Also wir haben das mit unserem Spielleiter durchgespielt. Ich kann allerdings nur die Ausschnitte aus unserer Chronik hier rein zitieren, weil ich das nicht mehr alles wiedergeben kann:
"Awakening
Polizeisprecher Ramsay ist in einer Tretmühle gefangen. Jeden Tag läuft praktisch dasselbe Schema ab, und egal was er tut, er scheint seinem Schicksal nicht entkommen zu können. Die Zeit ist wie eine Schleife für ihn, mit nur minimalen Abweichungen.
Ramsays Leben ist ein Leben mit der Lüge, ein Leben für die Lüge. Sein Captain ist ein, optimistisch gesprochen, pragmatischer Mann, bei dem der Zweck die Mittel heiligt. Egal, was seine Polizisten falsch gemacht haben, seien es einfache Fehler oder ausgewachsene Vergehen, lässt er vertuschen. Und der für die Vertuschung zuständige ist Ramsay. Tag für Tag tritt Ramsay vor die Presse und lügt. Ein Teil der Journalisten glaubt ihm, einem Teil ist es egal, ein anderer Teil durchschaut die Lüge. Es erscheinen entsprechende Artikel in der Zeitung, die die Polizei entweder lobpreisen oder kritisieren. Am nächsten Tag folgt ein neuer Fall, der des Vortages ist vergessen und alles fängt wieder von vorne an.
Aber Ramsay hält durch. Untergeschobene Beweise? Notwendig. Erzwungene Geständnisse? Hat funktioniert. Vermasselte Geiselbefreiung? Die Wahrheit würde nur die Bevölkerung beunruhigen. Ein erschossener schwarzer Verdächtiger? Kollateralschaden. Ramsay hält dicht, Ramsay lügt und die Kollegen feiern ihn dafür. Überall. Polizistenkneipe, Edelitaliener, Tanzlokal, überall sind sie schon da, wie vom Schicksal geführt.
Bis eines Tages zwei Frauen in sein Leben treten, Agentinnen des Schicksals, die dem Rad in die Speichen fallen. Philadelphia verändert sich, Dornen ranken sich aus dem Asphalt, Vögel lassen sich nieder. Die Ranken packen Ramsay, bohren sich in sein Fleisch, drohen ihn zu ersticken. Und da erscheint Bellatrix Orion und stellt ihn vor die Wahl: Ihr die Hand zur Freiheit zu reichen, sein Leben, die Lüge weiter zu leben.
Oder zu sterben. Aber Ramsay weigert sich. Er zieht seine Waffe – und hält einen schneeweißen Umschlag in Händen. Er erbricht das Siegel mit der Taube und findet sich plötzlich auf der Straße wieder. Die Einladung stammt von Sharon Colt und bittet ihn zu einer Soirée für außergewöhnliche Menschen am heutigen Abend.
Eine seltsame Entscheidung, mehr braucht es nicht, um einen Menschen auf den Weg zum Wachturm des Mondsilbernen Dorns zu bringen. Und Ramsay tut das, er folgt der Einladung folge zu Liberty Place 1, einem mondänen Wolkenkratzer. Oben empfängt ihn Sharon, mit weißem Haar und ganz in weiß gekleidet. Er folgt ihr. Und plötzlich ist er wieder auf der Straße, wieder wird die Straße von Dornen aufgerissen und wieder sind da die Vögel. Aber Bellatrix ist fort, dafür steht vor ihm ein Einhorn. Es bedeutet ihm, zu folgen.
Eine seltsame Entscheidung. Ramsay folgt dem Einhorn, durch Philadelphia, hin zur City Hall. Sie ist ganz von Dornen umrankt, nur William Penns Statue ganz oben ist frei. Ernst blickt der alte Mann aus der Vergangenheit zu Ramsay herunter. Das Einhorn wartet vor dem Rathaus. Ramsay geht hin, und wieder wird er von Dornen gepackt, erneut blutet er, fließt das Leben aus ihm heraus. Das Einhorn spricht, es fordert ihn auf, sein Horn zu nehmen und ewig zu leben. Ramsay ist versucht, das Geschenk anzunehmen. Doch da ist eine Stimme in seinem Kopf – Sharons Stimme. Sie warnt ihn, bittet ihn, es nicht zu tun – sondern einfach wegzugehen. Nur eine Frage des Willens, sagt sie.
Ramsay nimmt seinen Willen zusammen. Er bewegt seine Füße. Und es funktioniert, er ist frei. Er streichelt das Einhorn, das es zulässt. Und dann geht er, lässt Arkadien hinter sich. Als er weggeht, bricht der Asphalt unter seinen Füßen auf, und silbernes Mondlicht strahlt heraus, strahlt nach oben und brennt Ramsays Namen in die Statue Penns.
Apollo Erwacht. Er steht im Ballsaal, Sharon neben sich. Sie stellt ihn einem jungen Mann vor, Nathan Pitrelli. Und sie sagt, sie beide könnten das Schicksal Philadelphias verändern. Und dann kommt das Räuspern.
Da ist ein grauer Mann. „Komm mit mir“, sagt er zu Apollo.
Und Apollo tut es.
Eine seltsame Entscheidung.
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Alles läuft geordnet ab im Starbucks an der Bibliothek der U Penn. Ein Wunder, bedenkt man die Menge an jungen Leuten, die hier ein- und ausgehen. Aber das Starbucks an der Bibliothek hat Amy Patel, und es hat Lia McCloy. Beide sind organisert. Beide denken strukturiert. Und mit beiden im Management und im Service läuft das Starbucks an der Bibliothek wie ein Uhrwerk. Heute jedoch nur gerade so. Denn Lia ist in Gedanken, Gedanken, die sie kaum laut formulieren kann. Okkulte Zeichen, die im Zusammenhang mit dem Tod ihrer Freundin Kayla stehen. Was soll es bedeuten? Hat es etwas zu bedeuten? Kann es überhaupt etwas bedeuten?
Es muss, sonst stünde sie wieder bei Null. Gerade als sie diesen deprimierenden Gedanken hegt, hört sie Mädchen tuscheln. Sie sprechen über okkulte Zeichen und geheime Schriftzeichen. Lia wird hellhörig und beschließt, sie anzusprechen. Den Termin mit ihrem Freund James verschiebt sie.
Auf ihre unverblümte Anfrage hin verschließen sich die Mädchen – außer eines. „Diese Zeichen bedeuten“, sagt sie und deutet auf Lias Foto, „dass du heute zu einer Party eingeladen bist.“ Sie strahlt die Profilerin fröhlich an. Lia sagt zu und begibt sich dann in James Büro. Sie besprechen die neuesten Entwicklungen an der Schnittstelle zwischen Cognitive Science und Kriminalistik und vor allem Lias Suche. Dann erhält sie eine Nachricht von Captain Benedict. Das Praktikum ruft.
Ein junger Schwarzer wurde verhaftet, weil er eine Frau umgebracht haben soll. Aber er erinnert sich an nichts. Der Captain erwartet wie immer Lächerliches von Lia. Sie soll den Mann überführen, ihm die Tat nachweisen – oder die Wahrscheinlichkeit, dass er es getan haben könnte. Die Profilerin betrat den Raum und begegnete einem überheblichen jungen Mann, der sich seiner Lage gar nicht recht bewusst war – der aber auch ehrlich war. Lia überprüfte ihn anhand aller Methoden, die sie kannte, glich die Erkenntnisse ihrer Wissenschaft mit seinem Verhalten ab. Das Ergebnis war klar. Der Mann war sich nicht bewusst, der Frau, die tot neben ihm lag, etwas getan zu haben. Es war ein Mysterium.
Lia verließ das Präsidium unter den üblichen Schmähungen des Captains, dem wissenschaftliche Ansätze so fremd waren wie respektvolles Verhalten gegenüber Praktikanten. Er würde seine Meinung sicher auch nicht ändern, sähe er Lia an diesem Abend im Verbindungshaus von Alpha Pi Omega. Kaum dass sie das Gebäude betritt, hat sie einen Becher mit irgendeinem alkoholischen Gemisch in der einen und das Mädchen aus dem Starbucks an der anderen Hand. Aber Lia lässt sich von keinem von beiden irritieren. Sie befragt ihre Gastgeberin erneut nach den okkulten Symbolen. Diese zieht sie an der Hand die Treppe hinauf, den oberen Gang entlang und in ein Zimmer am Ende des Flurs – ein Zimmer voller Stofftiere, Plüschkissen und Teenieposter. Dann hüpft sie auf das Bett und fordert Lia auf, zu ihr zu kommen. Irritiert aber neugierig leistet diese der Aufforderung Folge.
Plötzlich verändert sich das Zimmer. Stofftiere werden zu alten Folianten, Poster zu Diagrammen und Abbildungen merkwürdiger Zeichen. Und das Mädchen selbst scheint ernster zu werden. Sie hört sich Lias Erlebnisse an, ihre Mutmaßungen und die Probleme, vor denen sie steht. Dann fragt sie: „Hast du schon einmal an Gedankenkontrolle gedacht?“
Irritiert verlässt Lia die Party. Gedankenkontrolle? War das nicht absurd? Es passte in keine wissenschaftliche Theorie, in keine Lebenserfahrung, nicht einmal wirklich in Märchen. Doch das Mädchen hatte die Frage ernst vorgebracht und schien von der Möglichkeit überzeugt. Was hat das nur zu bedeuten? Und was bedeutete die Feder, die Lia gefunden hatte – groß, golden schimmernd und doch leicht?
Am nächsten Tag meldet sich erneut das Polizeipräsidium. Der Mordverdächtige des Vortages hat endlich seinen ihm zustehenden Anruf erhalten. Er ruft aber nicht, wie Lia ihm geraten hat, seinen Anwalt, sondern sie an. Die Studentin ist fassungslos, jedoch nicht bereit, den Mann, den sie für unschuldig hält, hängen zu lassen. Sie begibt sich ins Präsidium und spricht erneut mit ihm – diesmal mit dem surrealen Möglichkeit einer Gedankenkontrolle konfrontiert. Sie fragt den jungen Mann danach, der sich an einen Kerl erinnert, der ihn merkwürdig angesehen habe. Danach ist seine Erinnerung verschwunden. Lia scheint es nicht mehr auszuhalten. Sie stellt die Frage nach der Gedankenkontrolle ganz direkt. Aber der andere versteht nicht. Da ist nur wieder ein goldene Feder. Frustriert verlässt die junge Frau das Verhörzimmer – und läuft prompt dem Captain in die Arme. Der ist sichtlich aufgeregt und staucht sie zusammen, was der Blödsinn von wegen Gedankenkontrolle bedeuten solle, ob sie völlig übergeschnappt sei, dass an ihrem Wissenschafts-Hokuspokus ja überhaupt nichts dran sei und dass Lia, falls der Verdächtige sich mit der Gedankenkontrolle auf Unzurechnungsfähigkeit rausrede, was erleben könne.
Aber der Zweifel kommt immer stärker. Und in einem scheint der Captain Recht zu haben – die Wissenschaft hat vielleicht nicht auf alles eine Antwort. Lia kehrt zurück in ihr Wohnheim und läuft ausgerechnet Josh in die Arme. Ihr Exfreund hat immer noch nicht verstanden, dass es aus ist. Er will sie zurückhaben, aber seine Worte machen deutlich, dass er sie immer noch nicht versteht, dass er nicht versteht, wie sehr sie Kaylas Tod klären muss. Und dennoch: Er ist da und er will ihre Stimme hören und so bricht es aus ihr heraus, die Zweifel und die Unsicherheit und die merkwürdigen Ereignisse.
Ein Scheidepunkt. Josh hat eine Chance, die Chance, Lia ernst zu nehmen und sich als Freund zu beweisen. Doch er tut es nicht. Es kommt nur das, was immer kam: Vorwürfe, Abwiegelung, Vertröstungen. Ein Scheidepunkt. Lia merkt, dass das, was sie wahrnimmt, das was sie als wahr erkennt, nicht mehr mit dem Zusammenpasst, was alle anderen als rationales System anerkennen, als Wirklichkeit. Aber diese Wirklichkeit ist eine Lüge, und beschienen wird sie von einer goldenen Feder.
Lia lässt Josh stehen und geht in ihr Zimmer. Sie will die Katze füttern, aber sie hört schon, dass der Hunger den Kater nicht vom Toben abhält. Als sie den Raum betritt, sieht sie ihn hinter etwas herjagen: einer goldenen Feder. Die Profilerin hat Redebedarf. Zum Glück schreibt das Mädchen aus der Verbindung sie bald darauf an: Clubbing im Matrix. Zumindest wird es dort keine grusligen Zimmer geben.
Bald darauf stehen sie in der Schlange vor dem Matrix. Aber nicht lange. Die Leute scheinen sie vorzulassen oder verlassen die Reihe der Wartenden. Kurze Zeit später sind sie beim Türsteher, einem großen Kerl, einer unheiligen Vereinigung von Brad Pitt und Vin Diesel, und der Ausstrahlung eines Tigers, der zugleich Zen-Meister ist. Und dann sind sie auch schon drin. Das Stroboskop-Licht zerpflückt Lias Gehirn zu Konfetti. Aber sie hat ihren Verstand auf eine Frage ausgerichtet: Was hat das zu bedeuten?
Und das Mädchen sagt es ihr. Oder vielmehr, es weist ihr den Weg. Ja, es gibt Dinge, die über den Verstand und menschliche Vorstellungen hinausgehen. Vielleicht hat der Mörder nicht den Verdächtigen kontrolliert, sondern alle anderen. Wenn es keine Beweise gibt, hat er vielleicht den Zeugen das Gedächtnis verändert und Cops beeinflusst, Überwachungsaufnahmen verschwinden zu lassen. Aber die Antwort würde Lia nur finden, wenn sie den goldenen Federn folgt.
Und Lia tut es. Sie lässt sich darauf ein, sie verlässt das Matrix, tritt hinaus in den strömenden Regen, blickt hinauf zu den tiefen, schwarzen Wolken, wo vor wenigen Minuten noch strahlender Sonnenschein war. Sie hört den Donner und sie sieht, weit weg, einen einzelnen Blitz herabzucken.
Dann ist da der Schrei – laut, durchdringend, majestätisch. Nicht von dieser Welt. Lia läuft los, immer dem Blitz und dem Schrei nach. Sie merkt gar nicht, dass sie nicht nass wird, dass der Wind sie nicht aufhält, dass die Elemente ihr nichts tun. Dann kommt sie an. Unter ihr feuchte Erde, um sie herum Steine in verschiedenen Größen und Formen.
Vor allem aber ein Wesen. Der scharfe Schnabel, die wachen Augen, die spitzen Klauen würden zuerst auffallen, wäre da nicht das goldglänzende Federkleid. Der Hippogreif schreit erneut, aber er tut nichts. Er blickt Lia nur erwartungsvoll an. Die sieht den Blitz hinter dem Fabeltier einschlagen. Dort, auf einem flachen Stein, liegt ein Laib Brot. Sie spürt, dass dort die Antwort liegt. Sie versucht, an dem Hippogreif vorbeizukommen, doch er schreit sie an, und der gewaltige Schnabel lässt sie sich besinnen. Sie will ihn umgehen, doch er weist sie mit den Schwingen ab. Sie bittet ihn, doch die Bitte bleibt unbeachtet.
Dann befiehlt sie es: „Lass mich vorbei!“ Und das grandiose, tödliche Geschöpf neigt den Kopf und lässt sie vorbei. Lia tritt vor. Sie ergreift das Brot und beißt hinein. Durch die Kruste schmeckt sie intensiven Safran. Sie schluckt, und es ist ihr, als würde mit dem Brot die Wahrheit in ihr Einzug halten, als würden ihr die Augen geöffnet. In ihren Eingeweiden formt sich der Safran zu einem goldenen Schlüssel. Er schwebt nach oben, in den Himmel. Die schwarzen Wolken weichen vor ihm zurück und in das dahinterliegende tiefe Blau schreibt er ihren Namen ein.
Dann ist der Wachtraum vorbei. 7510 steht auf einem Friedhof vor dem Grab Benjamin Franklins und hinter ihr ertönt eine Stimme: „Komm mit mir.“ Sie dreht sich um und sieht hinter sich einen grauen Mann. Sie wirft keinen Blick zurück. Er sieht aus, als würde er etwas über okkulte Symbole wissen.
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Nachdem Lia sein Büro verlassen hat, lässt sich James in seinen Lehnstuhl zurückfallen. Seine Freundin hatte viele Fragen, Fragen, die er zum Teil nicht beantworten kann. Ob es überhaupt eine Antwort darauf gibt? Der Doktorand wischt den Gedanken beiseite. Ein Blick auf die Uhr bestätigt den rettenden Gedanken: Gleich ist es Zeit für die verabredete Quake-Session! James bewegt die Maus auf den Shortcut zu.
Und macht Halt. Der Cursor ruht über dem Symbol, das zu seiner Doktorarbeit führt. Er zögert. Sein Blick geht zum Quake-Shortcut. Zurück zum Dokument. Zocken war verabredet. Er liebt diese Retro-Spiele. Aber er will die Doktorarbeit fertigschreiben. Er ist schon weit gekommen. Sein Doktorvater ist zufrieden. Es ist nicht mehr viel zu tun. Stolz brandet in James auf. Kurzentschlossen schaltet er den PC ab, greift nach seiner Notebooktasche und geht Richtung Bibliothek. Er würde sich an seine Arbeit setzen und heute noch einiges schaffen. Er kann es. Er hat das Zeug dazu.
Eine Stunde später sitzt er über den Büchern und hat eine Seite geschrieben. Gerade klopft er sich für das Erreichte mental selbst auf die Schulter, als seine Freunde hereinplatzen. Sie machen ihm Vorwürfe, dass er sie im Stich gelassen hat, dass die Arbeit ihm wichtiger war, obwohl die doch warten könnte. Aber James lässt das nicht auf sich sitzen. Er verteidigt sich und seine Arbeit, weist seine Freunde darauf hin, dass sie auch einmal ohne ihn spielen können. Loyalität zu seiner Arbeit oder zu seinen Freunden? Die Entscheidung fällt nicht leicht. James ist hin- und hergerissen.
Und es hört nicht auf. Es erreicht ihn eine Nachricht seines Vaters, zum Essen und Reden. Der Sohn ist wenig begeistert. Er weiß, wie es enden wird: in ungerechtfertigten Vorwürfen und dann in beleidigtem Schweigen. Stolz auf das Erreichte wischt die Loyalität zu seinen Eltern beiseite. Er sagt die Einladung ab; doch sein Vater lässt nicht locker. Schließlich gibt James nach.
Dasselbe widerfährt ihm auch beim Treffen mit seinem Bruder, der wieder einmal von sich hören hat lassen. Wie immer bezahlt James den Kaffee. Wie immer erzählt sein Bruder mit lebhafter Begeisterung von seinem neuen Projekt, von dem Durchbruch, der nun endlich kommen wird. James hört sich das alles an, denn er ist loyal zu seinem Bruder, auch wenn das Ende bereits absehbar ist. „Kannst du mir ein bisschen Geld leihen?“ Wieviel? „5000 Dollar.“ Das ist zu viel. James überschlägt seine Möglichkeiten. Er könnte einige Zeit wie ein Mönch leben, dann könnte er sich das Darlehen leisten. Aber der Stolz ist größer. Nein, maximal 500 Dollar. „Okay“, sagt sein Bruder viel zu schnell als dass es enttäuscht klingen könnte. Wofür braucht er das Geld? „Unser Manager hat uns da was an Land gezogen. Eine Tour als Vorband der Rebels. Das wird der Durchbruch! Aber wir brauchen eine neue Anlage, Amplifier und alles.“ Bald verabschiedet sich der Bruder. Er wird wegen der Tour einige Zeit aus der Stadt bleiben, sagt er. Halt dich fern von Drogen, okay? „Okay.“
Dann Blumen besorgen und ab zur Villa der Eltern. Begrüßung durch die Sprechanlage. Sein Vater lässt ihn herein. Die Mutter stellt das Essen auf den Tisch. Dann essen sie. Small Talk, bis es aus den alten Desmonds herausbricht: Vorwürfe, wie erwartet. Er mache nichts aus seinem Leben. Er trödle herum, studiere zu lange. Er solle sich endlich einen vernünftigen Job suchen oder zumindest einer vernünftigen Disziplin zuwenden. Er soll endlich erwachsen werden, die Spielerei und das Rollbrettfahren aufgeben. Und da kommt wieder der Stolz zum Vorschein. James wehrt sich, er verteidigt sich, er rechtfertigt sich. Seine Eltern sehen es nicht ein. Zu den Vorwürfen kommen Drohungen: Einstellung der Zahlungen. Rückkehr ins Elternhaus, um unter Beobachtung zu sein. Und letztlich wollen die Eltern ihren Einfluss an der U Penn geltend machen, um James herauswerfen zu lassen. Da kommt die Loyalität zum Vorschein. Es sind immer noch seine Eltern, und auch wenn es kleinlich und engstirnig ist, wie sie reagieren, sie tun es nur aus Sorge und Liebe. „Aber“, wirft der Stolz ein, „es ist immer noch kleinlich und engstirnig. Und unfair.“ „Man kann es ihnen klar machen“, gibt die Loyalität zurück, „man braucht nur Geduld und Demut.“ So geht es hin und her.
Und schließlich zerbricht etwas in James. Zerrissen zwischen Loyalität und Stolz, mit der Aussicht, seine gesamte Existenz zu verlieren, wird alles um ihn schwarz – außer dem Steakmesser in seiner Hand. Er kann es hier und jetzt beenden. Er oder seine Eltern. Er oder seine Eltern. Er oder seine Eltern. Stolz oder Loyalität.
Dann wird es ganz schwarz, und kurz darauf findet sich James in einem kleinen dunklen Raum wieder. Vor ihm steht er selbst in der Uniform eines britischen Rotrocks. Und noch einmal er selbst im Gewand eines Minuteman. Sobald die beiden den Mund aufmachen ist ihm klar, dass sie die Verkörperung seines Stolzes und seiner Loyalität sind. Beide fordern ihn auf, sich ihrem jeweiligen Ideal ganz zu verschreiben. Sie haben den Ausweg, sagen sie. Tatsächlich tun sich hinter den beiden Gänge aus dem ansonsten geschlossenen Raum auf. James muss sich entscheiden.
Oder auch nicht. Er weigert sich, seinen Leidenschaft nachzugeben. Mit einer Willensanstrengung bahnt er sich seinen eigenen Weg, zwischen beiden hindurch. Stolz und Loyalität können ihm nicht folgen. Aber jemand erwartet ihn: sein Bruder. Er macht James Vorwürfe: „Du hilfst mir nicht, weil du mich liebst. Du tust es nur, um dich besser zu fühlen. Weil du der Jüngere bist und dich vor unseren Eltern beweisen musst. Um dich von mir abzugrenzen, dem Abgestürzten.“
Als er weitergeht, trifft er auf seine Eltern. „Mach endlich was aus deinem Leben. Übernimm Verantwortung. Lass dich nicht so treiben.“
Und schließlich steht wieder eine Version seiner selbst vor ihm, nackt und bloß. „Jeder ist für sein Leben selbst verantwortlich“, sagt er mit strenger Miene zu sich selbst. „Lass dich nicht von deinen Leidenschaften, Gefühlen und Werten beherrschen, beherrsche du sie!“
Dann ist James wieder jenseits des Labyrinths. Aber er ist nicht im Haus seiner Eltern. Er steht vor dem Grab des Unbekannten Soldaten, und darauf steht George Washingtons Statue und blickt ihn aus schwarzen, leeren Augen an. Um das Denkmal ranken sich Tollkirschen, prall und glänzend laden sie ihn ein, zu essen. James will nicht, aber sein Ich spricht zu ihm: „Tu es. Beginne ein neues Leben. Ein Leben, in dem du die Kontrolle hast.“
Der Doktorand greift sich eine Tollkirsche und beißt hinein. Sofort breitet sich schorfiger Ausschlag auf seiner Haut aus. Der alte Washington blickt ihn durchdringend an. Dann zieht er ein Messer, schneidet sich in die Hand und reicht die Klinge an James.
James nimmt sie, schneidet sich die Hand; in Schmerz und fließendem Blut gewinnt er Klarheit, und er reicht seine Hand Washington – dem Mann der immer war, was er sein musste, ein General, als ein General gebraucht wurde, ein Präsident, als ein Präsident gebraucht wurde, eine Legende, als eine Legende gebraucht wurde.
Der Handschlag wird vollzogen, das Blut vermischt sich, und in diesem Gemisch spürt James wie sein Name in einen eisernen Handschuh eingeschrieben wird. Und er sieht, er sieht die Gedanken der Menschen, die auf dem Platz um ihn herum sind, er spürt, wie die Gedanken miteinander verbunden sind, dass niemand wirklich alleine ist.
Und dann hört Vidya eine Stimme. „Komm mit mir.“ Er sieht einen grauen Mann auf sich zukommen.
James geht zu ihm. Er würde ein Lehrling sein, wenn er ein Lehrling sein musste.
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John überblickt die Schlange, wie sie sich sanft hin und her bewegt, wie sich Köpfe recken, so dass eine Wellenbewegung durch die Reihen geht, das leise Tuscheln, wie das Zischen einer Kobra. Die Schlange ist ein Mikrokosmos, ein eigenes Ökosystem, das weiß er. Es gibt eine Nahrungskette, es gibt Jäger und Beute. Aber es gibt auch jemanden, der an der Spitze steht, der aufpasst, dass niemand die Regeln überschreitet und sich mehr nimmt, als ihm zusteht.
Das ist der Türsteher, das ist er selbst. Für John ist das kein Job, es ist eine Berufung. Und es ist irgendwie noch mehr geworden, seit dieser Nacht, als er zu seinem Auto wollte und in den Überfall platzte. Es ist … eine Dringlichkeit, ein Anliegen.
John überblickt die Schlange und achtet auf Leute, die Ärger machen könnten. Er kann eine kleine Gruppe ausmachen, die – und schon sagt man ihm von hinten, dass er Leute reinlassen kann. Er öffnet die Sperre und zählt ab. Unerbittlich wie ein Naturgesetz muss er die Absperrung vor der Gruppe mit den Halbstarken wieder schließen. Ihm ist klar, was kommen muss, was das Gesetz der Natur fordert: Das Männchen muss sich vor seinen Betas und den Weibchen produzieren, es muss sie beeindrucken, um seine Dominanz und seine Paarungspartner zu sichern.
Exakt das passiert. John weiß, was er zu tun hat. Das hier kann ganz schnell eskalieren, und dann könnten Unschuldige darunter leiden. Er versucht es auf die sanfte Art. Er redet, beruhigt, argumentiert. Doch er hat hier keinen Zugriff mehr. Zu weit ist der Rüpel in seiner Rolle gefangen. Seine Instinkte treiben ihn an, die Konfrontation zu suchen. Er greift nach einer Flasche und an. John ist jedoch kein alkoholisierter Kampfhahn, er ist ein trainierter Student der Kampfkunst. Ohne Mühe weicht er aus, nicht nur dem Anführer, auch seinen Lakaien. Blitzschnell hat er den Rowdy gepackt und schleudert ihn auf die andere Straßenseite. Seine Gefolgschaft ist eingeschüchtert, sie erkennen ihren Platz an und suchen das Weite.
John überblickt die Schlange und sieht, wie sich Smartphones langsam senken. Beeindrucktes Getuschel zieht sich durch die Wartenden und er weiß, dass er ein Beispiel abgegeben hat. Ein Beispiel, dass die Regeln eingehalten werden müssen. Mehr noch, dass die Regeln einen Sinn haben. Das ermutigt ihn, aber er muss an die Nacht der Überfalls denken und er weiß, wenn er nicht mehr hier ist, werden die Räuber leichtes Spiel haben.
Aber er muss schlafen, so sehr es ihn wurmt, und da kommt schon Brett, der ihn ablöst. Aber Brett ist neu und unerfahren, also schleicht John noch eine Weile um den Block und begibt sich dann zu einem kleinen Deli, um einen Energydrink zu kaufen. Da stößt etwas an seinen Fuß. Er blickt nach unten und sieht eine Dose mit einem Energydrink. Neu, nicht abgelaufen, verschlossen. Der Türsteher hebt sie auf und betritt das Geschäft. „Eine von euren?“, fragt er den Verkäufer. Nein. Er nimmt eine Dose seiner Marke, bezahlt und geht wieder nach draußen. Unbewusst öffnet er den Behälter und trinkt. Neue Kraft fließt durch seine Adern, sein Herz pumpt und schlägt und erhöht seinen Blutdruck zu einem ekstatischen Trommelwirbel. Seine Pupillen weiten sich,
John überblickt die Schlange und sieht Ärger. Die Kerle sind schon bei Brett, und der hat die Lage ganz klar nicht im Griff. John eilt hinüber, als die Schlägerei losgeht. Brett ist in Bedrängnis, aber sein Kollege macht gleich kurzen Prozess. Und er macht dem Neuen Vorwürfe. Vielleicht zu Unrecht, Brett ist noch ein Welpe, aber er hat eine Verantwortung, und der ist er nicht gerecht geworden. John schickt ihn hinein, um sich verarzten zu lassen und hält wieder selbst die Wache.
Irgendwann bestellt er drinnen ein Sandwich. Als man es ihm bringt, beschwert sich der Bote, dass John schon eines habe. Der Türsteher sieht sich um und tatsächlich liegt auf dem Boden ein in Papier eingeschlagenes Sandwich. Das Papier ist außen dreckig, das Brot angebissen, aber noch gut. Trotzdem kein Vergleich zu einem frischen. John wirft das alte Hoagie in einen Abfalleimer und verspeist das frische.
Dann kommt der Morgen und mit ihm die Putzkolonne. Das Matrix macht kurz Pause, und John kann das jetzt auch tun. Er geht nach Hause und schläft. Aber nicht lange. Bald wacht er auf, und an ihm nagt das Gefühl, dass irgendwo jetzt in diesem Moment jemand die Grenzen überschreitet. Dass Unrecht geschieht, das er verhindern könnte. Er isst schnell etwas und fährt zurück zum Club. Dort steht Chuck an der Tür. Chuck ist erfahren, aber er ist auch korrupt. Er lässt zu viele Leute ins Matrix hinein oder die falschen. Wenn das Geld stimmt, ist Chuck bereit, die Naturgesetze zu beugen.
John ist aufgebracht. Er geht in den Keller und die Stroboskoplichter zerfetzen sein Gehirn zu Konfetti. Aber er hat seinen Sinn ausgerichtet: auf Sullivan, den Eigentümer. Er geht zu ihm und nimmt kaum den Dealer wahr, der hinten in der Ecke seine Geschäfte macht. Der Türsteher stellt seinen Boss zur Rede. Er muss doch wissen, dass es eine Ordnung gibt, dass jeder nur so viel nehmen soll, wie er braucht und nicht mehr. Dass die Starken nicht das Recht haben, die Schwachen zu missbrauchen. Aber Sullivan will es nicht hören. Ihm ist das Ökosystem egal, solange die Kasse stimmt. Solange die größten Räuber draußen bleiben, nimmt er kleine Verstöße in Kauf. Jeder ist sich selbst der Nächste.
Der Kampfsportler stürmt nach draußen. Er kann es nicht fassen. Soll so die Welt sein? So die Menschheit, die dominierende Spezies? Da hört er ein Zischen. Er schaut umher und sieht am Ende der Straße einen Waschbären. Er scheint ihn zu rufen. Merkwürdig, aber auch nicht merkwürdiger als die Menschen. Vielleicht sogar verständlicher. Er geht zu dem Tier hin und schaut es an. Der Waschbär sieht hungrig aus. John zieht ein Brot aus seiner Tasche und gibt es ihm. Der kleine Säuger schnuppert und verschlingt dann hungrig das Sandwich. Dann blickt er John noch einmal an
und rennt los. Irgendetwas in John lässt ihn hinterhereilen. Zu Recht, denn der Waschbär führt ihn, er führt in durch den Dschungel der Stadt. Er zeigt ihm die Wesen, die dort wohnen – nicht nur Menschen, auch Katzen, Hunde, Ratten, Eichhörnchen, Tauben, Spinnen, Kakerlaken. Er zeigt ihm das Ökosystem und die Naturgesetze, nach denen es funktioniert. John sieht, dass alles seinen Platz hat. Er sieht, dass alle Wesen Teil des Ganzen sind. Vor allem sieht er, dass alle Arten ihre Beschützer haben. Jemand, der über die Kranken, Alten und Hilflosen wacht, der aufpasst, dass sich keiner mehr nimmt als er braucht.
Schließlich kommen sie an einem glatten weißen Stein inmitten eines Parks an. Der Waschbär bleibt davor stehen. Er schaut John an. Und dann spricht er.
„Hast du es verstanden? Du hast große Macht. Und du hast eine große Entscheidung zu treffen. Ein Räuber zu werden, ein Vernichter – oder ein Wächter, ein Beschützer.“ John sieht den weißen Stein hinter dem Waschbär. Und er spürt, dass er seinen Wert, seine Kraft beweisen muss. Was zwischen ihm und dem Stein ist, das ist der Waschbär. Während er das denkt, wächst der Waschbär und Stacheln brechen aus seiner Haut hervor. Dann greift er an.
John hält mit all seiner Kraft und seiner Technik dagegen. Es ist ein harter Kampf. Doch letztlich behält er die Oberhand. Mit einem letzten Schlag versetzt er dem Waschbären den Todesstoß. Sein Blut und das des Säugers spritzen auf den Obelisken. Und damit wird Johns Seele, sein Wesen in den singenden Stein eingeschrieben.
Asmund erwacht vor dem Stein. Er sieht, wie ein Waschbär ins Unterholz verschwand. Neben ihn tritt stattdessen ein grauer Mann. „Komm mit mir“, sagt er. Asmund geht mit ihm."