1. Momentan sind die Attribute einfach nicht gleichwertig. Am schlimmsten ist Erscheinungsbild auf das so gut wie nie gewürfelt wird.
Da muss ich dir Recht geben, Erscheinungsbild ist tatsächlich ein Problemfall.
Aber auch Widerstand führt ein Schattenleben, deutlich hinter Körperkraft und weit, weit hinter Geschick.
Das sehe ich nicht ganz so, insbesondere weil Widerstand eine so große Rolle beim Einstecken von Schaden spielt.
Gerade bei Erscheinungsbild sollte man es sehr leicht über Vor- und Nachteile regeln können, ob jemand über- oder unterdurchschnittlich gut aussieht.
Wie gesagt ist Erscheinungsbild tatsächlich ein Problemkind; vielleicht auch deshalb, weil, wie man so schön sagt, die Schönheit im Auge des Betrachters liegt. Ich merke das immer, wenn ich nach Bildmaterial für NSCs suche und jemanden habe, der auf dem Papier Erscheinungsbild 4 oder gar 5 hat - wird die Person auf dem Bild auch von den Spielern als so attraktiv angesehen wie ich das bei der Bildauswahl empfunden habe (Spoiler: In zwei von drei Fällen nicht)? Der Wegfall von Erscheinungsbild als Attribut bedeutet aber gleichzeitig zunächst mal das Ende der bisherigen Clanschwäche der Nosferatu. Ich werte das an dieser Stelle nicht, ich stelle es nur mal fest.
Es gibt auch bereits zahlreiche körperliche, soziale und mentale Vor- und Nachteile, die leicht angepasst, dass für andere Attribute leisten können.
2. Die jetzige Reglung der Attribute verführt zu (ich würden meinen Spielern sogar sagen "verlangt") einen Powergameransatz bei der Charaktererschaffung: Ein Attribut bis zum Maximum hochknallen, die anderen später mit EP auf 2 steigern. Das führt zu von dir oben beschriebenen, extremen Charakterkonzepten, um die Verteilung zu begründen.
Dem widerspreche ich sehr vehement, einfach aus meiner bisherigen Erfahrung heraus. Im Gegenteil haben meine Spieler sich bislang eigentlich immer bemüht, die Werte einerseits so ausgeglichen wie möglich zu gestalten (wer will schon 'ne poplige 1 bei einem Attribut stehen haben? Und mit einer einzigen Ausnahme hat auch heute noch, nach einigen Jahren Spiel, keiner unserer Charaktere ein Attribut, das mehr als einen Punkt höher ist als die anderen Attribute der jeweiligen Kategorie; eine Kombi wie Körperkraft 1 - Widerstand 5 kommt bei uns nicht vor), andererseits aber die Werte auch weitgehend an das
bereits vorher existierende Charakterkonzept anzupassen, nicht umgekehrt, sprich: Es wird kein Konzept zusammengeschraubt, um irgendwelche tollen Werte zu erklären.
3. Es ist korrekt, dass nicht alle Charaktere genauso stark wie geschickt sein müssen und das es auch Menschen geben kann, bei dem sich das teilweise stark unterscheidet. Auf der anderen Seite ist es aber auch so, dass es nicht logisch ist, dass sich alle Attribute völlig unabhängig voneinander verhalten können. Was soll es bedeuten, dass ein Charakter Wahrnehmung & Intelligenz 1 aber Geisstesschärfe 4 hat?
Das würde ich dann mit dem Begriff "Bauernschläue" bezeichnen. An der Stelle finde ich die Trennung von Intelligenz und Geistesschärfe nämlich gar nicht schlecht. Intelligenz deckt für mich die klassische Allgemein- und Schulbildung ab. Geistesschärfe dagegen spiegelt mehr eine gewisse Cleverness im Alltag. Oder wie es im V20 GRW bei Intelligenz steht: "Gesunder Menschenverstand, Szenekenntnis und Weisheit gehören nicht zum Attribut Intelligenz; sie sind Facetten eines Charakters, die der Spieler ausspielt, keine Werte. Selbst der klügste Charakter kann zu vernagelt sein zu begreifen, dass die Schläger, die sich seine Autoschlüssel 'leihen' wollen, Böses im Schilde führen." Ich würde behaupten, das sind Dinge, die tatsächlich von Geistesschärfe abgedeckt werden.
Er würde blitzschnell reagieren können, sieht aber nie die Gefahr kommen und versteht auch nicht was er sieht (wenn er mal was bemerkt). Trotzdem sind mir für Kämpferkonzepte solche Charaktere begegnet, die hohe Initiative haben wollen.
Ich bin der Meinung - und bei uns am Spieltisch ist es fast schon ehernes Gesetz - dass die Erhöhung eines Wertes wenigstens ansatzweise eine Begründung im Spiel haben sollte und nicht in den Spielregeln. Wenn ich die Intelligenz meines Brujahs steigern möchte (ist noch nie vorgekommen, aber nehmen wir's mal an
), dann sollte er sich während des Spiels schon ein wenig mit Problemen auseinandergesetzt haben, die eher zerebrale Muskeln benötigen. Will ich Manipulation steigern, dann vielleicht deshalb, weil man sich nach 10 Jahren, in denen man mit einer Ventrue befreundet ist, schon den einen oder anderen Trick abschauen kann. Und wenn ich Seelenstärke erhöhe, dann hab ich sicher einige
wirklich häßliche Wunden abbekommen und einige richtig fiese Schmerzen erlitten und weiß deshalb mit solchem Schaden künftig anders umzugehen.
Wenn ich mir mein Charakterblatt anschaue, dann sehe ich da zunächst mal einen relativ archetypischen Brujah - hohe körperliche Attribute, leichte Defizite bei den geistigen Attributen. Man kennt das ja. Aber auf der anderen Seite... Empathie 4? Etikette 2? Finanzen 1? Das sind alles Sachen, die sich im Laufe des Spiels ergeben haben.
Ähnliches würde ich auch für die Kombinationen von Körperkraft und Widerstand, bzw. Charisma und Erscheinungsbild behaupten. Kann ein Muskelberg mit KK 5 immer noch superemfindlich sein, oder sollten die Muskeln und das Training nicht einen gewissen Widerstand mit sich bringen? Fänden wir George Clooney immer noch supercharmant, wenn er häßlich wie die Nacht wäre?
George Clooney ist immer und jederzeit über jeden Zweifel erhaben.
Nachdem wir das festgestellt haben, mein Gegenbeispiel: Zu Beginn von "Terminator 2: Judgment Day" wird man ja mit dem Krieg im Jahr 2029 konfrontiert, und die Introszene endet letztlich mit einem Zoom auf John Connor, der von seinem Kommandoposten aus das Schlachtfeld beobachtet. Da steht er also, ohne spektakuläre Uniform, mit einem Gesicht,
in das tiefe Narben gegraben sind. Als ich Connor damals zum ersten mal im Kino gesehen habe, da war mein erster Gedanke "Ja, dem würde ich auch in die Schlacht folgen!" (ich war noch jung und leicht zu beeindrucken...). Die Ausstrahlung, das Charisma müssen nicht zwingend mit dem Aussehen in Verbindung stehen (bei Clooney erleichtert es die Sache zugegebenermaßen).
4. Wenn man Midwinters Argumentation weiterdenkt, gäbe es ja auch noch andere Attribute, die man zusätzlich einführen könnte. Warum ist mein Schlangenmensch mit seiner körperlichen Beweglichkeit, auch immer Meister im Schlösser knacken (Fingerfertigkeit)? Wieso kann mein äthiopischer Marathonläufern (Ausdauer) mehr Prügel einstecken, als mein mittelmäßiger Boxer (Schadensresistenz)? Das würde weitere, bessere differenzierte Konzepte ermöglichen.
Argh, verdammt, da hast du meine Achillesferse erwischt. Das ist nämlich ein Thema, das mir auch schon Kopfzerbrechen bereitet hat. Das Geschick, das man beim Schlösser knacken braucht, ist ein anderes als das, mit dem man ein Auto mit Vollgas durch die Rush Hour steuert. Da gebe ich dir wieder Recht, an einigen Punkten sind die Attribute nicht differenziert genug (aber keine Angst, ich will jetzt nicht einen ganzen Katalog von neuen Attributen einführen).
Die Frage ist, ob man wirklich so viele beliebte Konzepte verliert, die sich nicht über Vor- und Nachteile, Spezialisierungen und Fähigkeiten differenzieren lassen und nicht in einem Powergameransatz begründet sind, dass es den Nutzen einer Vereinfachung der Attribute überwiegt.
Eine Überarbeitung der Attribute ist meiner Meinung nach dringend geboten. Ob der vorliegender Ansatz optimal ist, bleibt abzuwarten, aber momentan scheint er mehr Probleme zu lösen als zu verursachen. Also dafür.
Die Powergamer-Argumentation zieht bei mir nicht, aus den oben erwähnten Gründen. Aber einige deiner Argumente haben mir zu denken gegeben. Wenn es ein brauchbares Sytem mit Vor- und Nachteilen gibt, dann wäre das möglicherweise tatsächlich eine Alternative.
Sieht so aus, als müßte ich schon wieder eine Nacht durchgrübeln (aber was soll man bei dem Wetter sonst auch nachts in einer brütenden Dachgeschoßwohnung tun...?).
Aber ein letzter Punkt zum Schluß: Hinsichtlich der Spezialisierungen heißt es in V5: "Exceptional characters may have more than one speciality in the same Attribute." Das finde ich spannend, weil so durch die Hintertür doch irgendwie wieder mehrere Attribute pro Kategorie reinkommen...
Aber generell bleibt natürlich abzuwarten, wie in zukünftigen Fassungen die Spezialisierungen besser erklärt und differenziert werden. Wie kriegt man sie, oder was ist ein "exceptional character"? Da bin ich wirklich gespannt drauf. Vielleicht sehe ich dann manches nicht mehr ganz so kritisch.