AW: Sind Spiele ohne Spielleiter Rollenspiele?
Streg genommen findet Rollenspiel ohne dass sich irgendeiner der Mitspieler in einer SL-Rolle befindet nicht statt.
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Insofern: SL-lose Rollenspiele gibt es nicht.
So sehe ich das auch.
Die Funktionen, die ein Spielleiter bei der traditionelle Rollen- und Aufgabenverteilung zwischen Spielern und Spielleiter übernimmt, MÜSSEN irgendwie abgedeckt sein, damit überhaupt so etwas wie das Spielen von Charakteren usw. möglich ist.
Diese Funktionen können auch von z.B. Zufallstabellen, Konsensentscheidungen der Spieler, Abstimm-Mechanismen, Resourcen-Einsatz, und was es noch so alles an regeltechnischen Mitteln gibt, bestimmte dieser Funktionen anderweitig umzusetze, als daß sich ein Spielleiter dediziert mit diesen befaßt.
Was so als "spielleiterlose" Spiele im Rollenspielumfeld präsentiert wird, sind in Wirklichkeit SPIELERLOSE Spiele, weil es Spiele sind, in denen JEDER ein Spielleiter ist, und wo es nur Regeln gibt, wie sehr sich der eine Spielleiter gegen die anderen Spielleiter durchsetzen kann.
Spielleiterlose Spiele gibt natürlich. Die meisten Brett- und Kartenspiele funktionieren bestens ohne Spielleiter. - Das liegt daran, daß die Regeln die gleichmäßige Beteiligungsmöglichkeit aller Spielenden steuern und daß die Regeln für die Entscheidungsfindung Mechanismen (mit gewisser verpflichtender Anwendung!) enthalten.
Hier ist es schon von Interesse ein wenig zu beleuchten, WARUM denn nun Brettspiele (auch solche mit "rollenspielverwandten" Inhalten wie Talisman, WoW-Brettspiel, Mystic Path, usw.) beim Spielen eben NICHT WIE ROLLENSPIELE wirken.
Was macht denn das ROLLENSPIEL-Spielgefühl aus, welches sich selbst bei einer simplen Risus-Runde sofort einstellt, und was bei umfangreichen, prachtvoll ausgestatten "rollenspielnahen" Brettspielen ausbleibt?
Spiele ohne Spielleiter sind Brettspiele (oder Kartenspiele oder andere Spielformen, die ganz entschieden KEINE Rollenspiele sind), weil bei diesen Spielformen KEIN ROLLENSPIEL betrieben werden kann.
Man kann nur mehr oder weniger aufgesetzt wirkende "in character"-Einlagen geben, doch sind dies nur schwache Schatten des Charakterspiels in einer Rollenspielrunde. Schatten, die eine gewisse Traurigkeit vermitteln, wenn man die innerlich berührende ECHTHEIT des Rollenspielerlebens dagegen hält.
Die Frage "Sind Spiele ohne Spielleiter Rollenspiele" läßt sich ja schon mit Brettspielen ohne Spielleiter klar beantworten: Nein, es sind ANDERE Spielformen.
Es wurde ja schon mehrfach darauf hingewiesen, daß Spiele, die sich unter dem irreführenden Etikett "spielleiterlose Rollenspiele" präsentieren, eigentlich Spiele sind, in denen JEDER Mitspielende ein SPIELLEITER ist. - Es gibt hier KEINE "Nur-Spieler" in solchen Spielformen.
Und damit nähert man sich dem eigentlichen Schlüssel zur Beantwortung der eigentlich gemeinten Frage "Sind 'Rollenspiele' ohne die Trennung in Spielleiter und Spieler überhaupt Rollenspiele?"
Rollenspiele, die sich "spielleiterlos" nennen sind Rollenspiele.
Das ist leider NICHT zutreffend.
Es handelt sich viel eher um "Brettspiele ohne Brett" als um etwas, was auch nur annähernd ein Rollenspiel sein mag.
An sich ist dies eine VÖLLIG EIGENSTÄNDIGE Spielform.
Sie steht zwischen Brettspiel (daher auch das "brettspielige" Spielgefühl z.B. bei Western City, wo der Hauptteil der Spielzeit mit reinem Meta-Gaming verbracht wird und das auf einer Ebene, für die eine rollenspielig-thematische "In-Game"-Handlung völlig sekundär ist) und "Rollenspiel nur für Spielleiter".
Viele Rollenspiele habe ja diese SOLO-"Mini-Games" eingebaut, die z.B. die Erschaffung von Sonnensystemen, oder Städten, oder Wildnis-Regionen per Zufallstabellen und anderer NUR für den Spielleiter zwischen den Spielsitzungen anzuwendend gedachter Mechanismen zum Gegenstand haben. Was konnte man nicht bei Traveller "allein mit sich" als Spielleiter "Gott" spielen und Sonnensysteme, Welten, Raumschiffe, Flora-und-Fauna-Bestückung der Welten, Charakter, usw. erschaffen - OHNE daß dazu andere Spieler nötig wären.
Andere Rollenspiele haben manche dieser Mini-Games in die Hände der "empowerten" Spieler gelegt. So kann und MUSS man bei vielen Spielen als Spieler auch das Setting mitgestalten. Die "Ermächtigung" der Spieler sieht hier eine Übertragung der Funktion des Settingentwicklers vom Spielleiter auf die Spieler vor.
Diese "Spieler-Ermächtigung" hebt die "klassische" Aufgabenverteilung auf, und das führt zu einem geschwächten Profil als Rollenspiel.
Wenn nun ALLE in einer Spielenden-Gruppe GLEICHERMASSEN und gegeneinander ALLE diese SL-Only-Mini-Games betreiben, dann hat man ein Spiel zum Weltenbau, zum Dungeon-Bau, usw. - Diese Spiele ähneln Brettspielen der Bauspiel-Richtung. Alle bauen an etwas herum, der einzelne Spieler kann sich in manchen Bereichen anderen gegenüber durchsetzen - das Wie wird in den Regeln geregelt.
Damit bekommt man aber KEIN Rollenspiel.
Dann werden Charaktere eingeführt. - Jeder der gleichberechtigten Spielleiter/Spielenden darf wichtige (im eigentlichen Rollenspiel SCs) und unwichtige (im eigentlichen Rollenspiel NSCs) Charakter BAUEN. - Auch hier hat man ein kompetitives Bauspiel.
Nun hat man ein Setting, eine Welt, an der alle irgendwie gemeinsam gebaut haben. Und man hat Bewohner dieser Welt gebaut. Und man hat immer noch KEIN Rollenspiel.
Dann läßt man die gebauten Charaktere innerhalb der gebauten Kulissen agieren. - Ein wenig wie "Die Sims". - Und weil so etwas aber am Rechner noch interessanter anzuschauen ist als ein Bildschirmschoner, jedoch am Spieltisch völlig uninteressant ist, braucht man noch einen ANTRIEB für diese gebauten Charaktere in den gebauten Kulissen.
Dieser Antrieb wird je nach "spielleiterlosem Rollenspiel" unterschiedlich geschaffen. Bei Western City hat ein Spieler die Möglichkeit einen "favorisierten Spielstein", einen "Spielercharakter" zu führen, bei dem er etwas mehr Rechte an dem, was andere mit diesem tun mögen, haben kann. - Alle jedoch BAUEN sich die Meilensteine einer "Geschichte" (nicht wirklich, aber so eine Art "Haltestelle" in einem Themenpark-Zug). Und dann versuchen die Spieler mittels des Zugriffs auf alle Spielsteine und der vorgegebenen Haltestellen irgendwie "den Plot abzufahren", indem sie "Szenen" BAUEN. Diese werden aus den Kulissen, den Charakteren und dem was die Charaktere dort erreichen sollen, zusammengebaut.
Bis hier hin findet noch immer KEIN ROLLENSPIEL statt.
Dann geht es in eine Szene hinein. - Und hier wird dann erstmals so etwas ähnliches wie Rollenspiel gespielt. Die Charaktere, die meist jemand anderes gebaut hat, und zu denen man NULL Bezug hat, werden wie die gesichtslosen Pöppel im Halma bewegt - nur eben via rollenspielartiger Regelmechanismen, mittels derer ein Spieler via eines Spielsteins sich gegen einen anderen Spielstein durchsetzen kann.
Das SIEHT manchmal schon ein wenig wie Rollenspiel aus. - Wie Rollenspiel in homöopathischer Verdünnung.
Nur: Es geht KEINEM Spieler für SEINEN Charakter um irgendetwas, was eine PERSÖNLICHE Bindung an das Schicksal des Charakters bedingt. - Diese "Charaktere" sind genauso losgelöst wie ein einzelner Halma-Pöppel. Es geht nur darum die gesetzten "Plot-Haltestellen" abzufahren und seine Resourcen geschickt einzusetzen. Dann erhält man eine "Geschichte". Oder das, was eine sehr eloquent geschriebene "Actual Play"-Berichterstattung im NACHHINEIN daraus machen kann. Wenn man aber mittendrin steckt, dann spielt es sich nicht anders wie jedes Brettspiel (und die "Geschichten" beim Junta-Brettspiel sind sogar persönlich berührender und "rollenspieliger" als alles, was ich an "spielleiterlosen Rollenspiel"-Erlebnissen gemacht habe - nur schreiben zu Brettspielrunden die Spieler meist keine umfangreichen "Dramatisierungen" auf.).
Nochmal den Punkt, der für mich das ENTSCHEIDENDE UNTERSCHEIDUNGSMERKMAL für Rollenspiel oder Nicht-Rollenspiel-sondern-was-anderes ist:
Bei einem Rollenspiel geht es einem SPIELER für SEINEN Charakter um irgendetwas, was eine PERSÖNLICHE Bindung an das Schicksal des Charakters bedingt.
Man sagt salopp, man spiele eh immer nur sich selbst.
Das ist einerseits wahr, weil man mit allem, was man selbst im Moment zur Verfügung hat, das Spiel spielt - also auch mit allen eigenen Charakterzügen usw.
Das ist andererseits nicht wahr, weil man GERADE im Rollenspiel auch Charaktere und deren Charakterzüge gefahrlos ausprobieren kann, die man selbst NICHT und sogar wertemäßig NIE zeigen würde, oder man Charaktere spielen kann, die für einen unerreichbar fremdartige Denkweisen haben. Ja, all diese Aliens, oder Frauen, oder Zwerge, oder Toons werden natürlich mit der persönlichen "Filterung" dargeboten - so steckt indirekt schon ein wenig Persönliches in diesen Figuren, ABER man versucht mit diesen aktiv GEGEN die dem Spieler BEWUSSTEN eigenen Charaktereigenschaften. Das gehört auch zu den Stärken des Rollenspielhobbys.
So oder so spielt man also MIT oder GEGEN oder DURCH sich seinen Charakter.
Und daher ist es auch so wichtig, daß man sich VOLL dem Spielen des Charakters widmen kann - denn DAS ist die eigentliche ROLLE, die man hier spielt.
Und noch weitergehend: Die Spielwelt ist der Charakter des Spielleiters. Bei vorgefertigten Welten, also solchen, die mittels Publikationen unterstützt sind, und nicht vom Spielleiter selbst entwickelt wurden, kann man ja auch die PERSÖNLICHE Art diese Spielwelt auszuspielen feststellen. Zwei Spielleiter spielen dieselbe, identisch textuell beschriebene Spielwelt ANDERS.
Der Spieler WIDMET sich seinem Charakter.
Der Spielleiter WIDMET sich seiner Spielwelt.
Der Spieler spielt SEINEN Charakter.
Der Spielleiter spielt SEINE Spielwelt.
Das ist das FUNDAMENT des Rollenspielhobbys.
Wird ein Spieler nicht mehr in die Lage versetzt, sich wirklich SEINEM Charakter zu WIDMEN, dann schafft dies eine DISTANZ.
Der Spieler distanziert sich vom Charakter. Er bekommt zwangsläufig (und durch die Regeln zwangsweise) Abstand.
Damit spielt er den Charakter NICHT MEHR, sondern er BENUTZT ihn, er setzt ihn ein, wie einen Spielstein in einem Brettspiel.
Und genau das ist MEINE PERSÖNLICHE Erkenntnis, die ich aus solchen "spielleiterlosen Rollenspielen" gewonnen habe.
Der ABSTAND von Spieler und Charakter ist ähnlich groß wie bei Brettspielen. Es findet eher eine Konzentration auf das Spiel ÜBER den Charakteren statt, und das Einsetzen der Charaktere als nützlicher Spielsteine, als daß das Spielen DER Charaktere, also das ROLLENSPIELEN irgendeine Bedeutung hätte.
Ganz schrecklich: Bei Western City oder Universalis usw. können Szenen, wo man als Mitspielender eventuell so langsam sich in einen der Charaktere einzufühlen und somit einzuspielen beginnt, einfach durch krassen Meta-Gaming-Eingriff anderer Mitspielender ABGEWÜRGT werden. - Metagaming KILLT, wann immer einer der Spielenden es will, jeglichen Schatten aufkeimender Rollenspielartigkeit.
Das ist die Tragik.
Würden sich diese "spielleiterlosen Rollenspiele" als EIGENEN Spielform verstehen und präsentieren, dann gäbe es weit weniger Enttäuschungen von Spielern, die mit der Erwartung ein ROLLENSPIEL spielen zu können, in ein Brettspiel-Gameplay gezwungen werden.
Als eigenständige, neue Spielform sind solche Spiele wie Western City wirklich gelungen. - Nur sind es halt KEINE Rollenspiele.
Rollenspiele liegen nur dann vor, wenn ALLE Beteiligten ihre Rolle spielen können. Das setzt eine persönliche Bindung voraus. Eine Bindung, die man bei Charakterspiel als Spieler und bei Spielweltspiel als Spielleiter erhalten und ausleben kann. - Und BEIDES ist notwendig.
Eine Spielwelt unter "kollektivem Eigentum" ist wie ein x-beliebiger NSC-Fackelträger: sie wird BENUTZT, aber NICHT GESPIELT!
Zum Spielen einer Spielwelt kann es nur EINEN Spieler geben. Wie zum Spielen eines Charakters.
Abweichungen davon erzeugen DEFIZITE im Rollenspielen. Man kann dann nicht mehr voll ins Rollenspiel einsteigen, der Meta-Anteil wird immer stärker, die Rollen verblassen, werden zu Schatten, und man hat letztlich KEIN Rollenspiel mehr.
Daher kommend ist, hoffe ich, klar geworden, warum ich solche "spielleiterlosen Rollenspiele" KEINESFALLS für Rollenspiele halte.