Saturday Afternoon Tea Time Adventure System

Rulandor

Dünnblütiger
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Dies mein neuestes Lieblingsrollenspielsystem sitzt in Deutschland noch nicht mal auf der Ersatzbank. Deshalb mal hier ein Rezension von meiner Website:

Das Saturday-Afternoon-Tea-Time-Adventure System:


DOCTOR WHO – ADVENTURES IN TIME AND SPACE Roleplaying Game
11th Doctor Edition
von David F. Chapman
BBC/Cubicle 7, 2012
und das
PRIMEVAL Roleplaying Game
von Gareth Ryder-Hanrahan
Impossible Pictures/Cubicle 7, 2012

Mit diesen Werken liegen Rollenspiele zu den britischen Fernsehserien "Doctor Who" und "Primeval" vor.

Beide Serien behandeln im weitesten Sinn das Thema Zeitreisen. Bei Primeval geht es "nur" um die Zeitlinie auf der Erde, während Doctor Who Reisen in den Weltraum ebenso umfasst wie Reisen durch Vergangenheit und Zukunft. Die atmosphärischen Ansätze unterscheiden sich dabei stark: Primeval bemüht sich um einen realistischen Ansatz, von der Story-Prämisse der Zeittore oder Anomalien abgesehen. Doctor Who spielt in einem Universum, in dem alles möglich scheint, in dem dramatische Ereignisse aber auch weitgehend glaubhaften Parametern folgen, was sich zum Beispiel in harten und relativ realitätsnahen Aktions- und Schadensregeln für Charaktere niederschlägt.

In dem Regelsystem haben Charaktere sechs Attribute, zwölf Fertigkeiten bei Doctor Who und dreizehn bei Primeval sowie eine ganz ordentliche Latte an Vor- und Nachteilen. Der Unterschied bei den Fertigkeiten ergibt sich durch Auslagerung des Umgangs mit Tieren in eine eigene Fertigkeit, die man bei Primeval aufgrund der einzigartigen Bedeutung dieses Aspekts vorgenommen hat (über die Evolution hinweg sind Menschen eine Ausnahmeerscheinung; Tiere gibt es seit hunderten Millionen Jahren).

Die überschaubare Liste der Fertigkeiten nötigt natürlich dazu, eine Vorstellung vom Hintergrund des Charakters zu haben und somit davon, was ein Wert in Craft, Knowledge, Science oder Technology im Einzelfall konkret bedeutet.

Sehr schön, dass die Bedienung der vermaledeiten Computer unter dem Label "Technology" firmiert, was den Vorteil hat, dass man Charakteren aus der Vergangenheit nicht eine ganze Fertigkeit streichen muss. Ein Alchemist des Mittelalters kann damit dann schlicht sein Labor bedienen oder ein Pionier der römischen Legionen seine Schanzen oder Katapulte bauen.

Darüber hinaus kann man, sobald ein Fertigkeitswert 3 oder mehr beträgt, eine Spezialisierung unter der Bezeichnung "Area of Expertise" wählen und gewinnt damit für eine entsprechende Anwendung einen Bonus in Höhe von 2.

A propos Werte: Die Skala der Attribute und Fertigkeiten beträgt bei Menschen 1 bis 6. Würfe werden wie folgt abgewickelt: man addiert ein Attribut und eine Fertigkeit, je nach Aufgabenstellung ausgewählt, und würfelt 2W6; das Würfelergebnis addiert man dann zur Summe aus Attribut und Fertigkeit. Vor- und Nachteile, die "Traits", kommen in vielen Fällen durch zusätzliche Boni oder Mali ins Spiel. Das Ergebnis vergleicht man mit der vom Spielleiter festgelegten Schwierigkeit, und je nachdem, ob man drüber oder drunter würfelt und in welcher Höhe jeweils, ergibt sich eine Erfolgs- oder Fehlschlagsvariante. Die Differenzierung der Würfelergebnisse geht somit weit über ein binäres Erfolgs-/Fehlschlagskonzept hinaus.

Eine besonders schöne Idee in Primeval sind die so genannten "Trappings" – das sind Ausrüstungslisten, die man für seine Fertigkeitenwerte enthält. Was man für diese benötigt oder einfach meistens hat (z. B. kann man erwarten, dass jemand mit Transport 3 und einer "Area of Expertise: Motorcycle" ein Motorrad in der Garage stehen hat), wird der Ausrüstungsspalte auf dem Charakterbogen gutgeschrieben.

Da langes Shopping für Primeval-Charaktere zumeist uninteressant ist, ist die Verfügbarkeit von Habseligkeiten ansonsten einfach in Abhängigkeit davon geregelt, welches Einkommensniveau der Charakter hat, was seine Vor- und Nachteile zu seinem Vermögen aussagen und wie gebräuchlich oder selten ein Produkt ist. Eine Rolle spielt auch die Ausstattung der Organisation, Institution oder Gruppe, der er angehört. Recht einfach, überschaubar und elegant.

Noch lockerer wird die Ausrüstung bei Doctor Who gehandhabt: Was der Spieler für seinen Charakter naheliegend findet, kann er beim Spielleiter beantragen, der dem im Regelfall zustimmen sollte. Ein besonderer Aspekt hingegen sind die "Gadgets" bei Doctor Who: Wer das so genannte "Boffin"-Trait hat, kann die erstaunlichsten Sachen aus den erstaunlichsten Zutaten zusammenbasteln. Dem Tenor der Serie gemäß, verzichtet das Primeval-Rollenspiel zugunsten eines "realistischeren" Verfahrens auf dieses Produkt des lockeren Handgelenks, wie es für Handlung und Atmosphäre in Abenteuern des Doktors jedoch sehr angemessen ist. Natürlich hat auch Primeval seine Gadgets und "Future Technology", aber diesbezüglich etwas zusammenzubasteln, das erfordert an Material und Zeit einen ganz anderen Aufwand als die "Jiggery-Pokery" des Doktors.

Während Primeval-Charaktere gnadenlos irdischen Zuschnitts sind, können Doctor-Who-Charaktere die erstaunlichsten Fähigkeiten haben, zumal wenn es sich um Außerirdische, Mutanten, Cybermen, Zeitlords und andere Sonderlinge handelt. Zu diesem Zwecke findet man im Doctor-Who-Rollenspiel nicht nur Good and Bad Traits, sondern auch Special Good Traits, die Fähigkeiten weit jenseits normalmenschlich/irdischen Zuschnitts eröffnen und entsprechend teuer sind.

Kampf- und Schadensregeln sind in beiden Rollenspielen naturnah-brutal. Da beide Spiele eine Storypunkt-Mechanik enthalten, mit deren Hilfe Abenteurer schon mal Einfluss auf Handlung und den Ausgang von Aktionen nehmen können – ganz zu schweigen davon, den eigenen Arsch zu retten, wenn es mal hart auf hart kommt -, sind einzelne Schnitzer durchaus ausbügelungsfähig. Arrogantes Gewalt- und Metzelspiel ist jedoch glatter Selbstmord, womit dem Tenor beider Serien auch Genüge getan wird.

Dem Stoff angemessen, unterscheiden sich die Initiative-Regeln: Hat man beim Doktor die beste Initiative, je friedlicher die eigene Herangehensweise ist (Unterhändler handeln zuerst, wer abhaut, der handelt als nächster, und wer losballert, ist ganz zum Schluss dran), so ist bei Primeval der entscheidende Punkt, ob man eine schnelle Kreatur ist (sagen wir, ein Velociraptor aus der Kreidezeit oder ein "Predator" aus der Primeval-Zukunft, vielleicht auch ein Jem-Hadar aus Star Trek Deep Space Nine), eine durchschnittliche Kreatur (wie ein Mensch, vorbehaltlich eines besonderen Vorteils und des Einsatzes von Storypunkten) oder eine langsame Kreatur wie ein Brachiosaurier oder ein Flusspferd.

Zeitreisen bilden einen Kernpunkt beider Settings und beider Spiele, werden jedoch sehr unterschiedlich gehandhabt. Eine dramaturgische Gemeinsamkeit ist, dass die Herumspielerei an der Zeit heikle Folgen für die Charaktere haben kann. Primeval-Charaktere häufen mit der Zeit "temporalen Schaden" an. Hin und wieder prüft der Spielleiter, ob das relevante Folgen hat. Solche Folgen können darin bestehen, dass sich Fixpunkte in der Umwelt der Charaktere verändern (so gibt es in der ersten Staffel von "Primeval" noch kein Anomaly Research Center; mit der Abschlussepisode der Staffel hingegen existiert dieses, schon seit Jahren) oder die Historie nicht mehr wiederzuerkennen ist oder der Spielercharakter selbst nie existiert hat. Aufgrund des Beharrungsvermögens der Zeitlinie, wie es in Primeval postuliert wird, kann jedoch ein Spieler, dessen Charakter es erwischt hat, seinen Charakterbogen mit ein paar leichten Modifikationen weiterbenutzen, muss sich aber einen anderen Namen aussuchen. In Doctor Who hingegen werden durch Paradoxien und wundgeriebene Stellen der Raum-Zeit schon mal die extradimensionalen "Reapers" angelockt, die ihre eigene Vorstellung von der Reparatur der Zeitschäden haben: alles und jeden fressen, der ihnen im Umkreis solcher Zeitphänomene in die Quere kommt.

Bausteine beider Spiele kann man aufgrund der weitgehenden Kompatibilität der Regeln bunt mischen, um einen selbstgebastelten Kampagnenhintergrund zu bedienen. Vielleicht möchte man ja so etwas wie "Torchwood" spielen; hierzu empfiehlt es sich, die Regeln für die Einbindung der Charaktere in eine Organisation aus Primeval zu nehmen und vielleicht auch die mehr action-orientierten Kampf- und Initiative-Regeln aus dem Primeval-Rollenspiel, weniger die pazifistische Konfliktabwicklung von Doctor Who. Letztere (wie auch die Gadget-Regeln) wären jedoch sinnvoll, wenn man sich die diversen Star-Trek-Serien zum Kampagnenvorbild nimmt. Für eine Adaptation von Stargate wiederum mixt man am besten die Action- und Organisationsregeln von Primeval mit den Gadget-Regeln und den Special Good Traits von Doctor Who. Na ja, die sind für Außerirdische und Mutanten immer gut, egal welcher Hintergrund.

Da Doctor-Who-Abenteuer zu jeder Zeit und an jedem Ort zwischen Urknall und was weiß ich spielen können, ist noch das "Technology Level" (TL) eines Charakters wichtig. Es entscheidet gegebenfalls über Mali, die der Charakter beim Umgang mit ihm nicht bekannter Technik erleidet. Mich dünkt, dass man dieses System für Primeval übernehmen könnte, da Charaktere dort ja auch aus verschiedenen Zeiten stammen können.

Eine zusammenfassende Bewertung: Das Saturday-Afternoon-Tea-Time-Adventure System ist ein traditionelles Rollenspielkonzept mit Attributen und Fertigkeiten, ergänzt um halbwegs moderne Regelelemente wie Vor- und Nachteile und Storypunkte. Das Rad wurde hier nicht neu erfunden, aber mir gefällt das System außerordentlich gut. Es ist einsteigertauglich, bietet aber auch alten Rollenspielerhasen eine Menge, vorausgesetzt, diese haben wie ich schon bis zum Überdruss komplizierte Regelwerke gespielt und langsam die Nase voll davon, möchten vielleicht schwerpunktmäßig einfach wieder Spaß haben. Was für ein Gedanke!

Eine strukturelle Ähnlichkeit mit dem Cinematic Unisystem scheint mir augenfällig, was allerdings ein hohes Lob ist. Ich bevorzuge ansatzweise das Saturday-Afternoon-Tea-Time-Adventure System gegenüber dem Unisystem, vor allem aufgrund der zeitneutralen Fertigkeitenliste.
 
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