AW: Reenactment/Living-History/etc
Ist mir zuviel Mummenschanz jenseits der Fasnet-Zeit.
Ich kriege als Übender in den europäischen Kampfkünsten regelmäßig Zustände, wenn ich Leute erleben darf, die sich um kompromißlose Authentizität von handgefärbter Wolle für ihre Klamotten streiten, und dann Kriegshandwerker darstellen, die Waffen und vor allem Kampf-"Techniken" darstellen, die der blanke Unsinn und jenseits jeglichen Authentizitätsanspruchs sind. Warum es so viel wichtiger sein soll irgendwelche Wollfussel händisch mit Naturstoffen gefärbt in seine Klamotten zu vernähen, man dann aber völlig unhistorisches Gefuchtel mit seinen ach so männlichkeitssteigernden Waffen für völlig in Ordnung hält, das habe ich nie begreifen können.
Meine Vermutung: handgefärbten Kram kann man ohne ständiges, hartes und aufreibendes Üben auch kaufen (oder sich zumindest selbst die Illusion machen, daß man es authentisch hergestellt hat), aber die Kompetenz, die dazu gehört eine Waffe zu führen, die kann man nicht für Geld und zwei Stunden Training einmal im Monat erwerben. Die ist - wie jede Kunst - das Produkt langen Engagements und harter Arbeit am Überwinden der inneren Komplexität der betreffenden Kunst.
Da aber solche Themen wie Fantasy-LARP / Ritterspiele / Reenactment eine Art Kontinuum und eben nicht die diskreten Ausrichtungen darstellen, die man sich vielleicht bei diesen Begriffen auf den ersten Blick vorstellen wird, führt das zwangsläufig zu einer sehr heterogenen Klientel, welche diese Aktivitäten betreibt.
Am ehrlichsten finde ich da im Übrigen die Fantasy-LARPer, da diese sich mit Recht und aufrichtig einen Scheiß um "Authentizität" und "historische Genauigkeit" scheren. Was cool aussieht, das paßt. Das ist für mich Ausdruck einer authentischeren Einstellung zum Ganzen, als das historisierende Dilettieren der Gruppen, die sich auf eine bestimmte Zeit - am besten auf den 30. März 1187 in der Gegend von Neuss, um 11 Uhr vormittags - beschränken.
Vielfach ist es bei den "hystorischen" Gruppen - ja die Hysterie liegt dort nur eine Haaresbreite (handgefärbt, Naturfarbstoffe) neben der Historie - der Fall, daß ein paar vorgeblich historisch ausgebildete Leute irgendwelche gut-preußischen Regelwerke ersinnen, welche striktest zu befolgen sind und inhaltlich ALLES regeln. Da werden Brillenträgern ihre Sehhilfen zu tragen untersagt, da das historisch ja nicht akkurat sei. Dann nimmt man eben in Kauf, daß Leute in Strohschüttungen nach ihren Kontaktlinsen suchen gehen. *seufz*
Klar gibt es auch weniger Pfurz-Einklemmer bei manchen Gruppen. Doch ist mein Eindruck - der ich ja nur aus der Kampfkunst-Seite herkommend solche Gruppen zu erleben das zweifelhafte Vergnügen hatte - der, daß eine ungesunde "hystorische" Halbbildung gepaart mit einem fundamentalistischen Authentizitätsanspruch statt für "Living History" eher für die gelebte Spaßbremse sorgen. Da dürfen sich - auch wieder gute deutsche Vereinsmiefigkeit - ein paar Leute über andere erheben und sinnfrei über deren Verhalten und Selbstbestimmung mit ihren tollen Regelwerken ihr kleines Stücken Macht ausüben.
Wie gesagt: Fantasy-LARP ist da wesentlich ehrlicher. Und diese Ehrlichkeit ist ein Wert, der für mich in jedem Falle eher zu respektieren ist, als eine wie auch immer reglementiert erlangte Authentizität. Authentizität ist kein Wert an sich. Vor allem nicht, wenn es keine Erkenntnisse aus einer Selbstbeschränkung hinsichtlich einer historisch-fundierten Simulation der Vergangenheit gibt (so etwas ist dann eher das Feld der "Experimentellen Archäologie" - da gibt es natürlich auch wieder seriöse und dann nur seriös-aussehende Richtungen).
Was für mich eine sehr wichtige Frage ist: Warum will denn jemand die Vergangenheit, oftmals ja insbesondere die mittelalterliche, überhaupt nachstellen?
Ich meine, was ist das Erstrebenswerte an einer Zeit ohne WCs, ohne Brillen (ja, ich oute mich als computerbildschirmgeschädigter Brillensklave), ohne Antibiotika, ohne Eis-Spray (was man bei ernsthaftem Training öfter braucht, als man denkt und als es einem lieb ist), ohne Kühlschrank, ohne Anästhesie, ... ?
Mein Eindruck: jeder, der sich mit solchen historischen Themen und dem Ausleben von heutigen Wahrnehmungen (mit aller historischer Ungenauigkeit!) von zurückliegenden Verhaltensweisen und Sozialgefügen beschäftigt, tut dies aus romantischen Gefühlen heraus.
Man will mal einen Ritter spielen. Man will mal die (saumäßig aufwendig zu nähenden) Klamotten der Reichen, der Mächtigen, der Adeligen, der Herrscher verganger Zeiten tragen. Man will einen überschaubareren Alltag haben, bar der heutigen Reizüberflutung, der Hektik, des Dauerstresses. Und es gibt sicherlich noch eine schier endlose Liste weiterer Gründe, die allesamt aber nichts an Erfüllung der historischen Authentizität verdanken. - Das ist m.E. der Selbstbetrug, den sich eigentlich alle mit dem Anspruch auf historische Genauigkeit auftretenden Gruppen erlauben. Da liegt für mich die Unaufrichtigkeit, die ich als geringer schätze als die offene Bekenntnis der Fantasy-LARPer eben ihrer Phantasie in mittelalterlicher (oder anderer) "Geschmacksrichtung" ihren Lauf zu lassen.
Ich übe ja auch nicht jahrelang, nein jahrzehntelang Schwertfechten, Langbogenschießen und andere (nicht-europäische) Kampfkünste, und behaupte ich könnte jede Bewegung historisch-authentisch ausführen. In der Fechtkunst ist es so, daß die ältesten erhaltenen(! - das bedeutet, da fehlen die vielen nicht-erhaltenen) Werke stets beim Leser eine Kenntnis aller Grundlagen der damals gebräuchlichen Fechtkunst voraussetzen. Diese Grundausbildung wird in den Fechtbüchern bis weit ins 16. Jahrhundert NICHT mehr schriftlich explizit gemacht! Das bedeutet leider - aus Authentizitätssicht - daß man garnicht wissen KANN, wie die Schritttechnik, die Schnitte, Haue, Stiche, welche zum Grundrepertoire eines Fechters gehörten, WIRKLICH ausgesehen haben.
Da man das nicht wissen kann, sind eigentlich keine Fechtübungen mit dem Langen Schwert und anderen Fechtwaffen möglich, die denselben Authentizitätsanspruch erfüllen können, den manche Leute für ihre Vereine oder Gruppen aufzuschreiben sich erdreistet haben.
Warum trainieren aber heutzutage immer mehr Menschen in Deutschland die alte Fechtkunst, auch wenn sie eigentlich unmöglich 1:1 rekonstruierbar ist? - Weil man mit dem, was man weiß als Leitlinie, als ständige Meßlehre seine aus diversen anderen Quellen stammenden Fechterfahrungen (asiatischen Kampfkünsten, Sportfechten, ...) zu einer nicht im Anspruch akkuraten Rekonstruktion, sondern zu einem VERSUCH die alte Kunst zu VERSTEHEN zusammenstellen kann und dabei etwas LERNEN kann.
Man erfährt in seinen praktischen Übungen, welche in weiten Bereichen Experimente sind, Dinge, die man aus den lapidaren, knappen Texten der alten Fechtbücher beim ersten oder auch beim zehnten Lesen nie verstanden hat, wie sie in der Wirklichkeit eines freien Sparrings oder kontrollierter Übungen FUNKTIONIEREN. Diese tatsächliche Erfahrbarkeit der Effektivität und damit der inneren Schönheit dessen, was wir heute als ein durch die Jahrhunderte bestenfalls als einen Schatten aus der Vergangenheit der Fechtkunst praktizieren, das reicht bereits aus um mehr und mehr Menschen in Europa (und den USA und Australien, die mit Blick auf ihre kulturellen Wurzeln das Erbe des alten Europas antreten) sich in den diversen INTERPRETATIONEN der alten Fechtkunst zu üben.
Und es sind - leider, aber nicht vermeidbar - stets nur Interpretationen dessen, was ein Fechtlehrer unter seinen Eingangsinformationen aus seiner persönlichen Erfahrung heraus aus der Kunst gemacht hat.
Auch in den Fechtkunst-Gruppen gibt es diese Authentizitäts-Irrgläubigen. Auch hier ist die prinzipielle Unmöglichkeit der vollständigen und echten Rekonstruktion mittelalterlichen Lebens (und die Fechtkunst ist ja nur ein kleiner, und noch nicht einmal wohldokumentierter Teil davon) noch nicht verstanden worden.
Warum ist das so?
Weil wir Menschen sind. Wir wollen glauben, daß die Dinge, denen wir unsere Lebenszeit, unsere Energie, unsere Gesundheit opfern ECHT sind. Wir wollen das Bewußtsein haben, mal etwas, wenigstens etwas Echtes zu bekommen, wenn wir uns mit den alten, historischen Dingen auseinandersetzen.
Das liegt meines Erachtens daran, daß wir heute in unserer Gesellschaft zuviel Unechtes, zuviel Schein, zu wenig wirkliches, lauteres Sein für uns selbst finden können. - Oh, das Echte gibt es schon noch. Nur ist die Erkenntnis nicht jedem offenbar, daß das Echte, welches sich zu erlangen lohnt, etwas ist, was nicht gekauft, nicht konsumiert, sondern erworben, erarbeitet, erschaffen werden will.
In diesem Sinne gehe ich morgen wieder ins Training und übe ECHTEN Schwertkampf. Der ist so echt, wie es eben geht, wenn man mit einem Schwert und seiner eigenen körperlichen und geistigen und seelischen Beschaffenheit versucht eins zu werden und dabei für ein, zwei Stunden mal ganz man selbst zu sein.