[09.11.1888]Whitechapel, London...

Dragoner

Hannah Kelly - Brujah
Registriert
29. Oktober 2008
Beiträge
763
Den gesamten Morgen über waren die zwei schmutzigen Gestalten bereits in der Kälte und dem Regen auf den Beinen gewesen um zu arbeiten: Sie sammelten... alles mögliche, was sie finden konnten, um es für einige Pence an einen schmierigen Kerl zu verscherbeln, der vermutlich einges mehr damit verdienen würde, als die jungen Menschen, die gerade mit genug abgespeist wurden um nicht zu verhungern.

Aber es war Freitag. Und es war Feiertag - der Traditionelle zu Ehren des Bürgermeisters Londons - jedes Jahr im November. Die Menschen würden spätestens zu den Mittagsstunden in Pubs einfinden, trinken und ausgelassen sein... und unachtsam. Günstige Gelegenheiten für flinke Finger. Aber noch war es dafür zu früh.

Annie! Jetzt beweg endlich deinen unnützen, madigen Hintern! raunte der Größere der Gruppe - ein rothaariger, Jugendlicher, der eigentlich ja schon junger Mann war, aber ebenso schmutzig war, wie seine Begleitung - seinem schmächtigeren, kleineren Gefährten zu. Beide trugen einfache Straßenkleidung, einem geflickten, gebrauchten Mantel und einer Mütze, sowie löchrige Wollhandschuhe. Er verdrehte die Augen und stieß einen leisen Fluch aus. An cailín mallaithe seo... - verdammtes Mädchen.

In dem verregneten Schaufenster, vor dem die zweite Gestalt stehen geblieben war, spiegelten sich verträumte, leuchtend blaue Augen. Grob gekürztes und hastig unter die Mütze gestopftes, schwarzes Haar ragte an manchen Stellen noch hervor und umrahmte das schmutzige Gesicht, das man kaum einem Mädchen zurechnen würde, wenn man sie nicht genauer betrachten würde. Sie reagierte nicht, denn ihre Gedanken waren an einem anderen Ort.

Wenn sie nur ein paar Schilling verdienen könnte, anstatt sich mit einer Handvoll Pence abspeisen zu lassen... irgendwann könnte sie sich vielleicht so ein Kleid leisten, wie sie dort im Schaufenster sah. Hatten ihre Eltern nicht gesagt, sie sollten an Träumen festhalten und sich dafür einsetzen? Es mußt einfach möglich sein aus dem Leben auszubrechen, das sie führten. Sie war immerhin bereits Sechzehn! Alt genug um mehr Geld verdienen zu können. Eine grobe Berührung an ihrer Schulter riss sie aus den Gedanken.

Eddy! Du sollst deine schmierigen Finger nicht immer an mir abwischen, ich brauch den Mantel morgen noch... zischte sie zurück. Das Mädchen warf noch einen beinahe sehnsüchtigen Blick zurück durch die verregnete Scheibe, bevor die Realität sie wieder einholte. Sie würden hier verschwinden müssen, wenn sie nicht von einem der Bobbys eine Tracht Prügel beziehen wollten. Sie hatten in diesem Viertel eigentlich nichts verloren und in diesen Zeiten waren mehr Polizisten auf den Strassen, als üblich. Zumindest in manchen Vierteln.

Als ob ich da noch irgendwas dreckiger machen könnte... deine feinen Herrschaften werden dich so oder so kein zweites Mal anschauen, Schwester. Und jetzt zurück an die Arbeit, eh? scherzte Eddy diesmal und schubste seine Schwester lachend zurück zu dem kleinen Wagen, den sie schnellmöglichst in ihr Viertel zurück schleppen würden. Das Mädchen, das eigentlich Hannah hieß, aber von ihrem Bruder schlicht Annie gerufen wurde, verbrachte die nächste halbe Stunde damit, schweigend neben ihrem älteren Bruder herzugehen, während dieser bis ins Detail den Plan erläuterte, wie sie am Nachmittag und Abend die Feiernden, die Betrunken und die sonstigen Unaufmerksamen bestehlen wollten. Sie quittierte es lediglich ab und zu mit einem "Hm" oder "M-hm".

Vielleicht sollte sie wirklich ins Geschäft einsteigen, dachte sie bei sich. Sicher, Eddy versuchte sie genau davor zu bewahren. Auch ihrer Schwester würde es nicht so wirklich gefallen - und das obwohl sie selbst in Whitechapel die Männer bediente. Aber Hannah war Gesund - zumindest einigermaßen - und sie war eine junge Frau. Unverbraucht. Und hübsch. Zumindest behaupteten das ein paar Leute, wo sie an Wochenenden arbeitete - im Theater - und sie wollte ihnen glauben. Sicher könnte sie ein paar Schilling in der Woche verdienen und das Leben für sich und ihren Bruder, vielleicht sogar für ihre Schwester mit aufbessern? Vielleicht nur für ein Weilchen, sie könnte sich etwas zusammensparen... Aber der Gedanke, sich irgendwelchen unbekannten, abstoßenden Männern hinzugeben, die sonstwas von ihr verlangen mochten, lies sie erschaudern. Das und die grausamen Taten, von denen man sich in letzter Zeit erzählte.

Sie schob den Gedanken beiseite, konzentrierte sich darauf alles von dem Wagen abzuladen, während ihr Bruder das Geld einstrich, von dem sie sich Essen kaufen mussten. Sie waren in der Zwischenzeit bei Mr. Blythe angekommen, dem Schrotthändler von Spitalfields. Dieser Kerl war genau die Sorte von Mann, vor der sie sich ekelte, aber von der sie wußte, dass sie am ehesten zu den Kunden gehören würden, würde sie ins Gewerbe einsteigen. Sie schürzte die Lippen und sah weg, als er zu ihr herüber sah. Der Kerl hatte keine Ahnung, dass "Henry" - wie er sie kannte - in Wirklichkeit ein Mädchen war, aber dennoch war sein Blick lüstern, wenn er zu ihr herüber sah. Jedesmal. Und es trieb Hannah die Galle hoch.

Sie war froh, dass sie schnell von ihm wegkamen. Die Ausbeute war überaus schlecht gewesen, Eddy war aufgeregt und erieferte sich, weil sie lieber Zeit damit verbrachte, in Schaufenster zu starren und sie damit die Schuld hätte, dass sie lediglich 12 Pence bekommen hatten. Das würde nichteinmal über das kommende Wochenende hinweg reichen. Aber Hannah war es egal. Wieder hörte sie sich die Vorwürfe ihres Bruders an, verdrehte bestenfalls die Augen, bis sie schließlich das Viertel des Schrotthändlers verlassen hatten. Dann verabschiedete sich Hannah und machte sich duch den Novemberregen auf den Weg zu ihrer Schwester.

Hannah war gerne mit ihrer Schwester unterwegs - zumindest, wenn sie nicht irgendwelche Kunden empfing oder ihren dämlichen, früheren Verlobten traf. Im Gegensatz zu ihrem griesgrämigen Bruder Eddy, nahm Mary Jane, die älteste Schwester, Hannah oft mit in einen nahegelegenen Pub, wo sie zusammen Gin, Branntwein, oder Bier tranken, gelegentlich etwas zu essen bekamen und sich aufwärmen konnten. Und da heute Feiertag war würde es sicher eine längere Tour werden. Hannah hatte vor, sich ein wenig bei den feinen Herren, die zum Feiern hier auftauchten, zu bedienen. Sicher würden sie den ein oder anderen Pence oder gar Schilling nicht vermissen. Und selbst wenn sie sich nicht betranken und feucht-fröhliche Lieder sangen um ihre Armut zu vergessen, konnte Mary Jane sie begeistern. Im Gegensatz zu Hannah war Mary Jane noch zu einer richtigen Schule gegangen und die Dinge, die sie erzählen konnte - ganz ähnlich manchen Dingen, die Hannah im Theater hörte, wo sie an den Wochenenden arbeitete - waren faszinierend.

Zumindest lies es für ein paar leichte Stunden lang die Sorgen des Rests der Woche vergessen. Sehr viel weiter in die Zukunft konnte man ohnehin kaum blicken. Das Leben in den Elendsvierteln Londons war alles andere als einfach, unbeschwert und sorgenfrei.

Doch als Hannah etwas später schließlich an den verarmten Anwohnern vorbei in die Dorset Street einbog, spürte sie, dass etwas nicht stimmte - und es waren definitiv nicht die üblichen Sorgen. Es waren zuviele fremde Leute hier um diese Uhrzeit. Es war gerade halb 12, noch nichteinmal Mittag. War es möglich, dass schon wieder jemand getötet worden war? Gerade HIER in dieser Straße? Morbide Neugier trieb das Mädchen zu schnelleren Schritten, doch als sie auf den Platz am Ende der Dorset kam - Miller's Court - wich die Neugier einer fürchterlichen Erkenntnis...

Polizei, Leute, die sie nicht einordnen konnte, sowie Nachbarn standen um die Adresse, die sie selbst aufsuchen wollte! Sie waren bei dem Zimmer ihrer Schwester! Beinahe panisch drängte sich das Mädchen zwischen den Leuten hindurch nach vorne. Sie wollte nach Mary Jane rufen, doch der sich ausbreitende Knoten in ihrem Hals erstickte jeden Versuch.

Und dann kam sie tatsächlich in die vorderste Reihe und ihr Blick ging vorbei an den Uniformierten. Vorbei an den anderen Leuten, die dort standen. Er fiel durch die offen stehende Tür in das Zimmer, das ihrer Schwester Heimat bot. Wie eine Reihe von Bildern nahm ihr Geist den Anblick auf, der sich dort drinnen bot. Ein entstellter Körper. Rotblondes Haar, wie das ihrer Mutter, ihres Bruders... und ihrer Schwester. Und überall Blut. Dann schloß jemand die Tür zu dem Zimmer.

Hannah fühlte sich, als würde sich eine eiskalte Zange um ihr Herz schließen. Sie konnte den Blick nicht von der nun geschlossenen Tür abwenden. Tränen schossen in die eisblauen Augen des Mädchens. Das konnte nicht wahr sein. Unmöglich! Nicht ihre eigene Schwester? Sie bekam es kaum mit, wie sie von einem der Polizisten einfach zur Seite gedrängt wurde. Niemand beachtete diesen seltsamen Jungen überhaupt weiter. Das neueste Mordopfer von Jack the Ripper war weitaus interessanter.

Out of Character
Es ist nicht besonders gut geschrieben, denke ich. Zuviel diffusie Informationen möglicherweise, die unnötig gewesen wären, dafür fehlen ein paar Dinge, die sich zwar in meinem Kopf finden, die ich aber irgendwie nicht zu "Papier" bringen kann. Wie dem auch sei, Meinungen akzeptiere ich hierzu dennoch gerne.

Man mag es als Traum von Hannah ansehen oder auch einfach nur als "Unterhaltung" und Hintergrund zu einem Charakter. Ich habe vor noch ein paar weitere Episoden dieser Art zu Hannah zu schreiben.

Mary Jane Kelly war tatsächlich das fünfte und letzte offiziell "anerkannte" Opfer von Jack the Ripper.
 
[Mai 1889]Whitechapel, London...

Es brauchte Tage, bis sich das Mädchen von dem Schock erholt hatte. Sie hatte nichteinmal mehr ihren Bruder gesehen in der Zeit, sondern sich vollkommen zurückgezogen. Es war ihr alles so sinnlos erschienen. Die Presse bauschte den ganzen, neuerlichen Mordfall natürlich fürchterlich auf und es wurden allerlei Lügengeschichten über Mary Jane Kelly geschrieben. "Beste Freunde" und "enge Verwandte" sprossen aus allen Ecken hervor, in der Hoffnung etwas von dem Ruhm - und sicher den ein oder anderen Schilling für exklusive Informationen - zu ergattern. Und es machte Hannah förmlich krank.

Nicht eine dieser Personen war beim Begräbnis ihrer Schwester. Eddy, Hannah und Lizzie Albrook - die einzige wirkliche Freundin ihrer Schwester - waren allein - abgesehen von einem angetrunkenen Priester, Mary Janes ignoranten ehemaligen Verlobten - für den das Ganze eher eine Pflichtveranstaltung war - und dem ehemaligen Vermieter ihres Zimmers, der hoffte noch etwas Geld aus möglichen Familienangehörigen pressen zu können. Ein Gesandter der Stadt platzte viel zu spät noch in das ohnehin kurze Begräbnis um seine Pflicht zu erfüllen und zu versichern, dass man selbstverständlich alles Mögliche täte um den Fall aufzuklären und darüberhinaus natürlich auch sein Beileid auszusprechen. Die Falschheit seiner Worte waren selbst in Hannahs Trauer deutlich zu hören gewesen.

Zu dem Zeitpunkt war Hannahs Entschluß bereits fest gestanden... sie würde den Mörder ihrer Schwester selbst suchen - und ihm dasselbe Schicksal angedeihen lassen. So stand Hannah Kelly einen Monat später in denselben Straßen, bot sich selbst fremden Männern an und stellte vielen Leuten unangenehme Fragen. Manchmal brachte sie sogar die Polizei in unangenehme Situationen, weil sie ihnen Fehler aufzeigte und ihr mangelndes Interesse ebenso anprangerte, wie die vernachlässigte Sicherheit und Sorgfalt, wenn es um die Armutsviertel von Londons East End ging. Dieser kleine, irische Dickkopf war alles andere als auf den Mund gefallen.

Obwohl Morde in den Elendsvierteln Londons nichts wirklich außergewöhnliches waren, gab es keine Taten, die denen Jack the Rippers gleich kamen oder an Grausamkeit und Brutalität ähnelten. So wurde der Fall Jack the Ripper recht schnell wieder geschlossen, auch wenn der Name des Mörders sich in die Erinnerung aller eingebrannt hatte. Die Opfer selbst hingegen waren schnell vergessen. Es war vorbei - nur nicht für Hannah Kelly, die jüngere Schwester des letzten Opfers. Es verging einige Zeit, ohne dass sie überhaupt irgendwelche Erfolge hätte aufweisen können - ausser, dass sie den Behörden und manchen oberen Schichten, sowie unzähligen anderen Leuten aus ihren eigenen Vierteln auf die Füße getreten war. Sie hatte sogar einen Angriff auf ihr Leben von einigen angeheuerten Schlägern überstanden, indem sie ihnen in den engen Gassen von Spitalfields und Whitechapel davongelaufen war. Aber bei dieser 'Gelegenheit' war es schließlich gewesen, dass sie zum ersten Mal den Mann sah, den sie für Jack the Ripper halten würde.

Die zwei Schläger hatten der fast Siebzehnjährigen außerhalb des Five Bell Pubs aufgelauert und sich sicherlich eine gehörige Portion Spaß versprochen, bevor sie dem Mädchen die Abreibung verpassen würden, für die sie angeheuert wurden. Sie warfen ihr rüde Sprüche zu, verhöhnten ihre verzweifelten Versuche, sich zu befreien und erklärten feierlich, was sie mit ihr zu tun gedachten. Angetrunken, wie sie waren, hielt gröbere der Beiden sie schließlich fest, während der Zweite im Begriff stand, sie ihrer Kleidung zu entledigen und wirklich endlich seinen Spaß mit ihr zu haben. In dem Augenblick jedoch trat das Mädchen mit aller Kraft zu und schaffte es so tatsächlich, sich aus dem stählernen Griff des Zweiten zu befreien, der dank des Alkohols und seiner eigenen Überraschung nicht schnell genug reagieren konnte. Und so lief sie blindlings los in die Dunkelheit von East End.

Wütend darüber, dass sie von einer "Kleinen Schlampe" ausgetrickst worden waren, folgten die Beiden ihr natürlich und hätten sie einige Male sogar um ein Haar erwischt, wenn sie nicht klein genug gewesen wäre, sich durch den engen Spalt einer Mauer zu quetschen oder unter einigen gestapelten Kisten hindurchzukriechen. Aber ihre Verfolger waren, so in ihrem Stolz gekränkt, nicht minder hartnäckig. Natürlich dauerte es nicht allzulange, bis sie völlig ausser Atem eine falsche Abzweigung genommen hatte und in der Falle saß. Panische Angst hatte sie zu schier unmöglichem getrieben - aber letztlich einen unverzeihlichen Fehler begehen lassen.

Hannah versteckte sich hinter einigen Fässern, versuchte nicht zu laut zu atmen und klammerte sich an ihr schartiges Messer, mit dem sie sich verteidigen wollte. Die schweren Schritte und der heftige Atem ihrer Verfolger war deutlich in der engen, dunklen Gasse zu hören. Ebenso, wie ihre Rufe.

Komm, Püppchen, wir wissen, dass du da bist. Du sitzt in der Falle, mach's dir selbst nicht noch schwerer, eh? Kannst noch ein wenig Spaß haben, bevor's vorbei ist, Püppchen.

Herbes Lachen folgte und Hannah schloß die Augen um ihre Angst hinunterzukämpfen. Doch dann hörte sie plötzlich die schnellen Schritte der beiden Schläger, die sich entfernten und nach kurzem in der Nacht verklungen waren. Es dauerte einige Augenblicke, bis Hannah das allerdings wirklich realisierte und es wagte, aus ihrem Versteck hervorzusehen. Langsam hob sich ihr Kopf über das Fass und was sie sah, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Die Gasse war leer.

Das Mädchen schluckte schwer, erhob sich mit zitternd und ging mit unsicheren, ja, zögerlichen Schritten zum Eingang der Gasse - der Falle, in die sie sich selbst manövriert hatte. Sie erwartete, dass die beiden Schläger sie gleich anspringen würden, sobald sie um die Ecke schauen würde und sie ihrem Schicksal dann doch nicht wieder entkommen konnte, also umklammerte sie das Messer noch fester, biss auf ihre Unterlippe und spähte ängstlich um die Ecke. Nichts. Ihr Kopf fuhr herum, spähte in die andere Richtung, doch auch da konnte sie außer dem gelegentlichen Lichtschein einer Laterne nichts mehr sehen.

Ihr war nicht bewußt gewesen, dass sie den Atem angehalten hatte, aber jetzt, als sie den Atem erleichtert und hörbar ausstieß, gierig wieder Luft in ihre brennenden Lungen sog, tanzten Farben vor ihren Augen. Hannah sank gegen die Wand und rutschte daran hinunter, hätte am liebsten vor Erleichterung geweint oder geschrien, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Stattdessen atmete sie schlicht einige Male tief durch und wollte sich eben aufraffen, als ein gedämpftes Stöhnen an ihre Ohren drang. Wieder hielt sie inne, wie ein aufgeschrecktes Tier im Wald, das einen verräterischen Laut gehört hatte. Waren die Schläger doch noch da? Nein, das hatte anders geklungen. Wieder schluckte sie heftig in dem Versuch, den gebildeten Knoten in ihrem Hals aufzulösen und ging geduckt die enge Strasse entlang in der Richtung, aus der sie das Geräusch zu hören geglaubt hatte. Erneut war das Stöhnen zu hören, diesmal deutlicher und wieder erreichte sie eine Ecke, schwach flackerte Licht aus der Richtung und sie wagte es, ihren Kopf langsam um den kalten, feuchten Stein zu schieben. Sie erstarrte vor Schreck und ihre Augen weiteten sich.

Eine Straßendirne mit halb geschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund befand sich in den Armen eines gut gekleideten Mannes. Er war groß gewachsen und kräftig gebaut, mit einem langem, dunklen Regenmantel und langen, zu einem Zopf gebundenen, dunklen Haaren, doch sehr viel mehr als das konnte Hannah nicht erkennen, da er mit dem Rücken zu ihr stand. Doch was sie erkannte, war der blutige Hals der Dirne, von dem sich gerade der Kopf des Mannes entfernte. Das war er, das mußte er sein! Der Dämon, das Monster... Jack the Ripper forderte doch wieder ein Opfer.

Hannah fiel nicht auf, dass die Dirne sich in Extase an den Fremden klammerte und keineswegs Schmerzen empfand, sie sah nur das Blut und die schrecklichen Bilder von jenem Morgen im November schwappten über ihren Geist. Sie keuchte, verriet sich dadurch, was den Mann zu ihr herumfahren lies. Sie sah Zähne wie die eines Raubtiers, lang, spitz, blutbefleckt und ohne jeden Zweifel in der Lage ihre Kehle in Sekundenschnelle zu zerfetzen! Jegliche Entschlossenheit verlies sie augenblicklich.

Das Klirren ihres Messers auf dem Kopfsteinpflaster war noch nicht verklungen, als sie im vollen, panischen Lauf bereits um die nächste Ecke gebogen war. Ein Dämon suchte diese Straßen heim und sicher würde sie sein nächstes Opfer sein. Wo nur würde sie vor so einem Monster sicher sein?
 
AW: [09.11.1888]Whitechapel, London...

Das Mädchen war völlig ausser Atem und er konnte es ohne Mühe selbst zwei Gassen entfernt noch hören. Jeder seiner Schritte brachte ihn näher an die Zeugin heran, aber was sollte er tun, wenn er sie erreicht hatte? Sie müsste sterben, wenn er sie nicht anderweitig zum schweigen würde bringen können. So war das Gesetz der Nacht.

Inzwischen konnte er sie unter sich laufen sehen, seine weiten Schritte und gelegentlichen Sprünge machten ihn erheblich schneller als das Mädchen auf dem Kopfsteinpflaster. Zwar konnte sie seine Schritte hören, ihr Kopf ruckte immer wieder herum, aber sie sah ihn nicht. Natürlich nicht. Er war hoch über ihr - auf den Dächern der Häuser.

An einer schwach beleuchteten Straßenecke blieb sie stehen und spähte in die Dunkelheit hinter sich. Sie zitterte vor Anstrengung und Angst und ihre Atmung war rasend schnell. Er konnte es hören, sogar förmlich riechen. Mit unmenschlicher Kraft sprang er von seiner Position ab und konnte gerade noch einen Blick auf das verwirrte Gesicht der jungen Frau werfen, als sie das flattern von Stoff wahrnahm. Dann war er auch schon direkt hinter ihr auf dem Kopfsteinpflaster gelandet. Sie schaffte es gerade noch, sich umzudrehen, als sein stählerner Griff sie am Hals packte und völlig mühelos vom Boden hob, sie mit drei schnellen Schritten aus dem schwachen Lichtkegel heraustrug.

Die junge Frau - in seinen Augen eigentlich kaum mehr als ein Kind - versuchte verzweifelt seinen Griff zu lösen, aber selbst die kräftigsten Männer hätten das nicht geschafft. Dann begann sie zu kratzen und zu beissen, aber sie schrie nicht. Der Jäger sah sie an. War es Verzweiflung, das sie dazu trieb? Nein. In ihren Augen las er neben ihrer offensichtlchen Angst auch etwas anderes: Wut und Trotz. Er zögerte. Würde er sie wirklich töten können?

Nein. Er mußte unwillkürlich lächeln.

-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Hannah wollte zunächst durchaus schreien, aber als er sie am Hals empor gehoben hatte, war ihr die Luft weggeblieben und alles, was sie hervorbrachte, war ein stöhnender Laut. Sicher würde er ihr gleich die Kehle durchschneiden und ihr dasselbe antun, wie der armen Dirne vor einigen Minuten, wie ihrer Schwester vor gut einem halben Jahr. Da packte sie die Wut, all ihr Zorn und ihre Verzweiflung, ihr Kummer und ihr Hass auf das Monster entluden sich und sie schlug nach ihm, kratzte an seinem Arm und versuchte in seine Hand zu beissen. Doch es war umsonst. Seine Lippen weiteten sich und sicher würde er ihr gleich mit seinen monströsen Reisszähnen die Kehle aufreissen... doch da waren gar keine spitzen Raubtierzähne.

Hannah erstarrte, das warme Lächeln des Fremden verwirrte sie sogar so sehr, dass ihr Widerstand völlig gebrochen war. Was sollte das? Sollte er sie nicht jetzt auf bestialische Weise töten? Sie konnte Boden unter ihren Füßen spüren, als er sie absetzte, aber ihre weiche Knie gaben augenblicklich nach und sie fiel nach hinten. Ihr Kopf schlug hart auf und es wurde schwarz um sie herum.
 
AW: [09.11.1888]Whitechapel, London...

Nur langsam - beinahe Widerstrebend - klärte sich die Dunkelheit. Hannahs Kopf fühlte sich schwer an und die Beule an ihrem Hinterkopf pulsierte förmlich, schmerzenden Wellen gleich, die an ihren Verstand brandeten. Sie lag auf etwas Weichem und warmem... lag sie im Bett?

Der Impuls ihre Augen zu öffnen erwies sich als eine schlechte Idee, selbst das düstere Licht in dem Raum bereitete ihr Schmerzen. Sie kniff die Augen schnell wieder zusammen und stieß ein leichtes Stöhnen aus. War sie zuhause? Hatte sie das alles nur geträumt, nachdem sie versucht hatte durch Alkohol ihrem Kummer und ihrem Zorn zu entfliehen? Es war ihr doch so real erschienen. Es dauerte einige Minuten, während denen sie immer wieder kurz blinzelte, bis ihre Augen an das Licht angepasst waren, die Schmerzen nachgelassen hatten und sie begann ihre Umgebung leicht verschwommen wahrzunehmen. Ihr verwirrter Geist brauchte noch einige Augenblicke um zu realisieren, dass sie mitnichten Zuhause, dies keineswegs ihr eigenes Bett und sie nicht allein war! In einem Anflug von Panik schreckte Hannah hoch, richtete sich auf, bereute es allerdings beinahe Augenblicklich. Sie fühlte sie sich, als würde sie fallen, als würde sich alles um sie herum rasend schnell drehen und ihr wurde übel. Eine schnelle Bewegung von der Seite, die sie allerdings kaum noch wahrnahm, hielt ihr einen Eimer vor, als sie sich tatsächlich sogar übergeben mußte. Sie fühlte sich elend.

Du bist hart aufgeschlagen, Kind. Nur langsam... erklang eine tiefe aber freundliche Stimme und das Mädchen konnte fühlen, wie ihre Haare sanft zur Seite genommen wurden, um sie hinter ihrem Kopf zusammen zu halten, damit sie ihr nicht ins Gesicht - und damit in den Eimer hängen würden, über den sie würgend gebeugt war. So langsam kam sie immer mehr zu sich, sie vermochte sogar neben dem schmerzenden Pochen in ihrem Kopf soetwas wie Scham darüber zu empfinden, bei jemand Wildfremdem im Haus zu sein, und dann auch noch in dieser peinlichen Position. Es trug nicht gerade dazu bei, sich besser zu fühlen.

Es betrat noch eine weitere Person den Raum, als der Mann, zu dem die Stimme offenbar gehörte, Hannahs Kopf wieder auf das Bett bugsierte und den Eimer an die zweite Person - offensichtlich eine Bedienstete - weiterreichte. Mit gewissem Schrecken erkannte sie ihn - trotz der leicht verschwommenen Sicht - als den Mann, von dem sie geträumt hatte... oder... offensichtlich war das alles wohl doch kein Traum gewesen? Da war wieder sein beinahe warmes Lächeln und es war kein Stück weniger verwirrend, als beim ersten Mal.

Danke, Victoria. Bringen sie das weg. hörte sie ihn sagen, woraufhin wohl die Angesprochene das Zimmer eilig wieder verlies. Ein weiterer Schwindelanfall sorgte dafür, dass sich Hannah zurücklehnen mußte. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, dass er irgendetwas mit seinen Händen tat und dann offenbar einen dampfenden Becher an ihre Lippen führte. Es roch verführerisch nach Tee und... etwas Anderem, das sie nicht identifizieren konnte, aber was wohl irgendwelche reichen Leute in ihrem Tee beimischten konnte sie sich ohnehin nicht vorstellen. Wieder sprach der Mann.

Das wird helfen und du wirst dich sicher etwas besser fühlen. Trink nur, ich werde dir ein wenig helfen...

Sie konnte aus seiner Stimme heraushören, dass er schmunzelte. Machte sich der Kerl etwa lustig? Sie war keineswegs hilflos - redete sie sich zumindest ein und griff schwach nach dem Becher. Als sie ihn in ihren eigenen Händen hielt, versuchte Hannah von dem Tee zu nippen, der Geruch war wirklich nahezu unwiderstehlich, und natürlich verbrühte sie sich die Lippen. Sofort kam ein Fluch über ihre Lippen, was ein amüsiertes, leises Lachen ihres Gastgebers nach sich zog, was ihren Ärger nur noch mehr auf sich zog.

Willst du mich umbringen oder was?! fuhr sie den Fremden an, vermied es dabei aber, sich zu ihm zu drehen. Sicher würde es ihr sofort wieder schwindelig werden, wenn sie sich zu schnell bewegte. Außerdem wäre es sicher keine gute Idee gewesen, dadurch den heißen - und leckeren - Tee über sich selbst zu giessen. Ihre Stimme trug weit weniger Verachtung mit sich, als sie sich gewünscht hätte.

Wieder lachte er, diesmal etwas lauter. Trotzig nahm sie darauf einen großen Schluck von dem Tee, der fremdartig schmeckte, aber besser, als alles, was sie kannte. Langsam drehte sie den Kopf zu dem Mann und musterte ihn, so gut es ging. Er war nicht besonders alt, vielleicht 30 Jahre - und attraktiv, zumindest soweit sie das beurteilen konnte. Er hatte dunkles Haar und es war sicher so lange wie ihr Eigenes. Der Mann schien schlank zu sein und sie erinnerte sich an seine Erscheinung in der Gasse. Er war schneller als irgendjemand, den sie sonst in ihrem Leben gesehen hatte und hatte die Kraft eines Ochsen! Langsam sickerte die Erkenntnis wieder in ihren Geist. Sie saß hier mit einem Teufel und er verhöhnte sie - und sie närrische Kuh trank von seinem Gift. Plötzlich von blankem Entsetzen ergriffen schleuderte sie den Becher von sich und versuchte, sich aufzuraffen. Sie mußte fliehen, fort, vielleicht könnte sie ihn... sie erstarrte und sah den Teufel ungläubig an.

Sie blinzelte mehrfach, doch es gab keinen Zweifel, ihre Sicht war beinahe wieder vollständig aufgeklart. Aber es war schlicht unmöglich, was sie gesehen hatte... er hatte sich bewegt, als sie den Becher geworfen hatte. Hatte er ihre Gedanken erraten oder gar gelesen? Er hatte offenbar den Becher mit der Hand gefangen und der großteil des Tees fand sich danach sogar wieder in dem Gefäß. Sie hatte die Bewegung selbst nichteinmal wirklich gesehen. Und bevor sie sich hatte aufrappeln können oder auch nur ein einzges Mal geblinzelt hatte, saß er auf dem Rand des Betts und sah sie mit einem tadelnden Blick an, wie ein Vater sein unartiges Kind oder ein Lehrer einen aufmüpfigen Schüler.

Ganz ruhig. Das ist nur Tee. Ich möchte dir wirklich kein Leid zufügen. Du solltest das trinken, damit du wieder auf die Beine kommst.

Hannahs Herz setzte einen Augenblick aus, dann realisierte sie so langsam, was geschehen war. Mit offenem Mund starrte sie ihn an, als er ihr wortlos die Tasse wieder vor die Nase hielt. Ja, sie war verloren, das würde ihr Ende sein, sie hatte mit Sicherheit nicht die geringste Chance hier jemals wieder lebend herauszukommen. Sie saß sowas von in der Scheiße. Aber sie würde den Teufel tun und um Gnade betteln oder soetwas. So schnell er auch sein mochte, sie würde sich teuer verkaufen!

Als das Mädchen den Becher etwas zögerlich wieder entgegen nahm, zeigte sich wieder das Lächeln auf seinem Gesicht und mit einem leichten Schauer ertappte Hannah sich, dass sie sein Lächeln sympathisch fand... und es erwiederte.
 
Zurück
Oben Unten