Rabenfeder

Lynx

Tinte im Blut
Registriert
13. April 2004
Beiträge
2.057
Hier kommt endlich die Fortsetzung zum Rabenruf

Rabenfeder
Gnädig hatte die Dunkelheit sie in die Arme genommen. Enodia fühlte sich warm und geborgen. Ein stiller Friede hatte sich über ihren ruhenden Körper gelegt, sie fühlte sich wohl. Die Vergangenheit war vergessen, die Gegenwart war hier und die Zukunft, ja, die Zukunft? Eigentlich konnte die Zukunft bleiben wo der Pfeffer wächst, solange sie den Frieden der Gegenwart nicht brach. Am liebsten wäre Enodia auf ewig in der friedvollen Schwärze geblieben, doch etwas rüttelte an ihrem Bewusstsein. Plötzlich durchfuhr ein brennender Schmerz ihr Bein und ließ sie tausend gleißende Sterne sehen. Überwältigt von der plötzlichen Pein rang sie nach Luft, atmete harte Kälte ein. Die Welt um sie herum wurde wieder so hart und grausam, wie sie sie in Erinnerung hatte. Aber was war passiert? Für einen Augenblick herrschte noch immer diese absolute Leere in ihrem Gedächtnis. Doch als sie die Augen öffnete war alles wieder da. Die Zone, ihre Ausbildung, der tote Odin.
„Na also. Geht ja doch dich wach zu kriegen.“
Eine Stimme, tief wie die Schwärze der Nacht, drang an ihr Ohr. Noch immer sah Enodia ein wenig verschwommen, doch ihr Blick klärte sich langsam und gab ein mit einem Halstuch halb verhülltes Gesicht frei. Schmale dunkle Augen blickten sie an, eingerahmt von einer dichten schwarzen Zottelmähne. Enodia rieb sich die Augen. Der Mann hatte sich erhoben und schulterte gerade in Gewehr. Über die Schulter hinweg sagte er:
„Na los, steh schon auf. Das nächste Dörfchen ist nicht weit und ich will meine Kugel zurück.“
Seine Kugel? Enodia hatte in letzter Zeit nicht sonderlich viele Kugeln gefangen. Ihr wurde schlagartig schlecht. Mit ihrem Mageninhalt ringend stand sie auf. Was wollte Odins Mörder von ihr?
„Beeil dich ein bisschen. Weist du, Blei gibt krumme Kinder.“
Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest ballte sie die Hände zur Faust. Am liebsten hätte sie diesen Mann gleich in der Luft zerrissen. Mit böse funkelnden Augen fixierte sie ihn, als sie ihm humpelnd folgte.
„Was wollen Sie von mir?“
„Hab ich das nicht gesagt? Ich will meine Kugel zurück. Es ist billiger sie einzuschmelzen als ständig neue zu kaufen. Und dann schau ich mal, was ich mit dir mache. Vielleicht kann ich dich ja ganz gewinnbringend verkaufen. Siehst mir jedenfalls gesund aus, wenn auch etwas mager.“
Leise, fast unhörbar stahl sich ein Fluch über Enodias Lippen. Vor lauter Wut und Trotz spuckte sie dem Fremden in den Nacken. Ein Fehler. Geschmeidig wie eine Schlange wandte er sich um und packte sie am Kragen. Sein Gesicht kam dem ihren bedrohlich nahe. Die tiefe Stimme dröhnte unheilvoll in ihren Ohren.
„Wie heißt du, Kleines?“
„E... Munin,“
stammelte sie.
„Gut, Munin. Hör mir jetzt genau zu. Mein Auftrag war es, deinen lieben Herrn Vater zu töten. Was mit dir passiert war meinem Auftraggeber im wahrsten Sinne des Wortes egal. Ich könnte dich genauso gut mit einer dicken Fleischwunde am Straßenrand liegen lassen. Dann wärst du Futter für die Gendos. Es liegt also ganz in meiner Hand, was mit dir geschieht. Also solltest du vielleicht ein bisschen vorsichtiger und vor allem dankbarer sein, was dein Überleben angeht. Glaub mir, einen alten Wolf reizt man besser nicht.“
Unsanft stieß er sie von sich. Enodia stolperte und fiel unsanft zu Boden.
„Ich sollte dir die Kehle durchschneiden, Scheißkerl!“
Diesmal wurde er nicht böse. Im Gegenteil, er lachte.
„Haha, ja, klar. ... Und dann? Operierst du dir das Ding selber aus dem Schenkel, hier draußen auf der Straße.“
Er grinste sie hämisch an. Enodia verzog das Gesicht und rappelte sich auf. Grummelnd humpelte sie weiter, dem Fremden folgend. Schon bald war eine kleine Ansiedlung zu sehen.
Der Fremde begann sich nun immer öfters umzusehen. Es schien fast, als erwartete er etwas, das schon bald am Horizont auftauchen musste. Doch es regte sich nichts. Je näher sie der Siedlung kamen, desto mehr trieb er sie zur Eile an. Enodias Bein schmerzte höllisch. Jeder Schritt pochte in ihrem ganzen Körper und versuchte ihr Tränen in die Augen zu treiben. Aber jeder Schritt brachte sie auch ein Stück weit näher an die Erlösung von dem Schmerzherd und vielleicht sogar an ein Nachtlager. Also schleppte sie sich weiter, im Stillen hoffend, dass das Dorf ihr die Erlösung geben werde.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie endlich die kleinen Häuschen, oder besser gesagt die Hütten um die kleine Kneipe herum, erreichten. Zielstrebig steuerte der Mörder auf die Kneipe zu. Er schein sich hier auszukennen, zumindest blickte er sich seit dem erreichen des Örtchens nicht weiter um, sondern hielt seinen Blick gerade nach vorne gerichtet. Humpelnd folgte Enodia ihm, ohne noch ein weiteres Wort von sich zu geben. Sie fühlte sich unendlich müde und erschöpft, doch das angesteuerte Gebäude weckte in ihr ein wenig Hoffnung auf den ersehnten Ruheplatz. Der Mann schritt voran, betrat die Kneipe und durchquerte schnellen Schrittes den vermeintlichen Gastraum. Enodia hatte Probleme, mit seinem Tempo mitzuhalten, doch sie biss die Zähne zusammen und folgte ihm durch die zufallende Tür. Ein kleiner Flur mit weiteren Türen offenbarte sich ihr und durch eine davon betrat der Mörder gerade sein Zimmer. Als sie erschöpft die Türe hinter sich geschlossen hatte, wies er sie barsch an:
„Leg dich da hin!“
Währe der scharfe Ton nicht gewesen, hätte Enodia sich über die Aufforderung und die Geste zu der kleinen Pritsche hin gefreut. Doch angesichts dessen, dass dieser Mensch gleich in ihrem Bein nach seinem Besitz pulen wollte und er sich noch nicht dazu entschlossen hatte, was er mit ihr anstellen wollte, hinterlies diese Aufforderung einen recht bitteren Beigeschmack. Dennoch folgte sie seiner Anweisung und machte sich auf dem etwas wackeligen Gestell lang. Die Ruhe tat ihrem verletzten Bein gut, doch leider währte dieses Gefühl nicht sonderlich lange. Der pochende Schmerz kehrte sofort zurück, als der Mörder ihr unsanft das Hosenbein hochschob und ihren linken Unterschenkel freilegte. Eine lange rotbraune Spur zog sich über die blasse Haut, ausgehend von einer rundlichen, immer noch leicht wabernden Wunde. Prüfend betrachtete der Mann sein Werk. Ein Hauch von morbider Zufriedenheit legte sich auf sein Gesicht. Offenbar gefiel ihm das, was er da sah. Enodia konnte ihn kaum sehen, nur aus dem Augenwinkel erahnte sie so etwas wie ein Lächeln. Fast schon beiläufig zog er ein Messer hervor. Angesichts der stumpf glänzenden Klinge musste Enodia ein Zittern unterdrücken. Ein dumpfes Gefühl machte sich in ihrem Bauch breit und unwillkürlich biss sie sich auf die Unterlippe. Tränen schossen ihr in die Augen, als ihr Häscher das Messer ansetzte und damit begann mit einem Schnitt die Wunde etwas zu weiten. Sie biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Weis traten ihre Fingerknöchel hervor, als sich ihre Fingernägel in die Handballen bohrten. Ein leiser Schmerzenslaut zwängte sich durch die feste zusammengepressten Lippen. Die Klinge glitt ein Stück tiefer durch die Haut in das Fleisch. Der Schmerz explodierte in Enodias Bein. Mit einem lauten Aufschrei warf sie sich herum. Das Messer hinterlies einen tiefen blutigen Striemen auf ihrer Wade. Zitternd und aus vertränten Augen blickte Enodia zu dem Mörder ihres Vaters hoch. Dessen Gesicht verhärtete sich nur zu einer eisigen Maske.
„Reis dich gefälligst zusammen, oder soll ich dich erst niederschlagen?“
Er gab ihr eine schallende Ohrfeige. Übelkeit und Tränen waren für einen Augenblick das einzige, was Enodia spürte. Es dauerte eine Weile, bis sich dieser Schleier ein wenig löste und sie merkte, dass sie blutend und wimmernd auf der Pritsche lag. Gleichzeitig überkam sie auch die niederschlagende Erkenntnis, dass der Mann recht hatte. Zittrig drehte sie sich wieder auf den Bauch und atmete ein paar Male tief ein und aus. Dann versuchte sie sich so gut es ging zu entspannen und harrte auf den neuen Schmerz.

Der Gastwirt, ein kleiner, etwas untersetzter Mann, hob nur den Kopf, als die lauten Schmerzensschreie an sein Ohr drangen. Ihm war es egal, was dort in seinen Zimmern geschah, solange die Gäste vernünftig zahlten. Er war gerade dabei ein wenig Staub nach draußen zu kehren, als der Fremde in dem langen Mantel in die Stube kam. Seine Hände waren blutverschmiert und ein triumphierendes Lächeln lag auf seinem Gesicht. Er drückte dem Gastwirt nur ein paar zerknüllte Chronistenwechsel in die Hand.
„Bring mir etwas Starkes!“
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu:
„Ach, und mach die Lache in meinem Zimmer weg, solange die Kleine schläft. Ich habe keinen Bock darauf, dass sie mir alles voll kotzt, wenn sie beim Aufwachen das Blut riecht.“
Nach einem prüfenden Nachzählen lächelte der Gastwirt leicht und machte sich an die Arbeit. So mürrisch der Fremde auch sein mochte, er zahlte gut.

Langsam wich die Schwärze wieder von Enodias Sinnen. Als sie erwachte lag sie immer noch auf der Pritsche. Ihr war übel und sie fühlte sich einfach nur schwach. Ein metallischer Geschmack lag ihr auf der Zunge. Benommen blickte sie auf ihren Unterarm. Rot und blau umrandet zierten tiefe Bissspuren die bleiche Haut. Sie hatte zunächst versucht den Schmerz zu unterdrücken und sich dabei fast blutig gebissen. Dann hatte sie eine Weile geschrieen, doch schließlich war sie in eine gnädige Ohnmacht gefallen.
Bis auf einen kleinen Schemel und ein wackeliges Tischchen war das Zimmer leer. Es roch ein wenig nach Blut, obwohl Enodia keine Lachen erkennen konnte. Vorsichtig tastete sie nah ihrem Bein. Der Unterschenkel war mit einem Stück Leinen umwickelt. Ermattet lies sie den Kopf zurück auf die Pritsche sinken. Am liebsten hätte sie jetzt noch Tage lang weiter geschlafen aber in ihr keimte bereits die Gewissheit, dass dem nicht so sein würde.
Sie schloss die Augen und ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihr breit. Während sie regungslos auf der Pritsche lag, die Wogen des Schmerzes ausklingen lies und die Stille genoss, kamen die Erinnerungen an die letzten Tage in ihr hoch. Sie war aus der Zone entkommen, doch zu was für einem Preis? Odin war tot und sie selbst war nicht frei, so wie sie es sich erhofft hatte, sondern dem Gutdünken von Odins Mörder ausgesetzt. An eine Flucht war nicht zu denken, nicht in ihrem jetzigen Zustand. Enodia fühlte sich einsam und verloren. Ein paar Tränen stahlen sich in ihre Augen und sie vergrub den Kopf zwischen den Armen. Während sie sich ihren Tränen hingab, merkte sie nicht, wie die Zimmertüre leise geöffnet und wieder geschlossen wurde.
Eine Weile lang lies der Fremde sie heulen und wimmern, dann räusperte er sich und trat ein paar Schritte auf die Pritsche zu.
„Oh bitte, das ist doch erbärmlich. Du heulst ja, bevor du überhaupt weist, was mit dir passiert.“
In weniger freundlichem Ton fügte er hinzu:
„Los, steh auf. Es ist an der Zeit, dass du deinen Wert unter Beweis stellst!“
Unsanft packte er sie am Arm und riss sie auf die Beine. Im ersten Moment dachte Enodia, sie breche sofort wieder zusammen, doch nach ein paar Sekunden fand sie Halt auf ihren Füßen. Trotzig blickte sie den Mörder aus verheulten Augen an. Dieser lachte nur leise.
„Stell dich nicht so an. Wir wissen beide, dass es für jeden von uns besser ist, wenn du dich als wertvoll erweist. Lass dich mal ansehen.“
Seine Finger schlossen sich fest um Enodias Kinn und beugten den Kopf des Mädchens ein wenig hin und her. Es brodelte in ihr, während sie seinem prüfenden Blick stand hielt.
„Also für eine Hure bist du ein wenig zu mager. Da wirst du wohl nicht viel abwerfen. Vielleicht kann ich dich ja zum Tellerwaschen hier lassen. Was meinst du, wäre das deinen Fähigkeiten angemessen?“
Ein Hauch von Hohn schlich sich in seinen Blick. Offenbar wollte er sie ein wenig herausfordern, um mehr über sie zu erfahren. Enodia biss sich trotzig auf die Lippen. Die Stille zwischen ihnen hatte etwas Knisterndes, Funkenschlagendes. Der Fremde lies sich Zeit, bis er wieder das Wort erhob.
„So, ein kleiner Trotzkopf also. Nimm dir meinen Rat zu Herzen und kooperiere, ansonsten wird es dir weitaus schlimmer ergehen, als du dir im Moment noch vorstellen kannst.“
Er lächelte und wandte sich von ihr ab. Langsam und bedächtig Schritt er auf die Türe zu. Enodia stand immer noch stocksteif da und funkelte seinen Rücken an. Plötzlich drehte er sich ruckartig herum, hastete zwei Schritte auf sie zu und stieß sie grob vor die Brust. Sie taumelte rückwärts auf das Bett und stieß mit dem Kopf vor die Wand. Drohend ragte er über ihr auf. Seine Stimme donnerte durch den Raum.
„Zwinge mich nicht dazu, deinen Willen gewaltsam zu brechen oder willst du etwa, dass ich Hand an dich legen muss?“
Die dunklen Augen ließen sie erstarren. Angst saß ihr wie ein dicker Klos im Hals und verdammte sie zu panischer Regungslosigkeit. Langsam beugte er sich zu ihr herunter, bis sein Gesicht dem ihren ganz nah war.
„Es wäre doch zu schade um dich.“
Wieder hatte sich seine Stimme gewandelt. Das leise Raunen tat sogar noch mehr Wirkung, als das vorangegangene Donnern. Unfähig auch nur einen Mucks von sich zu geben nickte Enodia hastig. Aus angsterfüllten Augen starrte sie in sein Gesicht. Einige schwarzen Strähnen waren ihr entgegen gefallen und hatten sich wie kleine Peitschen über ihre Züge gelegt.
„Gut, sehr gut. Dann sprechen wir ja langsam die gleiche Sprache.“
Ein diabolisches Lächeln begleitete sein Wispern. Dann stand er gelassen auf und ging zur Tür.
„Ich werde mir überlegen, was ich mit dir anstelle. Offensichtlich ist dir dein Schicksal ja egal.“
Seine Stimme war wieder völlig normal, so als spreche er über einen unbedeutenden Gegenstand. Enodia wollte etwas erwidern, doch sie kam nicht dazu. Er hatte den Raum bereits verlassen und die Türe hinter sich abgeschlossen. Resigniert sank sie auf der Pritsche in sich zusammen. Sie hatte soeben ihr Schicksal besiegelt. Während sie die Augen schloss und die Tränen unterdrückte begann sie wieder auf ihrer Unterlippe herumzubeißen. Ihr ganzer Körper zitterte leicht. Dieser Mann war furchtbar einschüchternd. Sein Bild ging ihr nicht aus dem Kopf. Die große, imposante Gestalt, das lange schwarze Haar und die böse funkelnden fast schwarzen Augen, er sah aus wie aus einem Schauermärchen entsprungen. Angsterfüllt fragte Enodia sich, mit was für einer Art von Mann sie es hier zu tun hatte.
Die Ungewissheit schob alle Befürchtungen beiseite. Qualvoller als die Schauermärchen, die Enodia sich hätte ausmalen können, nagte sie an den Nerven des Mädchens. Zäh wie Gummi zog die Zeit an ihr vorbei. Am schlimmsten war wohl die Stille des Zimmers, denn sie bekräftigte die grauenvolle Ungewissheit nur noch mehr. Enodia setzte sich auf den kalten, harten Boden und versuchte wieder zu klaren Gedanken zu gelangen. Ihre langen blonden Haare lies sie sich ins Gesicht fallen und schirmte sich so von der grauenvollen Außenwelt ab. Ausdruckslos blickten die kühlen blauen Augen auf den Boden, ohne ihn so recht wahrzunehmen. Nach wenigen Momenten verfiel Enodia in völlige Regungslosigkeit. Ihr Atem wurde flacher und langsamer. Trotz des unbequemen Untergrundes stellte sich so etwas wie Entspannung ein. Die Zeit wurde bedeutungslos. Irgendwann schlossen sich ihre Augen und sie gab sich der beruhigenden Dunkelheit hin. All die Fragen, die Emotionen und zuletzt auch die große Ungewissheit selber verkümmerten zu einem bedeutungslosen Nichts. Wie eine Feder im Wind begann ihr Geist frei zu schweben. Ohne die schweren Lasten der Wirklichkeit war sie frei und unbeschwert. Die Ruhe lies sie allmählich die Pein der letzten Stunden vergessen. Oder waren es Tage? Es war bedeutungslos. Ganz allmählich lies sie es zu, dass die Ereignisse der Vergangenheit Revue passierten. Eines nach dem anderen schlich sich zaghaft in ihren Geist, wie eine vorsichtige Dienerschaft die ihren Herrn nicht wecken durfte. Nüchtern betrachtet hatte sie nur überlebt. Überleben, das Ziel des Lebens, man musste überleben um etwas in der Welt zu hinterlassen, um etwas weitergeben zu können. Für einen Sekundenbruchteil fragte Enodia sich, was sie einst der Welt hinterlassen würde. So schnell wie ihr dieser Gedanke in den Sinn gekommen war, so schnell hatte sie ihn auch schon wieder vergessen. Das hier und jetzt war das, was nun zählte. Langsam endete die kleine Erinnerungsparade und lies sie alleine in der Schwärze zurück. Allmählich kam sie zu dem Schluss, dass es hätte weitaus schlimmer kommen können. Immerhin war sie lebendig, an einem Stück und... tja, wenn sie jetzt nur von sich behaupten könnte, dass sie frei war. Für einen Moment hatte Enodia den süßen Geschmack der Freiheit bereits kosten dürfen und sie war fest entschlossen, sich noch weiter daran zu laben. Egal was ihr Häscher mit ihr vor hatte, ihr Schicksal würde sie selbst bestimmen. Entschlossen atmete sie tief ein und öffnete die Augen.
Eigentlich hätte das bleiche Licht des Tages sie blenden müssen, doch es war fort. Dämmrige Schatten hüllten das Zimmer in ihren trüben Schleier. Vor dem Fenster zogen rote Schwaden her. Leise drang das Säuseln des Windes an ihr Ohr, begleitet von einem fast unmerklichen Knattern. Enodia kannte diese Vorzeichen, Odin hatte sie vor ihnen gewarnt. Sobald der Wind den roten Staub ergriff, um damit den Tag zu verschleiern musste sie Deckung suchen. Ein Staubsturm zog herauf. Es grenzte fast schon an Ironie, dass Enodia genau jetzt nicht draußen umherirrte, sondern sich im Gewahrsam des Fremden befand. Auf wackeligen Beinen ging sie zum Fenster und spähte vorsichtig heraus. Während sie so dastand und die sich auftürmenden roten Wolken betrachtete fragte sie sich, weshalb sie nicht versucht hatte, sich durch das Fenster aus dem Staub zu machen. Jetzt war es dafür zu spät. Bei einer Flucht würde sie sich nur in den Staub machen. Sie seufzte. Es hatte keinen Zweck, jetzt über ungenutzte Chancen zu sinnieren. Das Säuseln wurde zu einem Pfeifen und das Knattern lauter. Was knatterte da draußen eigentlich? Vorhin hatte sie dieses Geräusch einfach dem Wind mit zugeordnet, doch jetzt schwoll es völlig unabhängig davon an. Enodia reckte sich und lies ihren Blick umher wandern, doch nirgends konnte sie den Ursprung des Knatterns ausmachen. Auf eine entfernte, verzerrte Weise kam ihr das Geräusch bekannt vor. Noch während sie nachdachte begann der Sturm am Dach zu rütteln. Das Haus begann zu knarzen, als der Wind sich dagegen auflehnte.
Staubstürme waren sehr schnell, das lernte jedes Kind aus der Gegend. Man hatte meist nicht die Zeit noch nach Hause zu laufen, um Schutz zu suchen. So plötzlich wie sie aufkamen blieb einem oft nur in einem Erdloch oder zwischen ein paar zerklüfteten Felsen nach Obdach zu suchen. Nur wenige Erwachsene wagten sich bei einem Staubsturm, den die Leute aus ihrem Dorf schlicht roten Sturm nannten, hinaus ins Freie. Odin hatte ihr die Tücke eines roten Sturmes recht simpel verdeutlicht. Damals hatte er zwischen ihnen eine Schale mit Sand aufgestellt. Sie sollte sich nun vorstellen ein Sturm zöge herauf und wenn sie die Wolke sehen könnte, sollte sie die Augen schließen. Gebannt hatte Enodia auf den Sand gestarrt und dabei nicht gemerkt, wie Odins Mund sich zu einer kleinen runden Öffnung formte. Dann hatte e einfach nur kräftig gepustet. Enodia war völlig davon überrumpelt worden und hatte eine ordentliche Ladung Sand ins Gesicht bekommen.
„Siehst du,“
hatte Odin gesagt,
„Man muss alles mehr als genau beobachten und selbst dann kann so ein Sturm dich noch überrumpeln. Außerdem solltest du an deiner Beobachtungsgabe arbeiten.“
Enodia stand regungslos am Fenster. Noch immer konnte sie den Ursprung des Knatterns zwischen den roten, sich auftürmenden Staubwolken nicht ausmachen. Immer mehr zerrte der peitschende Sturm an dem bisschen Zivilisation, das dieses Örtchen zu bieten hatte. Das Pfeifen schwoll zu einem Tosen heran unter dem die hölzernen Balken des Hauses stöhnend nachgaben. Auch das Fenster meldete sich mittlerweile zu Wort, indem es zu klappern begann. Unsinniger Weise bekam Enodia langsam Zweifel, ob das Haus dem Sturm überhaupt standhalten konnte. Was war, wenn die Balken plötzlich herunterstürzten oder dem Dach sein Giebel entrissen wurde? Schwachsinn! Das war mit aller Wahrscheinlichkeit nicht der erste Sturm, dem das Haus ausgesetzt war. Sie durfte sich einfach nur nicht den negativen Mutmaßungen hingeben. Angespannt starrte sie in die rote Flut. War da etwas gewesen? Für einen kurzen Augenblick meinte Enodia so etwas wie einen Schatten erkannt zu haben. Sie kniff die Augen zusammen und spähte angestrengt hinaus. Nichts, sie konnte nichts erkennen außer den Sturm selber. Selbst das Nachbarhaus verschwamm zu einem dunklen Schemen. Ein paar Male atmete sie tief ein und aus und fand wieder zu ihrer Ruhe zurück. Plötzlich raste ihr ein Schatten entgegen, zu schnell, als dass sie noch reagieren konnte. Etwas dunkles prallte vor das Fenster. Enodia blieb das Herz stehen. Der Schreck saß so tief, dass sie nicht einmal hatte schreien können. Instinktiv hatte sie die Augen zugekniffen. Als sie sie mit pochendem Herzen wieder öffnete war der Schatten verschwunden. Schwer atmend spähte sie hinaus, doch es war nichts zu sehen. Trotz dass ihre Hände die kleine Fensterbank fest umklammert hielten, zitterten sie. Ihr ganzer Körper begann zu beben.
Ganz ruhig, es war sicher nur ein Stock oder so etwas, den der Wind aufgegabelt hat.
Die beruhigenden Worte, die sie sich im Geiste zusprach ließen zwar ihren Atem wieder etwas ruhiger werden, doch der Rest ihres Körpers blieb davon unbeeindruckt. Im Gegenteil, sie hatte am ganzen Leib zu zittern begonnen. Plötzlich ging ein Ruck durch sie. Nicht nur sie selbst zitterte, das ganze Haus schien leicht zu vibrieren. Auch das Klappern des Fensters wurde stärker. Mit jeder neuen Bö schien der Sturm ihn ein wenig Widerstand abzunehmen. Schon jetzt bog es sich beunruhigend weit nach innen. Wenn sie nichts unternahm, fürchtete Enodia, würde es sicher bald aufgestoßen oder sogar aus den Angeln gerissen werden. Fast schon panisch blickte sie sich in dem vibrierenden Raum um. Ein wenig Staub kroch durch die Ritzen des Fensters in den Raum hinein. Enodia fluchte laut. In dem spärlich eingerichteten Raum war nichts zu finden, womit man das Fenster hätte verrammeln können. Nicht einmal ein feuchtes Tuch gab es hier, um sich vor dem verfluchten roten Staub zu schützen. Hilflos drehte sie sich wieder zum Fenster hin.
Da geschah es. Wie in Zeitlupe erfasste eine neue, stärkere Bö das Haus und zerrte erbarmungslos daran. Enodia hatte es fast riechen können. Das Fenster gab nach. Wie in Zeitlupe schwang es auf und seine Flügel schoben sich in dem zähen Gemisch aus Zeit und Schrecken auf Enodia zu. Sie spürte einen dumpfen Schlag vor den Schädel. Blut spritzte und legte sich wie ein roter Schleier über ihr Gesichtsfeld. Aus weiter Entfernung glaubte sie zu spüren, wie ihr Körper stöhnend zu Boden ging. Sogleich setzte ihr ein Schwall dichten Staubes nach und erfüllte den Raum. Laut dröhnte der Sturm nun auch in ihrem Zimmer. Staub mischte sich mit Blut und bildete eine krustige Schicht auf Enodias Gesicht. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder zu sich kam. Ihr Kopf hatte sich in einen einzigen, pochenden Schmerz verwandelt. Staub hustend blinzelte sie zum Fenster hinüber. Noch war ihr Blick verschwommen, aber sie meinte etwas dort erkennen zu können. Ein Schatten, ein Schemen zeichnete sich im offenen Fenster ab. Langsam gewann er an Schärfe. Enodia meinte das Gesicht eines Mannes zu erkennen. Sein Haar war genauso rot wie der Staub, der ihn umwirbelte. Über ein schützendes Tuch hinweg betrachtete er die am Boden liegende Enodia. Der Augenblick schien ihr wie eine Ewigkeit vorzukommen. Plötzlich war er verschwunden. Sie hatte nur kurz geblinzelt, da war das Gesicht wie vom Sturme fortgeweht worden. Kraftlos versuchte sie sich zu erheben, doch ihre Glieder versagten ihr den Dienst. Der rote Staub war mittlerweile überall. Er wehte durch den Raum und rieselte zwischen den Ritzen der Decke hervor. Erbarmungslos kroch er ihr in die Augen, Nase, Ohren und den Mund. Wie eine kleine Lawine schob er sich unaufhaltsam unter ihre Kleidung. Das Atmen wurde schwer. Röchelnd rollte Enodia sich zusammen und schloss die Augen. Ihr blieb nur abzuwarten.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis das Pfeifen des roten Sturmes endlich nachließ. Dunkelheit hatte sich auf Enodia nieder gelegt. Ihre dunkelroten Schatten ließen ihre Sinne wie betäubt unter der Staubschicht zurück. Das seltsame Knattern war schon lange verstummt, bevor der Sturm weiter gezogen war. Während der Wind noch wütete hatte Enodia sich daran geklammert über eben dieses Knattern nachzudenken. Sie hatte sich mit dem Kopf in ihren Pullover verkrochen und regungslos ausgeharrt. Mit der Zeit hatte die rote Staubschicht sie völlig bedeckt und sich wie ein schwerer Schleier über alle Sinne gelegt. Hier, unter dem düsteren roten Mantel, war ihr dann endlich die Erkenntnis gekommen. Sie kannte dieses Knattern, weil sie es vor Kurzem schon einmal gehört hatte. Es musste sich dabei um Motorräder gehandelt haben, da war Enodia sich sicher. Diese Erkenntnis war sofort neue Fragen in ihr auf. Wer fuhr bei solch einem Wetter mit einem Motorrad draußen herum? Und warum sollte jemand bei einem roten Sturm überhaupt hinaus gehen? Hatte der fremde Mann am Fenster etwas damit zu tun? Oder war er nur ein Hirngespinst gewesen, ausgelöst durch ihre Angst und Benommenheit?
Mit all diesen Fragen beschäftigte Enodia sich, bis der Sturm vorüber war. Auf nicht eine fand sie eine Antwort.
Jäh wurde sie hochgerissen, im wahrsten Sinne des Wortes. Jemand hatte sie gepackt und in die Höhe gewuchtet. Nun wurde sie unsanft auf die Füße gestellt. Staub rieselte von ihr herunter.
„He, nicht sterben, bevor du keinen Gewinn abgeworfen hast.“
Ihr Häscher musterte sie mit einem gemeinen Grinsen. Enodia hustete und versuchte sich den Staub aus dem Gesicht zu wischen.
„Munin, richtig? Also Munin, entstaube deine Ohren und pass gut auf. Ich werde dir jetzt ein wenig Zeit lassen, dich zu waschen. Dann gehen wir in die Gaststube und du isst dir etwas. Dabei hältst du brav deine Klappe und unterlässt auch sonstige Fiesematenten. Wenn jemand etwas von dir will, soll er sich an mich wenden. Du wirst nicht versuchen mich zu überrumpeln, weil es dir sonst ziemlich dreckig erginge. Im Zweifelsfalle wäre ich nicht abgeneigt, deinen Geldwert links liegen zu lassen und mich statt dessen anderweitig an dir zu ergötzen. Ist das klar? Gehrt dass in deinen Schädel rein?“
Sie nickte nur stumm. Dreckssack, er würde sich schon noch umsehen, wenn sie erst einmal einen Plan ins Auge gefasst hatte.
„Und wenn es das nächste Mal stürmt“,
lachte er,
„Lass das Fenster besser zu.“
Wieder begann es in Enodia zu brodeln. Am liebsten hätte sie ihn jetzt angeschrieen und ihre Wut an ihm ausgelassen. Doch das wäre ein sinnloses Unterfangen und so unterdrückte sie ihren Zorn.
„Hier hast du Wasser und nen Lappen.“
Er reichte ihr eine kleine Schale mit einer rotbraunen Brühe darin und ein altes, löchriges Tuch. Enodia nahm es und wartete. Gelassen blickte er sie an und machte keinerlei Anstalten sich vom Fleck zu bewegen.
„Heute noch!“
Es war ihr unangenehm, sich vor dem Fremden auszuziehen und zu waschen. Dieser betrachtete sie ohne jegliche Gemütsregung. Sie versuchte sich soweit wie möglich bedeckt zu halten und seinem düsteren Blick standzuhalten, ohne zu zittern. So rasch es ging säuberte sie sich und ihre Kleidung und zog sich wieder an.
„Gut Munin, das war ja schon fast fehlerfrei. Hoffentlich klappt das Essen genauso gut.“ `Widerlich’, ging es Enodia durch den Kopf, `Dieser Mann ist so was von widerlich!’ Ihr Gesichtsausdruck spiegelte dieses Gefühl deutlich wieder. Von Unwohlsein und Einschüchterung gequält folgte sie ihrem Häscher in den Gastraum.
Der Gastwirt war immer noch alleine dort. Offensichtlich waren die beiden die einzigen Gäste. Auch hier war einiges an Staub hereingeweht worden, wenngleich auch nicht so viel, wie in Enodias Zimmer. Ihr dunkelhaariger Begleiter verfrachtete sie an einen der wackeligen, hölzernen Tische. Gehorsam nahm sie auf einem ziemlich morsch aussehenden Höckerchen Platz und wartete ab. Der Gastwirt wurde kurz behelligt und verschwand dann in einem der hinteren Räume. Es dauerte nicht lange, da kam er mit zwei Krügen und einem dampfenden Teller zurück. Der Dunkelhaarige nahm die Mahlzeit entgegen und tischte sie Enodia auf.
„Und denk daran, schön brav aufessen.“
Grinsend nahm auch er auf einem Hocker Platz und trank einen tiefen Schluck aus seinem Krug. Enodia starrte auf den Teller und musste würgen. Der graubraune Brei vor ihr roch ekelerregend. Schnell tat sie einen Schluck aus dem Krug. Doch das Wasser darin war nicht viel besser. Wenn sie die Waschschale nicht auf dem Zimmer gelassen hätten, hätte Enodia schwören können den Inhalt des Kruges wieder zu erkennen. Angewidert blickte sie in die dunklen Augen ihres Gegenüber. Dieser nickte ihr nur bestätigend zu. Seine Lippen formten ein lautloses Wort. 'Iss!’ Mit sich selber ringend und die Übelkeit unterdrückend nahm sie den Löffel und begann den Brei in sich hinein zu stopfen. Immer wieder musste sie die klebrigen Klumpen mit ein paar Schlucken Wasser hinunterspülen. Nachdem sie die Hälfte des Tellers geleert hatte war Enodia mehr als satt. Sie fühlte sich, als käme ihr der Brei bald zu den Ohren heraus. Der Blick des Mannes haftete unbarmherzig auf ihr. Sie musste Zeit schinden, zumindest ein wenig, um wieder Platz in ihrem Magen zu bekommen. Also fasste sie sich ein Herz, schob sich noch einen Löffel nach und fragte mit vollem Mund:
„Wie heißt du eigentlich?“
Der Mann runzelte leicht die Stirn und blickte auf Enodia herab, als wolle er sie erschlagen.
„Habe ich dir nicht gesagt, du sollst die Klappe halten?“
Sie zuckte ein wenig zusammen. Gleichzeitig kämpfte sich aber ihr Trotz und ihre Kämpfernatur an die Oberfläche. Patzig setzte sie zu einer Antwort an.
„Ich kann dich ja auch Hurensohn oder 'Der-Da’ nennen, wenn dir eines von beiden lieber ist!“
Seine Hand ballte sich angesichts der dreisten Antwort für einen kurzen Moment zur Faust. Dann wurde seine Miene etwas versöhnlicher.
„Nenn mich Wolf.“
„Wolf?“
„Hast du ein Problem mit den Ohren? Ja, alle nennen mich so.“
„Ok. Und was hast du jetzt mit mir vor?“
„Hör zu, Munin. Nutze meine Gutmütigkeit nicht aus. Ich habe gesagt, dass du die Klappe zu halten hast. Also iss jetzt auf!“
Enodia senkte den Kopf und starrte auf ihren Teller. Ein leises Wörtchen zwängte sich wider aller Vernunft über ihre Lippen und lies ihren Emotionen ein wenig freien Lauf.
„Arschloch.“
Es war ein Fehler das zu sagen, das wusste sie. Ruckartig schnellte seine Hand nach vorne und schloss sich um ihren Hals.
„Ich –bin –nicht –taub!“
Erbarmungslos drückten seine Finger zu. Enodia röchelte hilflos und versuchte verzweifelt sich gegen den eisernen Griff zur Wehr zu setzen. Sie würde sterben, hier und jetzt. Elendig verreckte sie im Griff des Mörders. Ihr wurde schwindelig und ihr Blick wurde leer. So plötzlich wie Wolf zugelangt hatte, lies er auch wieder von ihr ab. Enodia sank schwer atmend auf ihrem Stuhl zusammen. Verbissen kämpfte sie gegen ihre Tränen an.
„Iss!“,
dröhnte Wolfs Stimme in ihren Ohren. Niedergeschlagen lies sie sich die Haare ins Gesicht fallen, beugte sich über den Teller und begann den Rest des Essens hinunter zu würgen. Während sie aß wurde kein Wort mehr gewechselt.
Sie musste hier weg und das schnellstens. Wer konnte schon genau sagen, was dieser Mann als nächstes mit ihr anstellte. Ein Fluchtversuch wäre zweifelsohne riskant, doch es war die einzige Möglichkeit zu entkommen. Sicher würde sie keine Gelegenheit bekommen, die Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen. Es musste nur schnell geschehen. Enodia konnte sich auf die Dauer gesehen keine besseren Chancen ausmalen, als diese hier. Sie würde Draußen nach einem Versteck suchen, um erst einmal eine Weile auszuharren. Dann würde sich schon etwas Passables als Unterschlupf finden lassen. Angespannt wartete sie auf den richtigen Augenblick.
Sie wartete vergeblich. Wolf lies sie keine Minute aus den Augen. Wie sollte sie unter seinem wachsamen Blick nur den richtigen Augenblick finden können? Den Teller hatte sie bereits geleert und auch der Krug war leer. Es konnte sich also nur noch um wenige Minuten hatten, bis sie den Gastraum wieder verließen. Vorsichtig blickte Enodia sich um. Draußen vor den Fenstern schlichen düstere Gestalten umher. Inständigst hoffte sie, nicht an diese Leute zu geraten, was auch immer sie waren. Dann schweifte ihr Blick wieder zu Wolf. Irgendwie musste sie ihn ablenken. Langsam griff sie nach dem Krug und tat so, als wolle sie ihm noch ein paar letzte Tropfen entlocken. Wolf sagte etwas, doch der Sinn seiner Worte verlor sich in Enodias Anspannung. Sie fixierte nur die Bewegung der schmalen Lippen und nickte.
Ruckartig stand sie auf und schleuderte ihrem Häscher den Krug ins Gesicht. Ihr Hocker kippte nach hinten weg. Um ein Haar hätte sie sich mit den Beinen darin verheddert, als sie sich umdrehte und in Richtung des Ausgangs stürmte. Hinter ihr fluchte Wolf lautstark. Enodia hastete die wenigen Schritte zur Tür. Mit zittrigen Fingern erreichte sie die Klinke und drückte sie hinunter. Das klicken des Türschlosses hallte fast wie ein Startschuss zu einem Lauf in die Freiheit in ihren Ohren. Mit aller Wucht war sie sich gegen die Türe, um sie weit aufzustoßen. Doch das Holz lehnte sich gegen sie auf. Ein stechender Schmerz schoss ihr in die Schulter.
' Ziehen, du Idiot! Ziehen!’, schoss es ihr in den Kopf. Ihre Bewegungen wurden fahrig. Energisch zog sie an der immer noch hinunter gedrückten Klinke. Die Türe sprang einen Spalt weit auf und lies Enodia die frische Luft der Freiheit schnuppern. Dann schloss sich die Türe wieder. Schlagartig wurde Enodia sich des großen, düsteren Mannes hinter ihr gewahr. Wolf drückte mühelos die Türe zu und blickte zornig auf sie herab.
„Ok, das war’s. Jetzt ist Schluss mit lustig!“
Enodia spürte, wie ihr das Herz stehen blieb. Das diabolische Funkeln in seinen dunklen Augen lies sie schlucken. Sie spürte, wie er sie am Kragen packte. Wolf drehte sich um und riss sie einfach mit sich. Sie schrie und zappelte, doch alles Wehren war vergeblich. Erbarmungslos schleifte er sie hinter sich her.
„Es wird Zeit, dass ich dir mal Manieren eintrichter!“
Panische Angst kroch in Enodia hoch, als er sie in ihr Zimmer zog und aufs Bett warf. Sie versuchte schützen die Arme vor sich zu halten, doch gegen Wolfs brachiale Gewalt kam sie nicht an. Er riss ihr den Pullover vom Leib. Sie schrie laut auf. Er gab ihr eine schallende Ohrfeige und machte sich daran ihre Hose zu öffnen. Die Angst bemächtigte sich ihrer und lies sie nach ihm treten und strampeln. Dennoch war es für ihn kein Problem, sie zu entblößen. Angsterfüllt versuchte sie wenigstens die Decke noch zwischen sie zu bringen. Wolf beugte sich über sie. Seine Augen funkelten begierig.
Plötzlich klopfte es an der Tür. Der Gastwirt steckte den Kopf herein und räusperte sich kurz.
„Ähh, entschuldigen sie aber da ist ein Mann, der sie sprechen will.“
„Schicken sie ihn weg. Ich bin beschäftigt!“
Er machte eine unwirsche Geste in die Richtung des Wirtes.
„Es ist ein Richter“,
fügte der Gastwirt etwas kleinlauter hinzu.
Ein Richter? Wolf richtete sich auf und lies von Enodia ab. Etwas grummelig aber auch deutlich nachdenklich richtete er seine Kleidung und ging zur Tür.
„Mit dir bin ich noch nicht fertig, Munin.“
Dann verschwand er.
Enodia zog die Decke noch enger an sich. Sie kauerte sich in eine Ecke des Bettes und begann leise zu weinen. Ein leichter Wind blies durch das immer noch offene Fenster herein und wehte ihr eine einzelne dunkelrote Feder entgegen.

(c)by Lynx
 
Zurück
Oben Unten