Geschichten

Einzelne Disziplinen sind doof. Ich suche eher ein stimmiges Gesamtbild.

Dann gehst du aber in deinem Eingangsposting sehr einseitig von der psychologischen bzw. kommunikationswissenschaftlichen Perspektive aus.

Aus theatraler Sicht kann die Wiedergabe einer Geschichte eine in Stellvertreterschaft erfolgte Teilnahme an einem Ritus sein, der durch Durchlebung von ekstatischen Seinszuständen und elementaren Gefühlen (Freude, Leid, Schrecken, Furcht) eine Reinigung von durch diese hervorgerufenen Affekten hervorbringen kann (Katharsis).

Geschichten dienen in diesem Fall dann dazu, die mit der Wildheit und Ursprünglichkeit unserer Natur in Verbindung stehenden Affekte, die von unserer geordneten und gesellschaftlich normierten, sozialen Struktur unterdrückt werden, auszuleben und zu durchleben, in Kontakt mit Aspekten unserer Natur zu treten, die anders nicht zum Ausdruck gebracht werden können (weshalb eine Reinigung überhaupt notwendig ist). Jenseits des reinen, logischen Informationshaushalts einer solchen Geschichte zu evolutionären Zwecken liefert das zum Beispiel auch Hinweise darauf, warum Gewalt bereits bei den ältesten, bekannten Geschichten (Gilgamesh, Illias) so eine große Rolle spielte und warum es heute immer noch so einen großen Stellenwert einnimmt. Rein psychologisch aus der Perspektive sich entwickelnder Problemlösungsstrategien, andernfalls womöglich einfach als Spiegel nicht ausgelebten Gewaltpotentials.

Die Darstellung einer solchen Geschichte spielt dann obendrein noch einmal eine Rolle. Das Durchleben der Affekte ist bereits im Zuhören gegeben, im re-enactment, also im bildlichen und lebendigen Nachspielen der Ereignisse verstärkt sich das erfahrungsgemäß noch einmal mehr. In Schriftform sieht das vermutlich dann nochmal anders aus.
 
Ja das kenn ich bzw erinnere ich mich da an Aristoteles.

Ich finde das klingt nur so esoterisch und unschlüssig. Und das entwertet dann den Gesamtbeitrag, find ich immer.

Interessant ist das schon. Insbesondere da eine Expansion aufs Rollenspiel naheliegt.
 
Naja, durch das Auseinandersetzen mit bestimmten Thematiken soll eine Reinigung erfolgen. Also ein Affekt wie Furcht wird durch Spiel ausgelöst und wieder aufgehoben. Soweit nix besonderes. Aber dass man dadurch auch noch von dieser Furcht gereinigt wird, also eine nachhaltige Verbesserung auftritt, halte ich für gewagt.
Insofern gewagt, dass man das nicht schlüsssig aufzeigen und beweisen kann.

Ich meine bei "Hab keine Angst vor Regen, da stellst du dich einfach irgendwo unter." mag das ja funktionieren.^^ Aber sonst?
 
Hattest du jemals Deutsch LK und das Thema Tragödientheorie nach Aristoteles? Und hast danach die ganzen modernen Tragödien durchgenommen? Emilia Galotti, Die Räuber bzw. Faust? Das hat nix mit Esoterik zu tun.
Ob eine tatsächliche Reinigung eintritt, darüber streiten sich bis heute die Geister. Aber das ganze gleich als Mumpitz zu betiteln weil ein Medium eine Emotion die einem eventuell unangenehm ist auslöst finde ich bissl kurzsichtig.
 
Es würde erklären wieso sich, als Klischeebild, verzweifelte Personen die gerade Beziehungsstress haben, entsprechende Dramen sowie Liebesfilme ansehen, bei denen sie garantiert mitheulen. Am Ende des Films sind sie gerade durch die erzählte Geschichte und die durch die Geschichte mitgelebten und ausgelebten Emotionen entspannter.

Schaut sich manchmal Vom Winde verweht an wenn's ihr dreckiger geht
 
Hattest du jemals Deutsch LK und das Thema Tragödientheorie nach Aristoteles? Und hast danach die ganzen modernen Tragödien durchgenommen? Emilia Galotti, Die Räuber bzw. Faust? Das hat nix mit Esoterik zu tun.
Ob eine tatsächliche Reinigung eintritt, darüber streiten sich bis heute die Geister. Aber das ganze gleich als Mumpitz zu betiteln weil ein Medium eine Emotion die einem eventuell unangenehm ist auslöst finde ich bissl kurzsichtig.
Ich hatte es zumindest im Abi. Aber meistens setze ich eh eher auf meine autodidaktisch angeeigneten Fähigkeiten. Das mag durchaus meinen mangelnden Durchblick begründen. Aber ich sehs immer noch nicht. :)

Zumal du ja auch sagst, dass sich die Geister daran scheiden.
 
Aber dass man dadurch auch noch von dieser Furcht gereinigt wird, also eine nachhaltige Verbesserung auftritt, halte ich für gewagt.
Insofern gewagt, dass man das nicht schlüsssig aufzeigen und beweisen kann.

Durch die Furcht gereinigt, nicht von ihr. Durch das Aufkommen des Affekts (in Stellvertreterschaft durch Mit-Leid) tritt eine Reinigung auf, das heißt nicht, dass man den Affekt loswird oder loswerden muss.

Wie gesagt, es geht darum, dass allgemein der "natürlichen Wildheit" (dem dionysischen, rauschhaften Element) zugesprochene Emotionen gespiegelt, aufgegriffen, miterlebt werden, wodurch eine emotionale und seelische Reinigung auftritt, die widerum in der Tragödie unseres unvermeidbar schmerzbehafteten und fatalen Lebens frohlockt. Sie nicht nur erträglich macht, sondern in gewisser Weise "genießen" lässt.

Ich weiß auch nicht, ob dahingehend wieder irgendwelchen schlauen Gehirnstudien durchgeführt wurden, um zu beweisen oder widerlegen, was wie wo wann beim Zuhören einer Geschichte oder Zuschauen eines Spiels da oben passiert und ob das als eine Art "Reinigung" verstanden werden kann. Die Beweise, die vorliegen, sind größtenteils logische aus der Philosophie oder halt Aufzeichnungen, wobei Letztere auch eher aus zweiter Hand existieren, da Aristoteles die Geburt der Tragödie nie miterlebt hat und nur berichten konnte, was er von außen verstand.

So viel zur Tragödientheorie. Ich wollte auch nur angemerkt haben, dass das ein völlig anderer Standpunkt ist, als der aus der Kommunikationstheorie. Daran ist nicht viel Esoterisches.

Praktisch gesehen geht Teylens Beispiel vielleicht in die richtige Richtung. Demnach würde man sich den Liebesfilm bei Liebeskummer nicht ansehen, um Letzteres loszuwerden, sondern um durch Intensivierung dieses Gefühls eine Reinigung zu erfahren. Auch vom Alltag ist das nicht so weit entfernt. Entladung von Wut geschieht meist in Form eines unkontrollierten und rauschhaften Anfalls, wenn nicht unterdrückt. Wie wichtig diese Formen der Reinigung sind, kann man wohl an sich selbst austesten, wenn man eine Wut oder Trauer nur lange genug zu unterdrücken versucht. Nur ob das letztlich wirklich die gleichen Elemente betrifft, wie die Tragödie, müsste wohl noch erforscht werden, denn diese ruft Affekte hervor, während spontane Entladungen bereits herrschende entlädt. Ist also beim Spiel und der Geschichte mehr so etwas wie die Befreiung von einer Dauerlast und weniger das Reinigen eines akkuten, selbstzerstörerischen Zustands.

Ich meine bei "Hab keine Angst vor Regen, da stellst du dich einfach irgendwo unter." mag das ja funktionieren.^^ Aber sonst?

Versteh ich ehrlich gesagt nicht, das Beispiel.
 
Versteh ich ehrlich gesagt nicht, das Beispiel.
Na ohne konkrete Anweisung seh ich nicht so die Reinigung vom Affekt.

Würde man jetzt unterstellen, dass das Schauspiel mich die Affekte förmlich durchleben lässt, dann läge das schon näher. Aber was muss man dafür einwerfen, damit das funkt? Bei mir gibts da immer noch einen gewissen Abstand.
 
Hat dich ein Film, ein Buch oder ein Lied noch nie berührt, dich zum Weinen oder Lachen, dir soviel Angst eingejagt daß du dich im Sessel verkrochen hast, nur um dann froh zu sein, daß es nur Fiktion war?
Und das geht nicht nur bei Medien so, das geht auch bei Freunden.
 
Wenn ich durch Horrorfilme Angszustände kriege, dann bin ich nicht geläutert/gereinigt, sondern habe so ziemlich das Gegenteil erfahren...

Edit: Ich versteh die Likes bei dir gar nicht. In deinen Beispielen erfährt man doch gar keine Reinigung. Die wirkt ja nachhaltig auf die Persönlichkeit ein.
Ist irgendwie also ziemlich am Thema vorbei. Es geht doch nicht darum, dass das Schauspiel etwas in dir auslösen kann, sondern dass du dadurch eine Reinigung erfährst. Also zumindest bei Aristoteles ist das so.
 
Aufgestaute Emotionen sind Schlacke. Sie irgendwie ausleben zu können und den Kopf frei zu bekommen ist eine Reinigung des Körpers von diesen Emotionen. Geschichten können dabei helfen, in dem sie einem die Möglichkeit bieten, durch sie Emotionalität auszuleben, welche man vielleicht selbst in der Realität gar nicht fähig oder Willens ist, derartig offen rauszulassen.
 
@Skar: das sind Beispiele für katharsische Reaktionen, auch wenn der ursprüngliche Gedanke sich auf negative Gefühle bezieht.
Man durchlebt diese Gefühle durch die Anschauung/Darstellung/Wahrnehmung und wird dadurch von diesen befreit. Jack hat das doch auch schön gesagt. So schwer isses doch nun wirklich nicht zu verstehen...
Und ich verstehe nicht, wie es deiner Ansicht nach auf die Persönlichkeit einwirken soll, wenn man z.B. beim Tod von Bambis Mutter weint. Was auch eine katharsische Reaktion ist.
Noch nie laut aggressive Musik gehört, wenn du wütend gewesen bist?

Oder, um bei den Horrorfilmen zu bleiben: du kannst dieses Gefühl in der relativen Sicherheit deines Sofas erleben, was etwas völlig anderes ist als selbst in der Situation zu sein. Du durchlebst das Gefühl, ohne die negativen Konsequenzen, ohne dir überhaupt einen Kopf über die negativen Konsequenzen machen zu müssen, und ziehst daraus einen Gewinn, denn du wurdest nicht nur unterhalten, sondern hast das Gefühl aus sicherer Perspektive durchleben können und bist somit nicht in Gefahr, das selbst durchleben zu müssen. Jetzt klar?
 
Schön gesagt HJ.
Ich bin mir nur noch nicht ganz sicher, ob das so passt. Zumindest bei Aritoteles schien es mir immer darum zu gehen, aus dem Schauspiel einen Gewinn zu ziehen. Also für die Zukunft.
Bei dir geht es darum sich von Altlasten zu befreien.

Und nochmal zum Hoorofilm. Wenn man den darein überträgt, dann wird doch deutlich, dass man eher ANgszustände dadurch kriegen kann, als Ängste zu besiegen.
Oder seht ihr das anders?
Ich meine du und ich kriegen da vermutlich keine Angszustände von aber Ängste besiegt werden dadurch doch sicher auch nicht. Oder?
 
Erich Kästner hat mal gemeint: Wer keine Angst hat, hat keine Fantasie.
Insofern seh ich Horrorfilme eher als Therapie, seit ich Zombiefilme gucke, hab ich weniger Alpträume dauernd verfolgt und zerfleischt zu werden.
Mir gehts dadurch wesentlich besser und das obwohl ich mitfiebere.
Mir wird einfach klar: Wenn ich den TV ausschalte ist alles vorbei, alles ist ok.
“Fairy tales are more than true – not because they tell us dragons exist, but because they tell us dragons can be beaten.”
~ G. K. Chesterton, writer
Außerdem denke ich mir: Hey, jemand hat den gleichen Mist auch geträumt oder vor den gleichen Dingen Angst wie ich. Daraus könnte man natürlich ableiten, dass entweder an der Sache (vor der man Angst hat) etwas dran ist (schließlich ist man nicht der einzige verrückte) oder einfach dass jemand anderes einen wissen lassen will: Hey, hang on there, you're not alone. Naja, bis auf den Moment wo ich das Degenesis Core aufgeschlagen habe.... DAS war weird.
 
Sei mal froh, dass das nicht "Der Letzte Exodus" war...
Da hats mich gegruselt... und DAS will was heissen.
 
Ich bin mir nur noch nicht ganz sicher, ob das so passt. Zumindest bei Aritoteles schien es mir immer darum zu gehen, aus dem Schauspiel einen Gewinn zu ziehen. Also für die Zukunft.
Bei dir geht es darum sich von Altlasten zu befreien.

Genau diese Befreiung ist der Gewinn mit dem du unbeschwert in die Zukunft gehen kannst. ;)
 
Und nochmal zum Hoorofilm. Wenn man den darein überträgt, dann wird doch deutlich, dass man eher ANgszustände dadurch kriegen kann, als Ängste zu besiegen.
Oder seht ihr das anders?
Ich meine du und ich kriegen da vermutlich keine Angszustände von aber Ängste besiegt werden dadurch doch sicher auch nicht. Oder?

Inwieweit spielt da eigentlich "persönliche Veranlagung" (bzw. die Eigene Persönlichkeit/Lebensgesichte/Erfahrung/Vita/Angstempfinden) eine Rolle?
 
Na ohne konkrete Anweisung seh ich nicht so die Reinigung vom Affekt.

Reinigung mit Anweisung? Kann mir gerade nicht vorstellen, wie das funktionieren soll.

Würde man jetzt unterstellen, dass das Schauspiel mich die Affekte förmlich durchleben lässt, dann läge das schon näher. Aber was muss man dafür einwerfen, damit das funkt? Bei mir gibts da immer noch einen gewissen Abstand.

Das tut es. So gut wie immer. Ich glaube es gibt mittlerweile auch wissenschaftliche Untersuchungen, die sich vor allem auf unsere Spiegelneuronen beziehen. Ich glaube es müssen sogar spezielle psychische Tendenzen vorliegen, um diese Neuronen nicht in ihrer eigentlichen Weise funktionieren zu lassen.

Das wovon du sprichst ist der variierende Grad des "Mit-Leids", also das Mitfühlens bzw. Spiegelns. Man muss nicht drauf losheulen, um einen Affekt zu durchleben, das wäre dann vermutlich nur eine sehr starke, physische Reaktion.

Darüber hinaus ist es schwierig, die Theatertheorie nahtlos auf Filme oder andere Medien zu übertragen. Es kann sein, dass das Filmmedium eine andere Form der Distanz schafft, als der Live-Charakter des aktiven Schauspiels, es kann auch sein, dass die gesellschaftliche Entrückung von rituellen Zeremonien dazu führt, dass wir stärkere, innere Widerstände aufbauen und deswegen der Mit-Leids-Effekt, der wahrscheinlich dennoch stattfindet, sich kaum bemerkbar macht. Für die einen ist ein Black Metal Konzert ne dumme Freakshow, wo Pseudos mit Tierblut rumspritzen, für andere ist es eine kathartisch-rauschhafte Erfahrung, die bewusstseinserweiternd wirkt. Das gilt vermutlich für jede Art des "gesellschaflichten gatherings" -> Flashmob, Konzerte etc. etc.

Dazu kommt natürlich noch, dass Dinge wie Horrorfilme sowohl abstumpfen, als auch hypersensibilisieren können, je nach Typ, persönlichen Erfahrungen und Traumata etc.

Ich denke man kann aber festhalten, dass das "Durchleben" in gewisser Weise auf jeden Fall stattfindet, da man Emotionen und Affekte in der Regel spiegelt, selbst wenn man sie nur auf nem Plakat sieht oder von ihnen hört. "Soziopathen", die Emotionen anders oder "gar nicht" empfinden, tun das zum Beispiel in der Regel nicht - deswegen empfinden viele auch keinerlei Mitleid.
 
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