AW: Halbwertszeit von Spielfiguren
Die neuen Regelwerke scheinen weniger Wert auf die Entwicklung der Spielfiguren in einer Spielwelt zu legen wie die alten Textmonster mit ihren hunderten Fertigkeiten und Zaubersprüchen, sondern vielmeher das spielen von Geschichten, egal mit welchem Abenteurer, in den Fordergrund zu stellen.
Also so "neu" finde ich Classic Traveller oder Gamma World 1st Ed. nicht.
In diesen Rollenspiel-Urgesteinen war eben NICHT eine durch das schiere Volumen an Auswahlmöglichkeiten, dem Charakter neue Fähigkeiten zu geben, vorgezeichnete Charakter-Entwicklung das Maß aller Dinge. Demgemäß konnte man, wenn man wollte (und der Charakter das überlebte) prinzipiell EWIG denselben Charakter spielen. Nur haben sich seine Spielwerte so gut wie NICHT geändert.
Charakterentwicklung findet natürlich nicht nur über die Spielwerte statt.
Daher TÄUSCHT es, wenn man die "Volumen"-Rollenspiele mit mehr theoretischen(!) Auswahlmöglichkeiten, die man über Jahre und Jahrzehnte hinweg erst so nach und nach zugänglich gemacht bekommt und bei denen man immer noch irgendwas zum Hinzulernen finden mag, als Maß für Charakterentwicklung heranzieht - so sieht es aber im Eingangsbeitrag aus.
Man KANN mit solchen Rollenspielen wie Savage Worlds sehr gut auch über viele Jahre seine Charaktere spielen und sie immer noch weiter entwickeln. - Sowohl mechanisch (SW bietet viel mehr Entwicklungsmöglichkeiten, als man auf den ersten Blick vielleicht erkennen mag), als auch innerhalb der Spielwelt und in der Persönlichkeit des Charakters. - Und das ist sogar unabhängig davon, ob man Plot-Point-Kampagnen spielt oder in einer "plot-freien" Spielwelt wie Hellfrost oder Deadlands: The Weird West spielt.
Die Plot-Point-Kampagnen erfüllen den WUNSCH vieler Spieler nach einem - nach gewisser Spielzeit - erspielten RUNDEN ABSCHLUSS in einem HANDLUNGSBOGEN.
Viele der jahre- nein z.T. jahrzehntelangen(!) Kampagnen, in denen ich mitgespielt habe, weisen kaum einen solchen Handlungsbogen und kaum einen Spannungsbogen auf. - Man spielt nur den "leichten Wellenschlag" in einer konstanten Spielwelt. Aber man spielt nichts wirklich ERSCHÜTTERNDES, das nachher die Welt anders zurück läßt, als vorher.
Zum Spielen dieser WELTERSCHÜTTERNDEN Themen gehört MUT. Da gehört der Mut zum RISIKO dazu. - Wer seinen Charakter 12 Jahre lang in einer Spielrunde mit nur leichtem Seegang gespielt hat, der RISKIERT NICHTS MEHR!
Die packendsten Geschichten sind aber die, bei denen die Helden Leib und Leben und die Zukunft der Welt und aller ihrer Bewohner riskiert haben. - DAS ist es, was auch schon früher Leute spielen wollten - nur sich nicht so getraut haben, wie heutzutage.
Heute sind Rollenspiele, die mit "Cinematik-Elementen" ausgestattet sind, verfügbar, die den Charakteren das Aufnehmen von - aus Spielweltsicht! - großen Risiken etwas erleichtern. - Mit AD&D 1st Ed. kann man natürlich AUCH große Risiken auf sich nehmen, aber man hat eine größere Chance gnadenlos zu scheitern. Bei RuneQuest noch viel mehr. Und bei Traveller.
Ich behaupte einfach mal, weil das aus meiner Erfahrung mit Midgard-, AD&D- und RQ2/RQ3-Runden soweit bestätigt wurde, daß das Spielen von Charakteren über viele Jahre hinweg, die LUST auf mehr Bewegung, mehr Risiko, mehr VERÄNDERUNG deutlich reduziert. Das ist auch der Grund, weshalb solche langlaufenden Kampagnen weniger mit einem KNALL enden, sondern einfach still und leise versickern. - Man trifft sich immer seltener, statt zweimal die Woche, nur einmal im Monat, im Vierteljahr, im Jahr, nur noch auf manchen Cons, und dann ist der Charakter ein alter Bekannter, das ist dann mehr wie ein Klassentreffen und NICHT wie eine Rollenspielrunde. Und irgendwann haben einzelne Mitspieler keine Zeit mehr, dann noch mehr, und dann schläft alles ein. - Ein beklagenswertes Ende für eine Kampagne, in die so viel Spielzeit und Ideen geflossen sind, finde ich.
Heute hat es zudem noch gesellschaftliche Randbedingungen, die es deutlich erschweren extreme Langzeitkampagnen mit entsprechend lange gespielten Charakteren zu spielen: Mobilität.
Mobilität wird heute stärker von allen Menschen GEFORDERT. Mobilität in Bezug auf Ausbildung, Studium, Beruf. - Wer mal im Projektgeschäft ständig aus dem Koffer gelebt hat, der weiß gut, wie wenig Zeit einem dann am Wochenende noch für die Familie bleibt. Und diese Zeit ist für das Rollenspielhobby nicht verfügbar, da Familie Vorrang hat. - Wer mitbekommt, wie dermaßen verschult das Studium unter der Bachelor-Plage abläuft, der versteht, warum Studenten heute für Hobbys, ja einfach für ALLES, was über den vorgezeichneten Tellerrand hinausgeht, keine Zeit mehr haben. - Das ist nicht das Umfeld, in welchem jahrzehntelange Kampagnen gedeihen können. Denn dazu braucht es personelle UND räumliche Konstanz. Ein solides, NICHT-mobiles Umfeld eben. - Stabile Verhältnisse.
Mein Eindruck von viele Midgard-Spielern ist, daß sie "gesetzte Herrschaften" sind, die in stabilen sozialen Verhältnissen leben, und die mit geringer Spielfrequenz und dafür dem Pflegen jahrzehntelang bestehender Beziehungen das bekommen, was sie vom Hobby Rollenspiele erwarten. - Wie in einem Schützenverein, wo die Senioren halt viermal im Jahr bei den Festen mitschießen und regelmäßig am Stammtisch anzutreffen sind. (Ja, subjektiver Eindruck. Es soll auch jüngere und aktivere Midgardspieler geben.)
Die heutige Rollenspiellandschaft kann sich jedoch nicht auf die wenigen, sozial stabilen Nostalgiker verlassen, sondern muß mit den HEUTIGEN Lebensgewohnheiten und -gegebenheiten Schritt halten.
Da sind natürlich die Konkurrenten in den schnelllebigen Medien - insbesondere Computer-, Konsolen-, Online-Spiele - prägend für die ERWARTUNG bei den Kunden. - Ein Computerrollenspiel mit starker "Story" kann man in einer Zeit durchspielen, in der man kaum eine "schwergewichtige" Kampagne im Pen&Paper-Rollenspiel auch nur gestartet bekommt. Und man muß nicht erst Spieler zusammentrommeln, ewig viel lesen, und vorbereiten, und planen - Nicht "Erst die Arbeit, DANN das Vergnügen", sondern "Vergnügen JETZT!" ist der Stand der Dinge.
Daher sind aktuelle Rollenspiele auch oft - nicht immer - von den Regeln sehr viel leichter zugänglich gehalten und vom Umfang her beschränkter als dies Mitte der Achtziger und in den 90ern der Fall war. - In den Urzeiten der Rollenspiele, war AUCH der Regelumfang beschränkt und die Zugänglichkeit gegeben. (Das mag ein Grund sein für die Old School Renaissance, welche Spiele mit genau diesen Meriten "nachempfunden"/hervorgebracht hat.)
Wenn ich nicht weiß, wo und was und für wen ich in 5 Monaten Arbeiten werde (was tatsächlich bei mir aktuell der Fall ist), dann plane ich KEINE LANGEN Kampagnen. Dann plane ich kurzfristig. Und dann BRAUCHE ich schnelle Spiele, die trotz der Schnelligkeit in Vorbereitung und Spielabwicklung immer noch AUSREICHEND Tiefe und Entwicklung bieten.
Das ist ein Balance-Spiel. - Ich möchte natürlich ALLES haben: Viel Charakterentwicklung, Viel Stimmung, Viel Dramatik, Hohe Spielgeschwindigkeit, und anderes mehr. - Und da gibt es ja glücklicherweise ein reichhaltiges Angebot an Spielen, so daß man für seine persönlichen Belange geradezu ein maßgeschneidertes Rollenspiel finden kann.
Man schaue sich mal typische Schul-Runden und Uni-Runden an. Die Mitspieler werden irgendwann mit der Schule oder dem Studium fertig sein, und sich dann in alle Winde verstreuen. - Es sind schon echte AUSNAHME-Runden, die in Zusammensetzungen seit der Schulzeit, über die Uni-Zeit, bis ins Berufsleben (und darüber hinaus) immer noch miteinander spielen.
Der NORMALFALL ist eher, daß Spielrunden in ihrer Zusammensetzung alle drei bis fünf Jahre massive Änderungen erfahren. Das sind so "gefühlt" die Zeiten, wo ein neuer Lebensabschnitt für die einzelnen beginnt, der sich auch auf Hobby, Freundschaften, usw. auswirkt.
Spiele, die MIT ihren Spielern "leben", sind in der Lage diese Änderungen zu begleiten und trotzdem weitergespielt zu werden. - Oft ist es aber doch so, daß man nach Zerfall einer Gruppe sich immer noch als Rollenspieler EMPFINDET, noch Produkte, Abenteuer und Regeln, kauft, aber nicht mehr AKTIV zum Spielen kommt. - Zumindest für eine gewisse Zeit nicht mehr. Bis die Promotion durch ist, bis die Kinder groß genug sind, daß sie alleine in die Schule gehen können, bis man im Job nicht mehr so viel reisen muß, bis ... - Und dann kann man solche Spieler wieder REAKTIVIEREN!
Das geht über Vereine, über ein "Wir bringen die Band wieder zusammen!" eines Alt-Spielers, ...
Das geht. - Und dann hat man den nostalgischen Blick, aber immer noch nicht die Unmenge an Zeit, die man damals effektiv wohl gehabt haben mußte, sondern man braucht es knapper, knackiger, damit die Spielzeit mit SPIELEN verbracht werden kann, und nicht mit "irgendwie miteinander abhängen". - Und hier setzen eben neuere Rollenspiele an, die auf solche Zielgruppen (unter anderem) ausgerichtet sind.
Das sind letztlich rein PRAKTISCHE Erwägungen, die immer wichtiger wurden und werden.
Mit einer stärkeren Ausrichtung auf die "Geschichten" hat das noch nichts zu tun. - Das ist völlig unabhängig davon zu sehen!
Wir haben mit Traveller entlang Sci-Fi-Roman-Plots gespielt - SEHR "story-orientiert". Und wir haben mit demselben Traveller völlig ohne jegliche "Story-Erwartung" einfach das Universum für uns entdeckt. - Und genauso spielen wir heute mit Savage Worlds und Hellfrost manchmal mehr "story" und manchmal mehr "charaktergetrieben" und manchmal mehr "explorativ" und ... - Man spielte und man spielt doch IMMER eine Mischung!
Nur sehr verschrobene "Trennkostler" spielen "nur story" oder "nur Charakter" oder ...
Die Rollenspielprodukte können sowieso kaum echten, harten Einfluß darauf nehmen, WIE denn nun wirklich gespielt wird, und was für VORLIEBEN beim Spiel einer bestimmten Gruppe tatsächlich am Spieltisch zum Tragen kommen.
Somit sehe ich bestenfalls einen - von vielen parallelen - Trend zu mehr "cinematischer Risiko-Minderung", um einfach den in anderen Medien vorgemachten Action-Helden, den krassen Stunts, den Computerspiel-Kampf-Combos entsprechende Versatzstücke auch im Rollenspiel zu ermöglichen. Das ist nur zu verständlich. - Man hat in den 70ern so gespielt, wie die Medienlage der 70er war. In den 90ern hat man sein "dark&dystör" ja auch auf Basis der "Medienfärbung" damit ins Rollenspiel geholt. Und heute sind eben mehr überkandidelte Special-Effects und noch mehr Action angesagt, weil heute ja sogar ein "Geistesriese" wie Holmes sich HERUMSCHLÄGERT.
Rollenspiele sind IMMER Abbilder der gesellschaftlichen Gegebenheiten ihrer Zeit und der Medienfärbung ihrer Zeit.
Daher wird man auch nicht mehr die uralten D&D-Zeiten zurückholen können. Dazu sind die Medien heutzutage viel zu schnelllebig geworden und das Spielmaterialangebot ist viel zu umfangreich (und in MASSEN kostenlos als Fan-Arbeiten im Web zu finden). Das sind ANDERE Zeiten als damals, wo man sich wirklich noch ALLES SELBST machen mußte, weil es so wenige Produkte gab und diese auch noch so teuer und schlecht zugänglich waren.
Man KANN durchaus auch heute noch nostalgisch spielen, aber das ist so wie die "Austin Powers"-Version des damaligen Rollenspiels. - Größtenteils BESCHEUERT und keinen zweiten Blick wert.
Und noch einen ganz anderen Aspekt möchte ich hier nachschieben:
Die Entwicklung von Charakteren (der Begriff "Spielfigur" bezeichnet ja nur die Figur auf der Battlemap und ist somit ausgesprochen irreführend) ist NICHT ZWINGEND eine im Regelwerk zu verankernde Sache. Gerade der Teil der Charakterentwicklung, der sich eben NICHT auf Spielwerteänderungen (meist Steigerungen) bezieht, und der sich auch NICHT auf spielweltbezogene Besitztümer (Raumschiff, Festung, Bauernhof, Piratenschiff, ...), die aus dem Fluff der Welt stammen, bezieht, wurde und wird auch OHNE jegliche Regeln dafür im Spiel seine Bedeutung haben.
Ein Charakter hat immer irgendwo seine "Ecken und Kanten", seine Ziele und Wünsche, seine Beziehungen und Loyalitäten. - Und im Laufe des Spiels kann es einfach sei, daß ein Charakter FERTIG gespielt ist.
Alle seine ihn treibenden Aspekte sind im Laufe des Spiels aufgelöst worden. Er ist an einem Punkt angelangt, wo der Spieler wenig Sinn darin sieht den nunmehr auf einem stabileren Niveau angelangten, "antriebsarmen" Charakter noch weiter zu spielen.
So habe ich immer wieder Charaktere aus meinen Midgard 1 und Midgard 2 Runden herausgezogen, die als interessante Personen ihre eingebauten Konflikte aufgelöst hatten, und somit nun nur noch "vor sich hin" existieren würden, oder sich neue Konflikte suchen müßten. - Da kann ich doch aber gleich einen anderen, einen neuen Charakter erschaffen, der frisch ist, mir zum Spiel neue, unverbrauchte Energie vermittelt, und den alten "zur Ruhe setzen".
Nicht erst mit dem Aufkommen der Mode das charakterzentrierte Spiel als die "Elite" und den Spielweisen herauszustreichen, gab es schon immer Charaktere, die "ihre Geschichte erzählt hatten", und somit für die Kampagne als Ganzes FERTIG waren.
Die Kampagne ist ja immer die vom jeweiligen Spielleiter dargebotene Interpretation der Spielwelt. Und die Kampagne ist das EINZIGE, was beim Kampagnenspiel tatsächlich auf Dauer angelegt ist. Die Spielercharaktere kommen und gehen und man hat ja bisweilen mehrere Runden unterschiedlicher Spielerzusammensetzungen (ja, auch Spieler in beiden oder allen drei Runden in derselben Spielwelt desselben Spieleiters!) dieselbe Kampagne spielen lassen. Halt meist an unterschiedlichen Orten, aber immer in derselben Welt. - Diese Konstanz der Spielwelt eines bestimmten Spielleiters ist es auch, die ein Aussteigen für ein Semester und ein späteres Einsteigen mit einem neuen oder gar dem alten Charakter ermöglicht.
Kampagne im neueren Sinne wird oft als ein einziger großer Handlungsbogen verstanden. Ist der zuende, ist auch die Kampagne beendet. - Das ist schade, weil eine ECHTE Kampagne im alten Sinne viele auch welterschütternde solche großen Handlungsbögen problemlos verträgt.
Zurück zur Charakterentwicklung.
Charaktere sind eben auch einfach mal fertig gespielt. Sie geben nicht mehr genug her, daß man sie weiterspielen möchte. - Bei manchen Rollenspielen ist das sogar das SPIELZIEL so zügig wie möglich alle "issues" des Charakters aufzulösen. Dann ist das Spiel nach einer oder einer kleinen Handvoll Spielsitzungen durch, die Charaktere sind fertig, und man kann eine ganz neue Runde mit ganz neuen Charakteren starten. - Solche Spiele kamen in den Nuller-Jahren gerade gerne aus dem Forge-Umfeld und bei anderen experimentierfreudigen Spieleentwicklern auf. Diese "bedienen" eine ganz anders motivierte Spielerschar, als es die unter Charakterentwicklung nur "mehr Power" für den Charakter, bessere Spielwerte, mehr Zauber, mehr Besitztümer, mehr Gefolgsleute erwartenden Spieler darstellen.
Somit GIBT es einfach ganz klar Spiele, in denen Charaktere eine gewisse "Halbwertszeit" haben. Doch ist diese meist von ÄUSSEREN Bedingungen (Zeit, Verfügbarkeit, Interesse des Spielers) oder von NICHT-regelseitigen Bedingungen (Charakter ist "fertiggespielt", gibt nichts mehr her) geprägt und nur im geringsten Maße von irgendwelchen anderen Eigenschaften neuerer Regelwerke gegenüber älteren Regelwerken.