[13.10.2015] Die Ruhe nach dem Sturm

Drakun

Pflanze
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Verkehrschnittstellen waren zu dieser Zeit besonders wichtige Orte und der Bahnhof von Finstertal keine Ausnahme. Über den Tag hinweg erschienen Züge mit Flüchtlingen und mehr und mehr Menschen sammelten sich. Um zu helfen, zu meckern, zu gaffen. Nicht verwunderlich, dass die Stimmung eine Angespannte wurde und sich hier und da Emotionen Luft machten. Doch das lag nun in der Vergangenheit. Die Nacht war hereingebrochen und der Bahnhof in einen leichten Schlaf versunken.

Natürlich war das noch nicht das Ende - in den kommenden Tagen würden sich diese Szenen wohl noch einige Male wiederholen und selbst jetzt waren noch Menschen unterwegs. Ob Arbeitstätige oder Übriggebliebene der Bahnhof hatte am späten Abend selbst einige Stunden nach Sonnenuntergang noch Besucher.

Das Geräusch von Absätzen auf Asphalt kündete Neuankömmlinge an - dem Aussehen nach drei Damen Mitte bis Ende Dreißig, gut gekleidet und aus richtig Stadtzentrum kommend. Nicht wirklich die normalsten Gäste um diese Zeit. Doch im Moment war eben nichts wirklich normal.
 
Ein paar Wachleute waren am Eingang postiert, aber sie warfen den 3 Frauen nur wenige Blicke zu, die 3 erschienen nicht gefährlich und nach Randale sahen sie auch nicht auf, zumal sie ein Auge auf einige Leute hatten, die mit Plakaten auf dem Vorplatz rumliefen, die verkündeten, daß ihnen die Asylanten die Arbeitsplätze wegnähmen, auffallenderweise waren einige von ihnen wohl selber nicht in Deutschland geboren worden, wenn man an ihre Hautfarbe und auch ihren Dialekt bedachte.

Es kamen auch um die Zeit noch Züge an, aber nur wenige und die wenigen Reisenden hatten es alle eilig nach Hause zu k0mmen, immerhin lag die Temperatur kaum über dem Gefrierpunkt und unter den Regen mischte sich die eine oder andere Schneeflocke. Nicht gerade das Wetter, was man Mitte Oktober erwartete.

Oben auf dem Bahnsteig, auf dem die Asylanten-Sonderzüge aus Berlin angekommen waren, waren einige der Putzkolonne, die die Überreste zusammenfegten, damit morgen wieder alles schön sauber aussah.
 
Miriam war tatsächlich harmlos. Die beiden anderen... eher nicht, auch wenn sie auf den ersten wie auch den zweiten Blick so wirkten. Das ist ganz schön frostig... Dick eingepackt zu sein war das eine, doch wenn man selbst keine Wärme erzeugte, kroch die Kälte nach und nach auch durch die dickste Kleidung. In einem Versuch das Ganze hinauszuzögern zog sich Marta den Schal dichter um den Hals, während sie sich das recht abstruse Treiben ansah. Arbeitsplätze? Ersnthaft? Bestand nicht im Moment auch eines der Probleme darin, dass Asylanten eben nicht arbeiten durften? Ich sehe Solidarität wird hier großgeschrieben. Marta war sicherlich nicht naiv genug die Herkunft eines Menschen von der Hautfarbe ablesen zu wollen.

"Schau mal einer an, es sind immer noch Leute unterwegs."

Erstaunlicherweise blieb ihr Tonfall vollkommen neutral. Wie die üblichen 'weißen, arischen Hohlschädel' sahen diese Leute jedenfalls nicht aus. Vielleicht konnte sie ja anhand der Sprache etwas herausfinden?
 
Wenn sie genau zuhörte klang einiges doch etwas östlicher, vielleicht waren sie selber erst vor kurzem hier her gekommen und fürchteten nun um Konkurrenz, es kamen immer wieder Asylanten, aber noch nie soviele auf einmal
 
Osteuropäisch? Sie war zu weit weg um wirklich viel zu verstehen oder den genauen Akzent zu bestimmen. Dann hilft wohl nichts. Ihre Hände fuhren nach oben, nahmen die Brille, die daraufhin zusammengefaltet in der Tasche landete.

"Wartet hier ich - ich rede mal mit jemandem."

Ohne eine Antwort abzuwarten schritt die Brünette auf die nächstbeste Gruppe von Demonstranten zu. Bestimmt, jedoch nicht forsch. Ihr Blick flog über den Platz suchte nach potentiellen Gefahrenquellen sowie... Helfern. Ist hoffentlich nicht notwendig. Bei dem Häufchen angekommen wandte sie sich mit freundlichem, ja beinahe naiv unschuldigem, Tonfall an den veremintlichen 'Alpha', wobei ein eindutig russischer Akzent in ihrer Stimme lag.

"Entschuldigung, darf ich fragen, was hier los ist?"

Und wehe jetzt kommt ein 'nein'! Natürlich wäre das auch Schwachsinn auf einer Demonstration, aber man wusste ja nie.
 
"Wir demonstrieren für unsere Rechte, es ist schwer genug, hier Asyl zu bekommen und wenn man sich mit der Sache befasst, zeigt sich, daß diese Leute vorrangig bearbeitet werden sollen, während welche von uns schon seid 2 Jahren und länger auf eine Anerkennung und Freigabe warten", erwiderte der Mann und er konnte eindeutig ein gramatikalisch einwandfreies Deutsch.
"Ist es rehtens, daß wir noch weiter zurüvkgestellt werden?"
 
"Sie sind also ebenfalls Asylanten?"

Sie warrf einen skeptischen Blick auf die Plakate, deren Aussage nun noch abstruser schien. Ihr habt wohl Angst, dass man euch 'ersetzt'?

"Meinen sie die Leute werden damit wirklich bevorteilt? Ich würde an ihrer Stelle nicht tauschen wollen..."
 
"Was denken sie, Fräulein", antwortete der Angesprochene und fischte ein Schreiben aus der Innentasche seiner Jacke. "Wie würden sie das sonst sehen?"

Er hielt ihr das Schreiben des Amts hin, das die Mitteilung enthielt, daß der Entscheid wegen Arbeitsüberlastung verschoben werden müßte und noch keine Arbeitserlaubnis erteilt werden könnte. Aus dem Schreiben konnte Marta auch erkennen, daß der Mann Ingenieur war.
 
Da war sie wieder, die Kluft zwischen 'gut' und 'richtig'. Scheinbar war der Mann ein Einwanderer wie ihn sich Deutschland wünschte: arbeitswillig, gebildet, mit sehr guten Deutschkenntnisssen - und aus seiner Anwesenheit hier zuschließen sogar kulturell entsprechend angepasst. Doch war das ein Grund, die ohnehin begrenzten Resourcen von denjenigen abzuziehen, die es aus rein menschlicher Sicht nötiger hatten? ? Asyl ist nicht dafür gemacht, dass man sich die Rosinen herauspickt. Das Ganze erinnerte sie unangenehm an die Vampirgesellschaft.

"Mmh... sieht aus als hätten die Ämter nicht genug Leute..."

Eine abschließende Wertung dazu verkniff sie sich sichtlich.

"Aber was hat das mit dem da zu tun."

Eine behandschuhte Hand hatte sich erhoben und war nun auf eines der Plakate gerichtet, deren Botschaft sich eindeutig gegen die Flüchtlinge und eben nicht gegen die verkorkste Bearbeitung richtete. Man hätte es fast für anklagend halten können, bliebe es nicht bei dem naiv fragenden Tonfall.
 
"Haben sie schon mal versucht, etwas gegen einen der Regierenden hier zu tun?" fragte er zurück. "Da erreichen sie nichts, die sind doch alle gekauft."

Einige der anderen waren auch nähergekommen.

"Es ist schade um die Leute, aber anders als im Aussenverhältnis einen letzten Eindruck zu hinterlassen tut sich nichts."
 
Klar sind die gekauft - wie überall. Bloß dürfte es in Deutschland verhältnismäßig teuer werden.

"Haben wir. Teilweise auch mit Erfolg."

Wenn die Leute nicht so schnell vergessen würden. Vielleicht muss man sie einfach häufiger erinnern. Aber sicherlich nicht so wie hier.

"Einen schönen Eindruck hinterlassen sie - reiht sich wunderbar ein in die Propaganda vom rechten Flügel. Den Flyer kennen sie sicherlich schon?"
 
"Und was schlagen sie vor, schön die Klappe halten und wieder eine draufkriegen, wie meine 16jährige Tochter, die sich nachdem sie vom Sohn eines Anwalts vergewaltigt wurde und dann vor Gericht festgestellt wurde, es wäre Verleumdung und sie hätte doch den 22jährgen bedrängt?"
Der Mann schien auch in der neuen Heimat kein Glück bekommen zu haben.
"Und ja, ich kenne den Flyer."
 
Natürlich konnte Marta hier kaum beurteilen, was sich da wirklich abgepielt hatte, enthielt sich also jeglichen unqualifizierten Kommentares. Die Verantwortlichen sind nicht greifbar und deshalb lässt du deine Wut an anderen aus?

"Eher die Klappe richtig aufmachen. Damit..."

Die Geste war kaum mehr als ein kurzes Neigen des Kopfes.

"...spielt man aber genau solchen Leuten in die Hände. Wollen wird das?"

Teile und herrsche...
 
"Wenn sie so schlau sind, was würden sie dann machen?" fragte eine Frau aus dem Hintergrund. "Nette Kleidchen, bestimmt noch nie Hunger leiden müssen oder misshandelt worden, können sie da überhaupt mitreden?"
 
"Ich hatte auch meinen Anteil an... unangenehmen Erlebnissen..."

Und Hunger? Nicht so... anders. Willst du wirklich nicht wissen! Obwohl es eigentlich passte, schließlich ging es hier vor allem um Futterneid.

"Sicherlich nicht gegen andere hetzen, die Hunger leiden oder misshandelt wurden! Die sind nämlich nicht schuld!"

Ihre Stimme war etwas lauter geworden, blieb aber weiterhin zart, wenn auch mit einer etwas schärferen Note.

"Warum sich um Brotkrumen streiten, anstatt sich zu fragen, warum man eigentlich immer nur Brotkrumen bekommt?"
 
"Was ist doch klar, jeder wäre gerne in seinem Land glücklich, aber solange die reichen Länder so gut an der Rüstung verdienen und deswegen den Krieg immer weitertreiben", kam es von einer anderen Seite. "Ihr hier in der Stadt, verdient euch doch auch eine goldene Nase an unserem Leid."
 
Na also - es wird langsam wärmer.

"Ja, leider..."

Dass Deutschland und gerade Finstertal an Waffen verdienten, war bekannt. Und am Ende kamen diese mehr oder weniger direkt auch zum Einsatz in diversen Kriegsgebieten. Glaube es gibt aber bessere Gründe für Krieg.

"Und außerdem ist es 'wir' - und das sollten wir vielleicht nicht vergessen."

Woher kam denn das Geld, von dem man hier als Flüchtling oder Asylant lebte?
 
"Aber Wir wären nicht hier, wenn nicht alle am Krieg verdienen wollten und es in Kauf nähmen, daß dabei einige auf der Strecke bleiben und dann halt ein kleiner Teil der Einnahmen als Spenden an die Flüchtlinge und Opfer wieder als Spenden abgeschrieben würden." Der Mann der sich da zu Wort gemeldet hatte, schien wohl seine Zeit mit dem Studium der Situation verbracht zu haben.
 
Gut so. Doch sollte er nicht gerade deshalb gegen etwas anderes demostrieren? Natürlich kommt es blöd, wenn man iun einem Land Asyl sucht und dann die dortigen Machthaber anprangert... Immer auf die Schwächeren.

"Die Bevölkerung hier war mit der Fabrik auch nicht einverstanden und die damalige Stadtverwaltung musste ihren Platz räumen. Dummerweise sind Bürger manchmal vergesslich und die selbe Truppe wurde letztlich wiedergewählt..."

Eine Tatsache mit der sie offenbar nicht zufrieden war. Dennoch winkte Marta ab. Das kann warten.

"Aber das ist jetzt auch nicht so wichtig - im Moment geht es darum, dass sich nicht jeder für die braune Propaganda einspannen lässt. Absichtlich oder nicht..."

Da zur Zeit Fremdenfeindlichkeit wieder voll im Trend lag, waren die Konservativen sicherlich das geringere Übel.
 
"Also schön die Klappe halten oder wie stellen sie sich das vor?" war die Frage, der sich Marta stellen musste, sie hatte ein Fass aufgemacht und nun erwarteten die Leute, daß sie eine Alternative bot.
 
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