AW: Regel-Komplexität und Textlänge von Eigenkreationen
Deshalb die Frage an Euch: Wieviel Regelrohmasse ist für ein nichtkommerzielles Rollenspiel akzeptabel, ab wann ist es ein Regelmonster?
Da kann man nur sagen: Kommt darauf an.
Was heißt "nichtkommerziell"? - Soll das Rollenspiel als kostenloser PDF-Download verfügbar sein?
So etwas machen auch kommerziell interessierte Verlage. - Siehe DeGenesis, Opus Anima oder Eclipse Phase, Stars without Number usw. - Diese bieten ein kostenloses KOMPLETTES Grundregelwerk in professionellem Layout und mit allen Texten an. Und das sind eben auch durchaus einige hundert Seiten Material, die hier kostenlos zur Verfügung gestellt werden!
Manche dieser kostenlosen "professionellen" Werke sind aber leider sehr ERMÜDEND geschrieben, verfügen über eine schlechte Organisation des Textes, die kaum Praxisorientierung beim Verfassen erkennen läßt. - Solche Werke lese ich nur bei SEHR hohem Interesse, denn das Lesen ist eine QUAL!
Andere sind hingegen geradezu VORBILDLICH gestaltet. Gut strukturiert, mit nachvollziehbarer Organisation der Texte, mit einem praxisorientierten Zugänglichkeit, die auch bei 200+ Seiten noch SPASS zu lesen macht und keinesfalls anstrengend oder ermüdend ist, sondern INSPIRIEREND und NEUGIERIG machend!
Wenn Du also einen VERDAMMT GUT geschriebenen Text erstellt hast, der VERDAMMT GUT strukturiert ist und sich VERDAMMT GUT an den Bedürfnisse der "Abnehmer", der Spielleiter (meist sind es ja die SL, welche neue Rollenspiele komplett erschließen müssen), orientiert, dann wären 75 Seiten keineswegs zuviel, dann wären sogar 750 Seiten akzeptabel.
Die meisten Entwickler von Rollenspielen können jedoch KEINEN verdammt guten Text abliefern, sondern nicht einmal einen befriedigenden bis ausreichenden (Schulnote 3 bis 4). Das ist tatsächlich ein Problem, denn solche Texte lesen sich SCHLECHT, selbst wenn sie KURZ sind! - Ein SCHLECHT geschriebener Text kann nur einen Forenbeitrag lang sein, und die meisten Leser winken ab. Ein GUT geschriebener Text kann so lang sein, wie er will, und macht immer noch Spaß.
Meine Empfehlung daher: VERGISS das Seitenzählen!
Lege MEHR WERT darauf, daß Dein Text GUT strukturiert ist, sich interessant und neugierig machend liest, daß er verständlich geschrieben ist und alles Wichtige so angeordnet ist, daß man beim ERSTEN Lesen sofort versteht, worum es im Spiel geht, wie es funktioniert, was die Spieler machen, was der Spielleiter macht, wie die Welt so "tickt", und wie man eine erste Spielsitzung aufziehen kann.
Sind solche KERNFRAGEN nur schwer aus dem Text zu beantworten, muß man erst langwierig im Text danach suchen, oder gibt der Text KEINE Antworten darauf, dann ist er definitiv SCHLECHT. Und dann wird er seine Leser ärgern, bis sie ihn entnervt wegschmeißen bzw. von der Platte löschen.
Wichtiger als der Seitenumfang ist daher, daß Du Deine Gedanken, die Du im Rollenspiel zum Ausdruck bringen möchtest, wirklich KLAR und VERSTÄNDLICH an Leute vermitteln kannst, die weder all die Zeit, die Du mit dem Entwickeln und Ausarbeiten verbracht hast, selbst einbringen können (oder auch nur wollen), noch all Deine Vorkenntnisse, Überlegungen, impliziten Annahmen erahnen können, die Dir beim Verfassen der Texte eventuell nicht einmal mehr bewußt sein mögen.
Daher brauchst Du einen harten und fairen und sehr KRITISCHEN "Sparringspartner", einen guten Lektor oder sonstigen Feedbackgeber, der Dir Dein im stillen Kämmerlein ausgehecktes Werk gehörig auseinander nimmt.
Ein GUTES Rollenspiel schreibt man nicht einfach mal so für sich hin. Gerade weil Du ja ein neues REGELSYSTEM entwickeln möchtest, ist hier eine iterative Test- und Feedback-Verfahrensweise der sinnvollste Weg keinen Systemschrott abzuliefern.
Manch eine Settingidee ist wirklich toll, und es wäre ein tolles Rollenspiel geworden, hätte nicht der Entwickler gemeint UNBEDINGT auf Krampf ein "eigenes Regelsystem" erstellen zu müssen. Tolle Settings, Scheiß-System. Das gibt es leider viel zu oft. Und bei den selbstentwickelten Rollenspielen sind die Systeme, die hierbei herauskommen, oftmals solch ein jämmerlich an allen Ecken und Enden klapperndes, quietschendes Ungetüm, daß man ihm den Gnadenschuß verpassen müßte, weil es sich so quält.
Meine Empfehlung: Wenn Deine Setting-Idee WIRKLICH was taugen sollte, dann TESTE sie im aktiven Spiel mit einem generischen Regelsystem, das alle Kinderkrankheiten schon lange hinter sich hat. - BRP, GURPS, Risus, Savage Worlds, HERO, u.v.a.m.
Generische Regelsysteme, die schon ein paar Überarbeitungen hinter sich haben, funktionieren in ihren Regelkernen REIBUNGSLOS. - Eine Neuentwicklung WIRD schon im Regelkern unsicher vor sich hin klappern und scheppern, bis mehrere Jahre Spielerfahrung "da draußen", also außerhalb der Spielrunden des Entwicklers!, genügend Fehler aufgedeckt haben werden, daß die Überarbeitungen zu einem wirklich besseren System führen.
Wenn man sein Setting mittels eine Generikums spielerisch erschlossen und ausgetestet hat, dann weiß man auch GENAU, was für eine Art NEUER Regeln man für sein Setting WIRKLICH BRAUCHT (im Gegensatz zu diffusen Vorstellungen mit meist negativer Formulierung).
75 Volltextseiten würde ich in einem freien RPG niemals lesen. Wenn es nämlich WIRKLICH SO gut ist, wird es in 1-2 Jahren überarbeitet vermutlich kommerziell rauskommen. Dann kann ich mir das veraltete PDF immer noch durchlesen. In 99% der Fälle kommt es aber nie soweit.
Ich lese zwar auch mal mehr als 75 Seiten, aber meist merke ich nach 10 Seiten, daß der Verfasser einfach eine schlechte Sprachbeherrschung hat, so daß das Lesen zu Qual wird und ich mich über die Zeitverschwendung mit solchen "Lepra-Texten" (gefühllos und faulig) nur noch ärgere.
Auch kommerzielle Rollenspielprodukte sind bisweilen wirklich schlecht geschrieben. Aber hier stehen meist noch mehrere Instanzen vor der Veröffentlichung solcher lebensuntüchtiger Totgeburten, da ja richtiges Geld für bedrucktes Papier zum NICHTlesen rausgeschmissen wird. (Kommerziell im Selbstverlag bedeutet leider oft: Ich habe zuviel Geld und ein übersteigertes Ego, daher möchte ich auf Krampf meine eigene Scheiße mal gedruckt sehen. Und daher sagt niemand den Betreffenden, WIE SCHLECHT ihr selbstverlegtes Machwerk eigentlich ist.)
Wie gesagt: Bemühe Dich um eine "gute Schreibe", vermeide die Entwicklung von Regelsystemen von Adam und Eva beginnend bis hin zu Massenschlachtsystemen von ganzen Armeen von Schlachtkreuzern mit tausenden Beteiligten. - Kleine, SEHR ENG fokussierte, SEHR UNGEWÖHNLICH ausgerichtete Regelsysteme - meist ohne jeglichen Simulationsanteil - bekommt man für gewöhnlich leichter hin. Daher sind viele Indie-Games auch in dieser Richtung mit ständig neuen One-Trick-Pony-Systemen unterwegs.
Ein VOLLROLLENSPIEL mit weiterer Ausrichtung, bei dem so gut wie ALLE erdenklichen Bereiche einer generischen "Engine" UND die settingspezifischen Teile neu entwickelt werden sollen, stellt eine HEIDENARBEIT dar, die ohne ein ordentliches Team an hochmotivierten UND kompetenten Leuten leider nur in einem öden Aufguß altbekannter, altbackener, altersschwacher Mechaniken enden wird.
Daher mein Tipp ein Setting erst einmal mittels eines generischen Regelsystems auszutesten, ja auszureizen, bis man klar weiß, was alles das generische System nicht leisten kann, was daher ein neues System leisten müßte.
Regelsystem: Ich bemühe mich um eingängige Regeln, die aber dennoch viele Möglichkeiten zur Individualisierung und Weiterentwicklung der Charakterwerte erlauben. Das Kampfsystem verwendet eine Mischung aus Initiative und Aktionspunkten, die einen "Diashoweffekt" bewirken sollen. Magie gibt es nur in Form der sehr empiristisch-wissenschaftlichen Alchemie, die sich selbst nicht als Zauberei versteht.
Nun zu meinem Problem: Ich befürchte langsam, dass der Regelteil zu einem ziemlichen Regelmonster wird. Alleine mit dem Kampfsystem komme ich bis jetzt auf etwa 12 A4 Seiten, und das ohne Waffenlisten und Kampf-Feats.
Insgesamt bin ich bis jetzt bei etwa 75 A4 Volltextseiten, und es scheint kein Ende in Sicht.
Das sieht schon nicht wirklich gut aus.
Nicht wegen des Seitenumfangs, sondern weil Du Dir nicht so ganz klar zu sein scheinst, daß Du hier DAS RAD, DEN FAUSTKEIL, DEN HEBEL, usw. gerade alles NEU zu erfinden Dich anschickst.
Dann hast Du einen Regelteil voller Kapitel wie "Das Rad", "Der Faustkeil", "Der Hebel". - Kapitel, die in anderen, in generischen Systemen seit Jahrzehnten bereits hochelegant und funktional gelöst wurden, und bei denen man bei Dir am Rad noch die Schnitzspuren sieht.
Wie gesagt: Wenn Du GUT schreiben kannst, stellt der Seitenumfang kein Problem dar. - Aber wenn Du wirklich meinst Das Rad neu erfinden zu müssen, dann ist das Volumen Deines Rollenspiels schon gleich deutlich nach oben "offen". Denn wenn Du auch nur den Hauch eines Simulations-Ansatzes fährst (und so liest sich das für mich), dann findest Du kein Ende - oder Du wirst Riesenlücken lassen müssen. Beides ist nicht gut. Jedenfalls nicht so gut, als hättest Du gleich GURPS oder BRP oder so etwas genommen.