Lenne

Gilldor

Der dunkle Sohn
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10. Juli 2005
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Lenne hatte ihr Volk schon früh verlassen müssen. Besser gesagt: sie wurde von ihrem Volk verlassen. Die Alboracs waren eine Familie, die viele Sippenführer vorgebracht hatte. Diese Position hatten sie seit zehn Generationen innegehabt und immer an ihre Söhne weitervererbt. Doch zu den Herrschaftszeiten Thalins endete die Geschichte der Familienherrschaft. Thalin selbst war ein mutiger Krieger und weiser Herrscher, der stets das Beste für seine Untertanen wollte. Er liebte seine Frau, Maya. Doch so kam es, dass sie jahrelang kinderlos blieben und als ihnen ein Kind, ein möglicher Thronfolger geboren worden war, geschah etwas was ihr gesamtes Leben veränderte.




Zum einen, dass Maya nur ein einziges Kind, eine Tochter geboren wurde und zum anderen, dass sie im Kindbett den Strapazen der Geburt erlag. So kam es, dass der Sippe nicht nur ein Thronfolger sondern auch eine Königin fehlte. Durch diese beiden Tatsachen geschwächt, ließ die Bereitschaft des Thalins nach, sein Land gegen die Horden von plündernden und mordenden Orks zu verteidigen, deren Angriffe zunehmend zahlreicher und stärker wurden. Er war von Trauer um seine Frau um Jahr gealtert und der Gedanke daran, dass er anstatt eines Sohnes eine Tochter als Erbin für sein Amt hatte, machte ihm schwer zu schaffen.



Dann eines Tages jedoch, als die Grenzen des Landes nur schwach bewacht wurden, da die Beerdigung der Königin anstand, geschah das, wovor sich alle seit jeher gefürchtet hatten: Orks griffen an.



Binnen weniger Minuten gelang es den Orks in das Hauptlager einzudringen. Auf ihrem Weg töteten sie jeden Soldaten, der sich ihnen in den Weg stellte.
Thalins Männer waren gegen die Überzahl des Feindes nicht gewachsen. Der Feind machte keine Gefangenen. Frauen, Kinder und Alte wurden ausnahmslos erschlagen. Die Sippe Alborac hörte an jenem Tag auf zu existieren. Der Häuptling der Orks, Uruk, hatte es sich seit den letzten Kriegen zur Aufgabe gemacht Thalin zu vernichten und die Schmach, die er in jenem Kampf erlitten hatte zu rächen.


Doch fielen nicht alle Kinder bei diesem Überfall dem Wüten der Orks zum Opfer. Ein Kind, gerade erst geboren, überlebte in den toten Armen seiner Amme. Instinktiv hatte es geschwiegen, nicht geschrieen und sich nicht gerührt. Nur in einfache Tücher gehüllt verharrte es regungslos.

Tage vergingen in denen es durch den toten Körper vor den Blicken gieriger Raubtieren geschützt in dem verwüsteten Lager lag und nicht einen Ton von sich gab. Die Augen weit aufgerissen und die Ohren gespitzt, lag es in den Armen der Amme Kyra. Erst als sich die Kunde um den Überfall der Orks bis hin zu den Waldläufern verbreitet hatte, kam ein Spähertrupp vorbei um sich nach etwaigen Überlebenden umzusehen. Ihre Zahl war klein, denn man hatte ihnen berichtet, dass Uruks Armee weitergezogen sei. Und als ob das Kind dies gespürt hätte, begann es sich durch ein leises Wimmern auf sich aufmerksam zu machen. Der Anführer der Späher, Sabin, vernahm dieses Wimmern, fand das Kind unter dem Körper des erschlagenen Kindermädchens und brachte es nach Hause zu seiner Frau. Diese hatte selbst erst vor einigen Wochen ihr Kind an den plötzlichen Kindstod verloren und freute sich über das kleine Mädchen. Die beiden adoptierten das Elfenkind und gaben ihnen den Namen ihrer erst kürzlich verstorbenen Tochter: Lenne.

Die Jahre vergingen und Lenne wuchs wohlbehütet bei den Waldläufern auf. Doch trotz der Liebe ihrer Adoptiveltern Thalin und Sabin war sie nicht wirklich glücklich. Je älter sie wurde desto mehr wurde ihr ihre Andersartigkeit bewusst. Sie spürte die Blicke der anderen Kinder und hörte die getuschelten Worte über ihre Ohren. Die einzigen mit denen sie sich verstand, waren ihre Adoptivbrüder Malin und Prim. Für sie war Lenne wie ihre leibliche Schwester und die beschützten sie vor den anderen Jungen der Gruppe. Von ihnen lernte sie schnell den Umgang mit Pfeil und Bogen. In jeder freien Minute gingen die drei in den Wald um zu jagen. Es dauerte nicht lange und sie war eine ausgezeichnete Jägerin, die ein Kaninchen aus 300 Metern Entfernung mitten ins Herz traf. Als sich diese Nachricht unter den Waldläufern herumsprach, waren es vor allem die Jungen des Dorfes, die sie dafür bewunderten. Lenne jedoch schrieb es der ihr von ihrem Volk gegebenen Treffgenauigkeit, ihrem elfischen Erbe zu. Sie wurde sich nur ihrer Andersartigkeit einmal bewusst und war ganz und gar nicht stolz darauf. Gern wäre sie so gewesen wie die Menschen, die sie umgaben.




Daher verließ sie auch nach dem zeitigen Tod ihrer Adoptiveltern den Wald und machte sich auf um in der weiten Welt ihre Bestimmung zu finden. Sie kehrte ihrer Vergangenheit den Rücken zu und hoffte außerhalb des Waldes, der ihr mehr genommen als gegeben hatte, jemanden zu finden, der nicht die Elfe in ihr sah.
Monate lang reiste sie von einer Stadt zur anderen, ging bei den verschiedensten Meistern in die Lehre, doch konnte weder der Barde noch der Magier ihr seine Künste vermitteln. Die Künste des Heilens und des Gesangs waren ihr genauso fremd wie das Geheimnis der Zauberei. Einzig ein Schmied, der in der kleinsten und finstersten Ecke einer der vielen Städte, die sie besuchte lebte, arbeitete und lebte, erregte ihr Interesse für Schwerter und Dolche.

Der junge Mann, der die Schmiede seines in den Ruhestand gegangenen Meisters übernommen hatte, war erstaunt über die Kundschaft, die seine Werkstatt besuchte. Elfen waren seltene Gäste. Vor allem Weibliche. Aber in diesen Zeiten konnte er sich seine Kunden nicht aussuchen. Sein Geschäft lief schlecht und die Einnahmen reichten gerade einmal um sich das Nötigste zum Überleben zu beschaffen.

Als sie das Geschäft betrat, fiel ihr zu erst der mit Stroh bedeckte Boden auf. Es war ungewöhnlich, hatte man doch in den anderen Werkstätten, in denen sie bisher gewesen war, einen Dielen- oder Parkettboden. Staub hing in der Luft und tanzte in den wenigen Lichtstrahlen. Er kratzte in ihrem Hals. Nur mühevoll gelang es ihr einen Hustenanfall unterdrücken. In dem Halbdunkel, dass durch die halbgeschlossenen Fensterläden herrschte, konnte sie nur schwer den Tresen ausmachen. Schemenhaft bildete sich ein kleiner Verschlag in der Ecke des Ladens ab in dem ein Esel stand und sich an dem Heu in der Krippe labte. Er schien die Maschine anzutreiben, die direkt neben dem Verschlag hoch aufgerichtet aus den Schatten ragte. Neugierig trat sie näher ran. Eine Vielzahl von Keilen und Riemen verband sich mit Zahnrädern, die insgesamt einen kompliziert anmutenden Mechanismus bildeten.

"Kann ich Euch behilflich sein?" drang eine Stimme hinter ihr aus der im Raum herrschenden Stille. Lenne zuckte unmerklich zusammen. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Ruckartig drehte sie sich um und blickte einem jungen Mann, nicht älter als 25, in die Augen. Er war anders als die anderen Männer, die ihr bisher begegnet waren. In seinen braunen Augen stand so viel Ehrlichkeit und Herzensgüte wie sie es selten erlebt hatte. Er lächelte sie ihn an als er ihre ausführliche Musterung bemerkte. Seine schulterlangen braunen Haare wellten sich leicht und umrahmten dieses für sie engelsgleiche Gesicht.

Abermals fragte er sie: "Sucht Ihr etwas Bestimmtes?" Er lächelte abermals und fuhr sich unsicher durchs Haar. "Versteht Ihr mich? Entschuldigt bitte, aber ich kann kein Sindarin. Es ist zu selten, dass mich ein Elf in meiner Schmiede besucht als dass es sich für mich gelohnt hätte diese Sprache zu erlernen."

Sein Lächeln, es war so wunderbar, dass es ihr die Sprache verschlug. Doch ihm schien es auch nicht anders zu gehen. Sein Blick war gebannt auf ihre Ohren gerichtet. Aus reiner Verlegenheit fuhr sie sich mit den Händen über deren spitze Enden.

Als er diese Geste bemerkte, erwiderte er: "Es tut mir leid, dass ich Euch so anstarre. Es ist unhöflich..."

"Nein, nein, dass ist es ganz und gar nicht." fiel sie ihm ins Wort und Überraschung war in seinem Gesicht abzulesen. "Es war mein Fehler." Sie erwiderte sein Lächeln.

"Dann ist es gut so." antwortete er, "Mein Name ist Lyan, Lyan Hooter. Ich bin der Besitzer dieser Werkstatt und auch der Schmied."

Er trat unsicher von einem Fuß zum anderen und wiederholte seine Frage vom Anfang: "Also was kann ich für Euch tun?"

Von diesem Moment an war es um Lenne geschehen. Sie war in diese Schmiede gekommen um das Schwert ihres Vaters schleifen zu lassen, doch als sie ihm, Lyan, in die Augen gesehen hatte, war ihr dieser eigentliche Grund ihres Kommens entfallen.

Nach weiteren Sekunden des Schweigens gelang es ihr ihm von dem eigentlichen Grund ihres Kommens zu erzählen. Sie reichte ihm das in einfaches Leder gehüllte Schwert und er machte sich sofort an die Arbeit die völlig abgestumpfte Klinge zu schärfen. Lenne beobachtete jeden seiner Arbeitsschritte genausten und folgte jeder Bewegung seiner Hände. Als Lyan ihr Interesse für seine Arbeit bemerkte, fing er an ihr die Vorgänge beim Schleifen zu erklären. Geduldig beantwortete er ihr jede Frage. Nachdem er seine Arbeit beendet hatte, hüllte er das Schwert wieder in das Tuch und sagte:

"Wisst Ihr, dass der Schmied, der dieses Schwert", er deutete auf mit seinem Kopf auf die Waffe in seinen Händen, "einst anfertigte ein wahrer Meister seines Handwerkes war?"

Lenne schüttelte zögerlich mit dem Kopf. Sie hatte sich nie um die Kunst des Schmiedens geschert.

Lyan erwiderte diese Geste mit einem Lächeln. "Wie es scheint, versteht Ihr nicht viel von Waffen. Doch wie sieht es mit Eurer Waffenfertigkeit aus? Seid Ihr in der Lage ein Schwert zu führen?" fragte er geradeheraus. Abermals schüttelte sie den Kopf.

Ein Leuchten erschien in den Augen des jungen Mannes. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, blickte abwechselnd zu der Elfe und dem Schwert in seinen Händen und kam dann zu dem Schluss:

"Wenn es Euch nichts ausmacht, kann ich Euch den Umgang mit Schwertern und Dolchen beibringen. Zwar muss ich zugeben, dass ich nicht gerade der beste Kämpfer bin, aber meine Kenntnisse dürften ausreichen um Euch zu unterrichten."

Lenne willigte ein und so kam es, dass sie sich täglich in seiner Werkstatt trafen und er ihr Schritt für Schritt zeigte wie man mit Hieb- und Stichwaffen umging. Anfangs übten sie mit einfachen Holzschwertern die Schrittfolge während des Kampfes, das Parieren eines Angriffs, die Verteidigung und die verschiedenen Formen des Angriffs. Lenne war eine gute Schülerin, die jede seiner Lektion schnell und mit einer ihm unbekannten Wissbegierde erlernte und auch nach wenigen Vorführungen seinerseits beherrschte. Wochen vergingen in denen sie zu einer wahren Schwertmeisterin wurde. Doch nicht nur ihr Umgang mit den Waffen verbesserte sich. Zwischen Lenne und Lyan entwickelte sich zunächst eine Freundschaft, die sie ihre Andersartigkeit vergessen ließ. Das Gefühl als Mensch angesehen zu werden, erfüllte Lenne mit einem unbeschreibbaren Gefühl des Glücks und aus eben diesem Glücksgefühl wurde eine innige Zuneigung, die für beide neu war. Für Lenne war es das erste Mal, dass sie ein Mann ihrer Selbst wegen liebte und nicht nur die elfische Schönheit in ihr sah. Lyan hingegen war stets ein Außenseiter gewesen, der in einem Waisenhaus aufgewachsen war und immer auf der Schattenseite des Lebens gestanden hatte. Beide schworen sich, dass diese Liebe die Ewigkeit überdauern würde, dass sie gemeinsam ein neues Leben, zusammen und nicht länger alleine, beginnen würden.

Es war ein Traum. Ein Traum von solch unermesslicher Schönheit, dass Lenne sich davor fürchtete aufzuwachen. Ein Traum, der sie ihre Vergangenheit vergessen ließ und sie zum ersten Mal angstfrei in der Gegenwart leben ließ. Doch bald schon würden dunkle Wolken ihre Schatten über das junge Glück fallen, dass sich verlobte und eine baldige Hochzeit plante. Nicht nur Lennes Vergangenheit war durchzogen von Dunkelheit. Als bald würde Lyans Vergangenheit an die Tür klopfen und das Glück in Unglück verwandeln, denn auch er hatte seine Vergangenheit nicht völlig preisgegeben. Vielleicht um seine Geliebte zu schützen, vielleicht um zu verdrängen oder vielleicht auch aus Angst...


Die Wochen gingen ins Land und wurden allmählich zu Monaten. Lenne war mittlerweile ganz und gar bei Lyan eingezogen. Sie gab ihr über einem Stall gelegenes Zimmer auf und zog zu ihm. Sein Zimmer lag in einem Hinterhof. Es war in einen Schlaf- und Kochbereich unterteilt. Ein einfacher Vorhang aus abgewetztem Wollstoff trennte die beiden Bereiche voneinander. Das Bett bestand aus einer Matratze aus Stroh auf der ein Federbett lag. Die Küche selbst bestand nur aus einem alten Ofen, windschiefen Regalen an den Wänden und einem grob gezimmerten Tisch mit zwei Stühlen und einem dreibeinigen Hocker. Der Rest der Einrichtung bestand aus einer Kiste aus Eichenholz und einer Kommode. Im Hof selbst war ein kleiner Verschlag mit Hühnern.



Die Eingangstür zum Wohnbereich lag dem Hinterausgang direkt gegenüber. Strengte man seine Augen an, so konnte man das Geschehen in der Schmiede von dort aus beobachten.



Nachdem Lenne bei Lyan eingezogen war, teilten sie sich die Arbeit. Lyan war weiterhin für das Schmieden verantwortlich jedoch hatte Lenne ihm angeboten die fertigen Waren auszuliefern und zum Marktplatz zu gehen. Sie kaufte Nahrungsmittel ein und verkaufte die Eier der Hühner. Aber die Erträge aus der Werkstatt reichten nicht aus um ihre Kosten zu decken zudem es bald noch einen dritten Mund zu stopfen galt. Lenne war im fünften Monat schwanger.

Lyans Waffen waren solide gefertigt doch fehlte es ihnen an Applikationen und Feinheiten. Dazu kam noch, dass seine Werkstatt am Ende einer kleinen Straße lag, die wenig besucht war. Sie wusste nicht viel über seine Finanzen. Er sprach nicht über Geld. Er meinte, dass es seine Sorge sei und sie sich nicht damit zu belasten brauchte. Nur widerwillig gab sie sich mit dieser Antwort zufrieden. Lenne vermutete, dass Lyan kurz vor dem Bankrott stand. Es kamen keine Aufträge rein und wenn dann waren es nur Schleifarbeiten.



Eines Tages, als Lenne vom Marktplatz zurückkam und auf dem Weg zurück in die Werkstatt war, fiel ihr etwas Merkwürdiges auf. In einer der zahlreichen Gassen, die von der Hauptstraße abzweigten, nahm sie einen Schatten wahr. Zwar war dies nicht ungewöhnliches, doch alarmierte es sie. Instinktiv erwachte in ihr das Gefühl der Gefahr. Es war ihr zwar von ihrer Position aus unmöglich etwas Genaueres ausmachen zu können, doch der Waldläuferin ihr schlich sich ohne groß zu zögern näher heran und spähte vorsichtig um die Häuserecke. Sie konnte Stimmen vernehmen und einen Schatten erkennen. Hätte sie es nicht besser gewusst, wäre sie davon überzeugt gewesen, dass es Lyans Stimme war. Doch wer war der andere Mann. Sie konnte ihn nicht erkennen. Also riskierte sie es gesehen zu werden und ging, an die Hauswand gepresst, weiter nach vorne. Vor ein paar Holzkisten machte sie Halt und ließ sich dahinter in die Hocke sinken. Von hier aus hatte sie einen besseren Ausblick auf das Geschehen vor ihr. Es war tatsächlich Lyan, der da stand und offensichtlich Verhandlungen führte. Jetzt stellte sich nur noch die Frage mit wem er sprach und warum er es in einer der finstersten Ecken der Stadt tat. Der Händler, Roots, vom Markt war es jedenfalls nicht. Dazu war dessen Stimme zu hoch. Außerdem konnte sie erkennen, dass der Mann ein weites Gewand trug, denn es zeichneten sich keinerlei Körperrundungen auf der Wand ab. Die beiden Männer sprachen leise miteinander als ob sie fürchteten, jemand könnte sie belauschen.

Minuten verstrichen in denen Lenne es nicht wagte zu atmen in der Angst man könnte sie entdecken. Dann, ohne größere Ankündigungen, verließ Lyan den Verhandlungsort. Er steuerte direkt auf ihr Versteck zu. Lenne drängte sich noch weiter in den Schatten hinter sich und betete, dass er sie nicht sah. Er spazierte beinahe gemächlich an ihr vorbei, in der einen Hand einen Geldbeutel haltend und ein kleines Liedchen pfeifend. Als er auf ihrer Höhe war, warf er einen kurzen Blick zu ihrem Versteck hin. Lennes Herz schien auszusetzen. Sie fürchtete von ihm entdeckt worden zu sein und als Späherin im Namen irgendeines wohlverdienenden Bürgers entlarvt zu werden. Stattdessen war es eine Ratte, die durch ihr leises Fiepen seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Als er an ihr vorüber war, atmete sie tief durch. Sie wartete noch einige Augenblicke um sicher zugehen, dass er auch fort war, wenn sie ihr Versteck verließ.



Später als sie es eigentlich geplant hatte, kam sie in der Schmiede an. Es bereitete ihr Unbehagen einzutreten aus Angst, dass er sie doch gesehen hatte und es ihr zum Vorwurf zu machen. Langsam drückte sie die Klinke hinunter und bevor sie die Tür endgültig öffnete, lauschte sie noch einmal. Stille. Als sie in den dahinterliegenden Raum eintrat, umfing sie Dunkelheit. In der Ecke scharte der Esel unruhig mit den Hufen. Es war Fütterungszeit. Lenne schloss die Tür hinter sich und trat an das Gatter. Sie strich dem Tier beruhigend über die Nüstern und ging dann hinaus auf den Hof. Dort lagerten das Stroh und die Körner für die Hühner. Sie fütterte die Tiere. Dann machte sie sich daran das Abendessen vorzubereiten. Lyan würde bald kommen. Sie packte die eingekauften Lebensmittel aus dem Korb und begann das Essen zuzubereiten. Als sie fertig war, tafelte sie das Essen auf und setzte sich wartend an den Tisch. Doch Lyan kam nicht. Stunden vergingen. Es wurde dunkel und das Essen kalt.



Lenne dämmerte dahin als Geräusche aus der Werkstatt hinüberwehten. Sie schreckte aus ihrem Halbschlaf auf. Um sie herum herrschte völlige Dunkelheit. Die letzte Kerze war schon vor zwei Stunden erloschen. Es fröstelte sie etwas. Sie schlang die Arme um ihre Schultern und ging zum Fenster hin. Weiße Flocken fielen vom Himmel herab und hatten eine dichte Schneedecke gebildet. Der Winter war endgültig eingebrochen. Am anderen Ende des Hofes stand die Tür zur Werkstatt offen. Lyan war also da. Doch warum arbeitete er um diese Zeit noch? Er benahm sich in letzter Zeit sehr merkwürdig. Er wich ihr aus, erfand Ausflüchte, wenn er mal länger als verabredet wegblieb. Und nun das.

Sie ging zur Tür, nahm ihren Umhang vom Haken und hüllte sich hinein. Dann öffnete sie die Tür und trat hinaus auf den schneebedeckten Hof. Das Klirren des auf den Stahl prallenden Hammers klang ungewöhnlich laut, da der sanfte Schneefall jegliche andere Geräusche schluckte. Es war kalt. Ihr Atem gefror vor ihrem Gesicht zu einer kleinen grauen Wolke. Die Hühner in dem Pferch hatten sich in das kleine Holzhaus, das direkt daneben gebaut worden war, verkrochen. Lenne schwor sich die Tiere morgen in die Schmiede zu bringen, wo es wenigstens um einige Grad wärmer war als hier draußen. Sie ging weiter und hielt an der Eingangstür an. Vorsichtig spähte sie hinein. Der Amboss lag in einer Ecke des Ladens, nur teilweise von ihrer Position aus einsehbar. Aber sie brauchte nur die zahlreichen Schwerter sehen, die an den Balken lehnten, um zu wissen, dass es sich hierbei um keinen normalen Auftrag handelte. Mit wem auch immer Lyan heute Nachmittag gesprochen hatte, dieser jemand wollte Waffen für eine gesamte Armee. Warum hatte er zugestimmt? Was er dort tat, ging sicher nicht mit rechten Dingen zu. Eine so große Anzahl Klingen konnte nur für den Schwarzmarkt bestimmt sein. Lyan war immer gesetzestreu gewesen. So hatte sie ihn zumindest immer eingeschätzt. War dieses Urteil falsch gewesen?

Lenne lag den Rest der Nacht wach und wälzte sich von einer Seite zur anderen. Sie machte sich ernsthafte Sorgen. Nicht nur Lyan sondern auch um sich und das ungeborene Kind in ihrem Bauch. Wie sollte sie es großziehen, wenn sie auf der Straße saßen mit nicht mehr als einer Brücke über ihren Köpfen? Über diese und andere Fragen nachdenkend, schlief sie dann doch noch ein.



Als sie am nächsten Morgen aufwachte, musste sie feststellen, dass das Bettzeug neben ihr unberührt geblieben war. Lyan hatte also die ganze Nacht in der Werkstatt zugebracht. Sie erhob sich, zog sich an und heizte den Ofen an. Nachdem sie Wasser aufgesetzt hatte, ging sie zur Schmiede hinüber um nach Lyan zu gucken. Doch sie fand die Schmiede verlassen vor. Er hatte den Esel mitgenommen. Wahrscheinlich war er gerade dabei die gefertigten Waren auszuliefern.



Lenne machte sich gerade daran die Hühner in die Holzbox zu scheuchen um sie anschließend in die Schmiede zu bringen als er zurückkam. Sie unterbrach ihre Arbeit um ihn entgegen zu kommen, aber als sie in sein Gesicht blickte, wusste sie, dass es besser war ihn in Ruhe zu lassen. Er ging ohne irgendein Wort zu sagen in ihr gemeinsames Zimmer und ließ sie alleine mit den Hühnern.

Eine Stunde und mehrere schmerzhafte Kratzer später kam auch sie wieder in das mittlerweile molligwarme Zimmer und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Er hatte das kochende Wasser vom Ofen genommen und Tee aufgegossen, der in einer dampfenden Kanne zwischen ihnen beiden auf dem Tisch stand. Sie suchte seinen Blick. Doch er hatte den Kopf gesenkt und starrte gebannt auf etwas, dass er in seinen Händen hielt. Also ging sie zu einem der Regale, nahm zwei unterschiedlich geformte Becher herunter und goss den Tee ein. Dann schob sie ihm einen Becher zu und umklammerte ihren mit beiden Händen, machte aber keine Anstalten daraus zu trinken.



"Ich habe dich heute Nachte vermisst", begann sie in dem Versuch das Schweigen, das zwischen ihnen beiden herrschte, zu brechen. Er hielt inne in seinem Tun und sah sie mit seinen im schwachen Licht der Kerzen leuchtenden Augen an. "Es tut mir Leid", erwiderte er. Dann stand er auf und lief ein paar Schritte in der Küche herum bevor er vor ihr niederkniete. Er legte ihre Hand in die seine und sah ihr fest in die Augen. Sein Blick fixierte den ihren und er lächelte etwas verkrampft. Dann nahm er den Gegenstand aus seinem Gürtel mit dem er die ganze Zeit über gespielt hatte. Es war ein Ring, ein goldener Ring. Lenne erschrak innerlich. Dafür hatte er also das Geld gebraucht...



Er schien ihre Verwunderung zu spüren, deutete diese aber falsch. So steckte er ihr den Ring an den Finger und sah sie erwartungsvoll an bevor er sie ohne größere Umschweife fragte: "Willst du mich heiraten?" Lenne war erstaunt. Sie hatten schon lange geplant zu heiraten, aber es hatte ihnen immer das nötige Geld gefehlt. Nun hatte Lyan anscheinend einen Weg gefunden um an Geld zu kommen. Doch wollte sie dieses Geld denn? Wollte sie ihn? Schweigen. Dann zog er sie vom Stuhl hoch und küsste sie auf den Mund. Widerwillig erwiderte sie den Kuss.



Der Dezember neigte sich seinem Ende zu und die Neujahrsnacht stand bevor. Lennes Bauch war weiterhin angeschwollen und man sah ihr nun deutlich an, dass sie in anderen Umständen war. Die Tage waren kalt und die Nächte brachten neuen Schnee. Es war einer der härtesten Winter, den das junge Paar erlebt hatte und es sollte ihr letzter gemeinsamer Winter sein...



Lenne saß am warmen Kaminfeuer und versuchte sich im Stricken. Es sollte ein Jäckchen für ihr Kind werden, aber bis jetzt hatte sie sich mehr mit der spitzen Nadel gestochen als das sie Maschen aufgenommen hatte. Es ärgerte sie und die junge Frau war kurz davor das Strickzeug ins Feuer zu werfen als ein Schrei aus der Schmiede ertönte. Sie spannte sich und jegliche Wut war verschwunden. Panik machte sich in ihr breit. Es war Lyan und er war in Gefahr. Ohne zu zögern, sprang sie von ihrem Stuhl auf, eilte zur Tür und riss sie auf. Nur in ein einfaches Kleid aus Leinen gehüllt, rannte sie Bar-Fuß in den Schnee hinaus zur Hintertür der Schmiede. Dort angelangt, erkannte sie, dass die Tür nur angelehnt war. Stimmen drangen nach draußen, doch konnte sie keine einzelnen Worte herausfiltern. Abermals ertönte ein Schrei. Lenne fuhr zusammen. Augenblicklich öffnete sie die Tür und stürmte in die Werkstatt. Als sie eine Reihe von verhüllten Gestalten wahrnahm, versteckte sie sich hinter der Maschinerie, die zur Aufhängung der Werkzeuge benutzt wurde. Sie drückte sich gegen das Holz in der Hoffnung nicht die Maschinerie in Gang zu setzen. Links von ihr gackerten die verängstigten Hühner und der Esel scharrte unruhig mit den Hufen im Stroh. Auch Lenne verspürte tief in sich Angst, ja sogar Panik. Sie wollte Lyan helfen, wollte gegen die Unbekannten vorgehen, doch war sie starr vor Angst. Es waren zu viele um gegen sie alleine bestehen zu können.

Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Unterleib und sie konnte sich nur mit Mühe einen Schrei verkneifen. Sie drückte sich stärker gegen die Holzkonstruktion um den in ihr herrschenden Schmerz zu ersticken. Abermals verspürte sie dieses grausame Stechen und jegliche Kraft wich aus ihren Beinen so dass sie ins Stroh sank und dabei einige kleine Fässer hinter sich mit runterriss. Das Poltern der herunterfallenden Fässchen ließ die Gestalten auf sie aufmerksam werden. Zwei von ihnen drehten sich um und kamen um das Holzgerüst herum und erblickten die im Stroh kauernde junge Frau. Einer der beiden schüttelte fast unmerkbar mit dem Kopf und machte einen Schritt auf sie zu. Voller Panik kroch Lenne weiter in die Ecke hinein, in der sie saß. Doch der Fremde kam unaufhaltsam auf sie zu und schon bald spürte sie die Kälte der Backsteinhauswand in ihrem Rücken. Ihre Augen suchten nach einem möglichen Ausweg, doch fanden keinen. Sie war gefangen. „Nein“, flehte sie mit angsterfüllter Stimme, „tut mir nichts! Ich bin im sechsten Monat schwanger!“ Als Antwort kam ein Geräusch unter der Kapuze des Verhüllten hervor, dass entfernt an ein hämisches Lachen erinnerte. „Das wissen wir.“ antwortete er mit kalter Stimme und ergriff ihre Oberarme. Sie versuchte sie gegen den festen Griff des Fremden zu wehren, doch sie wurde ohne größere Reaktionen auf die Beine gezogen. Dann kam der zweite auf sie zu und packte ihren anderen arm und die beiden zehrten sie nach vorne in den Raum. Der Kreis aus verhüllten Gestalten öffnete sie und gab den Blick auf einen blutüberströmten am Boden kauernden jungen Mann frei. „Lyan!“, rief sie mit sich überschlagender Stimme und vergaß bei dessen Anblick sogar den stechenden Schmerz in ihrem Unterleib. Sie fing wieder an sich heftiger gegen den Griff der Fremden zu wehren und erreichte, dass sie sie losließen. Von ihrem eigenen Schwung getragen landete sie neben ihrem Verlobten im Stroh und klammerte sich zu gleich an ihn. Er wirkte apathisch und schien ihre Berührung gar nicht wahrzunehmen. Stattdessen starrte er einen der Verhüllten ihm gegenüber an, der sich durch ein rotes Kreuz auf der Kapuze von den anderen unterschied. Der Anführer, schoss es Lenne durch den Kopf und sie wollte sich erheben um ihm entgegen zu treten. Doch als sich aufrichtete, traf sie ein harter Schlag in den Rücken und sie sank mit einem lauten Schrei wieder zurück. Lyan zuckte kurz zusammen und er sah sie mit seinen braunen Augen an. Es war kein Anzeichen von Angst in ihnen zu lesen, nur unendliche Trauer. Er nahm ihre Hand in die seine und küsste sie auf den Mund.

Dann stand er auf und ging ein paar Schritte auf den Anführer zu. Wenige Schritte vor ihm blieb er stehen und sah ihm fest in die Augen. Von da an geschah alles blitzschnell. Lyan zog einen Dolch aus seinem Gürtel und zielte auf das Gesicht des Fremden. Blut spritzte als die Klinge unter die Kapuze fuhr. Im gleichen Augenblick wurden weitere Messer gezogen und drangen in die Brust des Schmiedes ein. Er strauchelte und sein Hemd färbte sie rot. Lenne schrie voller Panik auf und erhob sich ungeachtet der Schläge auf ihren Rücken und Unterleib. Sie krallte sich an den nach hinten stürzenden Lyan und ließ sich mit ihm zusammen zu Boden sinken. Er spuckte Blut und der Blick seiner Augen ging ins Leere. Lenne schluchzte. Sein Kopf lag auf ihrem Schoß und ihre Arme umklammerten seinen Körper. Er zitterte. „Es tut mir Leid“, murmelte er immer wieder vor sich hin. Das Stechen in Lennes Bauch wurde stärker und sie jaulte wie eine getretener Hund vor Schmerz und Trauer. In ihren Armen starb Lyan. In ihrem Bauch ihr ungeborener Sohn und in ihrem Herzen sie selbst.



Sie verfiel in eine Art Schockzustand, der sich erst allmählich auflöste nachdem sie von einigen Bürgern, die die Fremden beobachtet hatten wie sie die Schmiede verließen, gefunden und verarztet hatten. Für Wochen war sie nicht ansprechbar und verweigerte die Nahrungsaufnahme. Der Arzt ließ sie zur Ader, schröpfte sie und verabreichte ihr ihm sämtliche bekannte Medikamente. Lenne ließ es geschehen. Ihr Geist hatte ihren Körper verlassen. Zurückgeblieben war nur eine Hülle, die jegliche Empfindungen verloren hatte. Wochenlang musste sie zwangsernährt werden damit sie nicht verhungerte. Die Familie, bei der sie aufgenommen worden war, kümmerte sich zwei Wochen lang um sie. Als sie nach dieser Zeit aus ihrer Trance erwachte, stellten sie keinerlei Fragen sondern ließen sie gehen. Sie gaben ihr ein Pferd und die Sachen, die sie vor Plünderern aus der Schmiede retten konnten. Lenne verkaufte den größten Teil davon zusammen mit der Schmiede und den Tieren. Sie behielt lediglich Lyans Dolch und das Schwert, das er ihr damals geschliffen und mit seinen Initialen versehen hatte. Auch den Ring behielt sie obwohl dieser ihr das meiste Geld eingebracht hätte. Gold war ein seltenes Metall und daher besonders wertvoll. Dann verließ sie die Stadt und ließ einen weiteren Teil ihrer Vergangenheit hinter sich.








 
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