Perfektion

Desaparecidos

Coheed&C. - Welcome Home
Registriert
28. Februar 2004
Beiträge
2.222
Seit einer dreiviertel Stunde sitzen wir jetzt schon in der Pizzeria.. Eine Freundin hat Geburtstag.. sie sieht wirklich gut aus, die Haare perfekt, das Makeup perfekt.. schöne Klamotten. Ich freue mich irgendwie. Nein eigentlich freue ich mich nicht. Ich wünsche mir dass irgendetwas schief geht, etwas was die Perfektion zerstört.
An dem allgemeinen Lachen kann ich mich nicht beteiligen.. nur ein kurzes und unehrliches „Haha“ entlocken mir die Späße der anderen.
Gestern waren es zwei Brote.. gleich kommt das Essen.. Eigentlich wollte ich nur einen Salat bestellen, aber ich habe so Hunger, allein der Geruch in der Pizzeria lässt mir das Wasser im Mund zusammen laufen. Ausserdem essen alle anderen auch. Und sie bezahlt ja schließlich...
Ich sollte zuhause sitzen und den anderen nicht die Laune mit meinen runtergezogenen Mundwinkeln verderben. Vielleicht sollte ich auch einfach anfangen hier laut rumzubrüllen und das Essen durch die Gegend schleudern. ALLE würden mich ansehen als wäre ich wahnsinnig.. vielleicht bin ich das ja

...die Hälfte meiner Lasagne ist leer..

Und mittlerweile redet auch kaum noch jemand mit mir, weil ich ein Gesicht ziehe und immer sage „es ist alles in Ordnung“, wenn mich die anderen fragen was los ist. Natürlich ist alles in Ordnung, das ist es immer.. Meine Ordnung sieht nur anders aus als eure..
Ich frage mich, warum ich nicht einfach sage dass nichts in Ordnung ist, dass mich die Perfektion von den anderen heute ankotzt, dass ich ihr dummes Gelaber heute nicht hören will, dass sie mich heute am Arsch lecken können.. Dass ich Lust hätte einem von ihnen eine reinzuschlagen heute. Sagt nicht jeder immer man soll ehrlich sein? Aber was würden sie denken wenn ich mal einen Moment lang ehrlich bin heute..

...noch eine Gabel von dem Zeug.. einen Schluck Wasser hinterher..

Das Lachen der anderen höre ich kaum noch, ich versuche einfach nur da zu bleiben und nicht durchzudrehen. Den Tisch umzuwerfen und zu randalieren wäre viel leichter, dann würden die Schreie in mir drinnen verstummen, so aber muss ich sie beruhigen. Ich komme mir vor wie eine Krankenschwester, die in meinem Kopf mit 20 hungrigen und schreienden Kindern fertig werden muss. Die keine Kraft und vor allem keine Lust mehr hat. Aber ich darf HIER nicht ausrasten..

.. noch eine Gabel.. ich verschlucke mich.. huste so lange bis mir die Tränen über die Wangen laufen und versuche Luft zu bekommen. Besorgtes Klopfen auf meinen Rücken..

knallrot stehe ich auf und gehe auf die Toilette.. reiße die Tür auf und stecke mir den Finger in den Hals.. fünfmal würgen umsonst.. ohne dass das Essen wieder hochkommt. Es schmerzt nur im Hals und die Tränen schießen mir in die Augen. Ein dünner Faden Spucke zieht sich von dem Strahlend weißen Porzellan zu meiner Lippe.. ekelhaft, aber ich versuche gerade mein Essen rückwärts wieder raus zu bekommen. Was juckt mich der Spuckefaden? Noch dreimal würgen, rot-orangene Brocken und Brühe spritzen auf das weiße Porzellan, in das saubere Wasser.. mir ist so schlecht weil ich zu viel gegessen habe.. ich hätte nur einen Salat essen sollen. Immer wieder lausche ich ob jemand die Toilette betritt, wische mir mit dem Handrücken über die Lippen.. Mein Körper wird perfekt sein, irgendwann.. ich bin eben zu hungrig für meinen Körper und muss mir anders helfen. Aber er wird perfekt..

Die verheulten Augen wundern die anderen nicht, die sahen vorher schon so aus. Und über das Lächeln auf meinen Lippen sind sie nur froh.. Es ist wirklich alles in Ordnung, die Schreie sind verstummt..
 
armes mädchen. :koppzu:

möchtest du damit zu einer ernsthaftendisskussion einleiten? oder nur bemerkungen zur geschichte haben?
lässt sich auf jeden fall gut lesen und es gibt bestimmt ne menge, die das nachvollziehen können ;)
 
Wenn eine Diskussion darüber anfängt, bin ich die letzte die "Stop" sagt. Wenn irgendwer etwas zum Text sagt auch nicht ;)
 
Sehr gut beschrieben. So manche junge Frau sollte sich das einmal durchlesen! Eine Diskussion über den Schönheitswahn der heutigen Gesellschaft... - könnte interessant werden!
 
Ich finde den Text unheimlich schön obwohl oder gerade weil er mich ziemlich traurig macht. Vor allem erinnert er mich an eine ehemalige Klassenkameradin.
 
o.k. dann will ich mich mal zur thematik äussern.

ich sehe es definitiv so, dass die meisten leute zu wenig selbstbeherrschung und disziplin in unserer gesellshaft haben. eine folge davon ist, dass leute zuviel essen, bzw. was noch wichtiger ist, sich zu wenig bewegen für die menge, die sie essen. mehr als wenig essen bringt bewegung.
aber was kann eine persohn tun, die gerne schlanker sein möchte, oder ähnlich empfindet, wie die im text vorgestellte. in so einem fall möchte ich differenzieren:

1. man möchte schlanker sein, weil man sich selber unschön findet
2. man möchte schlanker sein, weil man gesellschaftlich annerkannter sein möchte

im zweiten fall wird es jemanden mit wenig disziplin nicht gelingen. dann wird sich frust aufbauen und sich hass auf leute entwickeln, die dem ideal entsprechen. da die fehler aber nicht bei sich gesucht werden und nicht wirklich eine verbesserung der disziplin angestrebt wird, wird es entweder kein vorankommen geben, oder es wird zu regelmässigen kotzen kommen. man ist ständig in sich widerstreitenden bedürfnissen, sich dem gefühl eines guten essens hinzugeben, oder dem gesellschaftlichen zwang zu folgen.

im ersten fall,
würde es eigentlich nur zu einer so beschriebenen situation kommen, wenn man der überzeugung ist, daß dies der kompromiss zwischen selbstekel abbauen und trotzdem lecker essen. d.h. man hat für sich entschlosssen, man fühlt sich mit kotzen wohler als mit essen. in so einem fall hätte man aber auch wenig selbstmitleid und würde die situation als einen selbstgewählten kompromiss anerkennen. wenn man sich vor seinem körper ekelt, wird man früher oder später aber auch anfangen, sport zu treiben.

also fazit:
es geht darum, sich klar zu werden, ob man für sich schlanker werden will oder für irgendetwas anderes. wenn es einen selber nicht besonders stört, dass man hässlich ist, dann sollte man dazu stehen und nicht halbentschlossen einem ideal hinterhereifern.


um es wieder auf den text zu beziehen: es ist definitiv nicht die schuld der anderen, dass sie schlankere leute vorziehen, es ist die eigene "schuld" das man nicht zu seiner persöhnlichkeit findet. wenn es soweit kommt, dass man nur noch unbeherrscht rumschreien würde,wenn man sich gehen lassen würde, dann sollte man erstmal gehen, sich einigermassen beruhigen und dann das gespräch mit seinen freunden suchen. das gespräch wird auch helfen, herauszufinden, wie sehr man 1 oder 2 ist. man darf dann blos keine angst haben auch darüber zu reden, was einem unangenehm ist, wennes wirklich freunde sind, werden sie einem auch mit einem gewissen mass an verständnis begegnen.
 
Zurück
Oben Unten