ihr Verhalten später so interpretieren wollte, dass sie sich fluchtbereiter halten wollte, so irrte diese Person. Es war irgend ein verquerer Trieb von Anstand, der Anna dazu veranlasste. Sie hatte es nicht verdient, nicht bevor die Prinz wusste, was sie getan hatte. Dann oblag es ihr zu entscheiden. Sie wartete den Wunsch der Prinz ab, bevor sie entsprechend handelte – stehen blieb oder sich setzte, weil jene insistierte und sei es nur durch eine Geste oder das absolute Fehlen einer solchen.
„Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, weil ich nicht den offiziellen Weg über die Regentin eingeschlagen habe. Ich halte den Aspekt der Zeit in dieser Angelegenheit für gewichtiger und wollte keine Verzögerung riskieren, die den Raum zur Reaktion minimiert.“
Die Tremere schluckte nicht trocken. Sie schloss auch wieder nicht die Augen. Die blickten die Regentin direkt und ausdruckslos an. Alles, was sie sagte, wurde flüssig vorgetragen. Sie hatte eine ganze Autofahrt über Zeit gehabt, sich die Worte zurecht zu legen. Wenigstens die ersten. Das verteufelte war: Sie hatte absolut keine Ahnung, wie die Prinz reagieren würde. Alles war möglich. Sie konnte 'Gnade' zeigen, die die Adeptin noch teuer bezahlen würde. Die Schulden bei der Toreador wären dann wohl alles andere als klein. Oder sie war entweder schwach in ihrer Position oder nur schlicht missgelaunt. Dann konnte all dies sehr schnell zum Tod der Tremere führen. Gerechtfertigt wäre dieses Urteil alle mal. Anna konnte nur hoffen. Hoffen und beten, dass sie rechtzeitig kam, um die schlimmste Öffentlichkeit zu vermeiden, hoffen, dass ihr Fitzelchen an Informationen wert genug war ihr Leben zu erkaufen.
„Ich muss ihnen gestehen, die Tradition der Maskerade gebrochen zu haben, mein Prinz.“ Bäm. Jetzt war es raus. Wenigstens der erste Klopper. Was jetzt noch kam, waren lediglich Details. Ein Zurück gab es ab diesem Punkt nicht mehr. Das war der Kopfsprung ins kalte Wasser gewesen. Jetzt musste sie nur noch schwimmen. Oh, und dem Sog des Trichters dabei entgehen, der verflucht dicht an ihr dran war. Wenn es möglich war. Wichtiger noch war, keine anderen mit von diesem Sog ergreifen zu lassen. Deshalb war sie hier. Es durfte nicht weiter um sich greifen, keine Katastrophe für die Welt der Vampire werden.
Die Tremere ließ sich nicht lange bitten, sondern vervollständigte von selbst den Bericht. „Ich bilde mich in verschiedenen Sprachen fort, unter anderem Russisch. Um praktische Erfahrung in der Sprache zu sammeln, nahm ich bereits vor einigen Nächten Kontakt zum russischen Kulturverein in Finstertal auf. Ich spielte Schach und unterhielt mich. Heute wollte ich zum dritten Mal dort einkehren. Ich nahm ein irritierendes Geräusch wahr, dass meine Aufmerksamkeit auf die Straße lenkte. Ich vermute im Nachhinein, dass es Schall gedämpfte Schüsse waren. Ein Transportbus fuhr mit bewaffneten Männern vor. Auf meine gerufene Warnung entstand Panik unter den Anwesenden. Lediglich ein Greis, mit dem ich schon gespielt hatte, reagierte richtig auf meine Aufforderung und ging in Deckung. Mir selbst blieb weit entfernt von möglicher Deckung nur, auf den Boden zu gehen und ich stellte mich sehr bald tot, während vier Angreifer das Lokal mit Schüssen aus schnell feuernden Gewehren eindeckten. Mir war lediglich der blockierte Ausgang aus dem Lokal bekannt und bei einer Flucht wäre mit Sicherheit auf mich geschossen worden. Mir wurde bewusst, dass die Angreifer vor hatten jeden einzelnen in dem Lokal zu töten. Es ging ihnen nicht nur um einen schnellen Angriff. Herr Kameniev, der Greis, war der einzige der Russen, der eine Waffe bei sich trug. Ich entschied mich zum Handeln. Einer der Angreifer, der durch die Tür gekommen war, war tot. Ich griff seine Waffe und ging nach draussen. Ich bemühte mich, so weit wie möglich verdeckt zu stehen. Weiter weg begannen Menschen sich zu versammeln und auch in einigen Wohnungen in der Nähe war Licht angegangen. Obwohl es mir bei meiner Ankunft in Finstertal nicht möglich war, und auch noch nicht bei dem großen Angriff gegen die Werwölfe, rief ich das Blut eines der Angreifer zu mir, während ich gleichzeitig versuchte mit der Waffe zu schiessen. Ich verfüge in diesem Bereich über so gut wie keine Kenntnisse. Der Mann brach zusammen und ich konzentrierte mich auf den nächsten. Auch von ihm rief ich Blut. Der vierte Mann nutzte die Zeit um zu dem Tranporter zu sprinten und der Fahrer fuhr los. Der vierte Mann hat eindeutig gesehen, was ich getan habe, ebenso wie er gesehen hat, dass eine Salve aus den Gewehren lediglich meine Kleidung zerfetzt hat. Es gelang mir nicht, den Transporter ohne Nummernschilder ebenfalls zu erreichen und die Angelegenheit zu Ende zu bringen. Ich konnte ohne die Deckung durch den Transporter nicht auf der Straße bleiben. Herr Kameniev wies mir den Weg durch einen versteckten und verschlossenen Hinterausgang. Er konnte meine zerfetzte Kleidung deutlich wahr nehmen.
Es hat sich heraus gestellt, dass Herr Kameniev eine relative Größe im russischen Kartell dar stellt und der Angriff wohl ihn zum Hauptziel hatte. Auch wenn ich ihm nichts wirkliches sagte, berichtete er mir von Herrn Zieglowsky und seiner Art von den Toten auf zu erstehen. Er hat auch schon vorher der zweiten Trinkwasservergiftung keinen Glauben geschenkt und berichtete über Gerüchte von 'Helden' in der Stadt, die gegen Monster kämpfen. Er trug den Wunsch an mich heran, mich als Galionsfigur gegen die Italiener einzusetzen. Ich lehnte mit dem Hinweis ab, dafür nicht die geeignete Person zu sein. Es ist mir nicht möglich, das Gedächtnis von Personen selbständig zu beeinflussen. Ich bin mir jedoch sicher, dass er auf einen Anruf von mir reagieren wird. Er ist an Verhandlungsgesprächen interessiert, allerdings nicht mit den Italienern. Er berichtete von einem Angriff auf einen seiner Gefolgsleute, den er auch den Italienern zu schreibt und sagt, dass seine Fraktion nun antworten wird.
Ich glaube, dass die anderen Gäste des Cafés nichts wahr genommen haben, worüber sie reden könnten. Sicher ausschließen kann ich es nicht. Wie viel die zufälligen Beobachter haben sehen können, kann ich nicht einschätzen, genau so wenig ob es Bild- oder Filmaufnahmen meiner Tat gibt. Mein erstes Opfer hat definitiv auch Schußwunden durch mich erhalten, was seinen Blutverlust erklären kann. Bei dem zweiten bin ich mir nicht sicher. Ich hätte ohne Deckung im Licht stehen müssen, hätte ich mir Gewissheit verschaffen wollen.
Die Waffe befindet sich in dem Kofferraum meines Wagens.“
Da war sie raus, die Katastrophe, in allen wunderbaren Details. Na gut. Doch nicht in allen. Der Bericht der Tremere war sehr nüchtern, so, wie es ihre Art war. So, wie sie es gelernt hatte. Alle wesentlichen Fakten, die ein Handeln ermöglichten oder benötigten waren klar benannt: Zwei bis drei Personen, die definitiv übernatürliche Fähigkeiten wahr genommen hatten und die noch lebten. Nur eine davon war im Zweifelsfall erreichbar und konnte manipuliert werden, wenn man es wollte. Den oder die anderen waren wohl wesentlich schwerer greifbar. Die Pathologie durfte keine falschen Ergebnisse fest stellen und vor allem musste kontrolliert werden, ob der Presse irgend welches Bildmaterial zu gespielt werden sollte. Hoffentlich wendete sich so jemand an die Presse oder die Polizei. Bei den beiden würde die Prinz wohl Möglichkeiten haben um einzugreifen. Beim Internet mochte die Geschichte anders aussehen. Was komplett fehlte, waren Annas eigene Beweggründe, warum sie aufgestanden war, was sie gefühlt hatte. So kontrolliert sie auch wirkte, innerlich wollte sie nur schreien und heulen und in ihr war ein Wirrwarr von Gefühlen unabhängig davon, dass sie um ihr Leben fürchten musste. Sie hielt sich zurück. So weit wirkte ihre Indoktrinierung noch. Es interessierte niemanden warum sie gefehlt hatte, was ihre Gründe oder Ausreden waren, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man es betrachten mochte. Es zählte lediglich, was geschehen war. Die Fakten, so neutral wie möglich. Es gab nicht ein Wort der Erklärung ihrer Tat oder der Entschuldigung. Nicht an dieser Stelle.
Die Tremere senkte den Blick und neigte den Kopf. Vorläufig hatte sie geendet, alles erzählt, was sie zu erzählen hatte. Jetzt hing alles an der Prinz, daran, wie sie es aufnehmen würde. Daran, in welchem Licht sie sich entschied, die Beichte der Tremere zu sehen.
Glaubte sie, die Adeptin wolle sich ihre Unerfahrenheit zu nutze machen? War es für sie eine Gelegenheit, den verhassten Clan Tremere zu schädigen oder ihre Durchsetzungskraft zu demonstrieren? Oder würde sie dem Versucht der Tremere anerkennen, den Schaden für die Gesellschaft so gering wie möglich zu halten, nun, wo das Kind schon einmal in den Brunnen gefallen war und es heraus fischen? Anna hatte nichts mehr in der Hand um ihr Blatt noch zu verbessern. Sie konnte nur hoffen, dass es reichte – die Möglichkeit zur schnellen Reaktion und dass die Tremere nicht abgewartet hatte, ob sie eventuell glimpflich davon kommen würde, weil es kein gutes Bildmaterial gab, die Zeugen widersprüchlich waren und auch die Leichen wenig auffällig waren... und nicht zu letzt der Kontakt zu Kameniev.. zu den Russen... der einen Wert haben mochte oder auch nicht. Selbst, wenn sie es nur kurz erwähnt hatte, war es sicher der Prinz nicht entgangen, dass Anna gesagt hatte, er wünsche Verhandlungen. Und die Tremere hatte auch auf den Schutz der Regentin verzichtet, ihren möglichen Einfluß auf die Prinz, um der Prinz Zeit zu erkaufen. Zeit, die sie mit einer größeren Unsicherheit für ihr Leben bezahlte.
Anna wünschte sich so sehr, einfach wieder die Knie beugen zu können, sich unterwürfig zu zeigen mit mehr als einem Neigen des Kopfes. Aber nicht mal das war angemessen und schlichte Kriecherei. Stünde ihr die Kriecherei an? Sicher! Würde sie sich deswegen schämen? Bei dem, was sie getan hatte? Sie würde die Füße der Toreador küssen, wenn es irgend etwas helfen würde! Aber sie hatte zu aufrecht zu bleiben. Sie hatte der Prinz für Fragen zur Verfügung zu stehen. Gesten, die höchstens die ganze Angelegenheit verzögern würden, waren nicht angebracht. Jetzt oben zu bleiben kostete die Adeptin fast mehr Kraft als alles andere.