AW: EP und Helden
D&D zum Beispiel bietet ein klassisches Erfahrungspunktesystem mit Stufen, für die die Erfahrungspunktekosten überproportional ansteigen.
Wieso "überproportional"? - Eher wohl "proportional", nämlich mit dem Anwachsen der XP-Intervalle geht ein äquivalentes Anwachsen der Kompetenz des Charakters einher. Wenn ein Charakter schon verdammt gut in etwas ist, dann ist (nicht etwa realistisch motiviert, sondern nur aus dem Gefühl dafür, was "richtig" ist) für einen weiteren Anstieg dieser Kompetenz halt mehr Aufwand, mehr Engagement, mehr Praxis in wirklich kritischen Situationen erforderlich.
Es entspricht der Erwartung von vielen Spielern (den meisten, würde ich mal vermuten), daß es von einer sehr hohen, zu einer PERFEKTEN Erfolgswahrscheinlichkeit bei einer Handlung durchaus MEHR Übung, Praxis, Erfahrung, Zeit braucht, als von einer niedrigen Vorkenntnis aus zu einer nicht mehr ganz so niedrigen Kenntnis zu gelangen.
"ÜBERproportional" ist hier fehl am Platze. Besser passend: Mit den Stufen steigen die XP-Kostenintervalle proportional zur Mächtigkeit des Charakters auf der zu erreichenden Stufe.
Ist das in euren Augen heldengerecht?
Ja.
Die Frage, nach dem, was hier mit "heldengerecht" gemeint ist, stelle ich nicht, sondern beantworte sie selbst: Heldengerecht ist ein Kompetenzzuwachssystem, welches es erlaubt einen übermenschlichen HELDEN der klassischen Pulp-Fantasy zu spielen. Somit muß im Rahmen der Charaktererschaffung entweder dieser Helden-Charakter SOFORT bei Spielbeginn die Kompetenz von Conan dem Barbaren haben, oder es muß im Regelsystem ein Weg ersichtlich sein, wie der Charakter diese Kompetenz durch das aktive Spiel (z.B. in Form von XP und damit verbundenen Kompetenzzuwachs) erlangen kann. (Zusatz: REALISTISCH erlangen kann - also nicht "nach 25 Jahren regelmäßigen Spielens zweimal die Woche könnte ein Charakter soweit kommen", wie in Midgard z.B., sondern im Rahmen eines oder vielleicht zweier Jahre mit bestenfalls 14-tägigem Spielrhrythmus muß das zu schaffen sein - sonst wäre das kein HELDEN-orientiertes Rollenspiel, sondern etwas anderes.)
Da man mit D&D übermenschliche HELDEN-Charaktere erschaffen/entwickeln kann, ist das durchaus heldengerecht. Und niemand hindert einen ja daran, bereits bei höheren Leveln einzusteigen und somit mit einer Gruppe an 15. Level Charakteren das Spiel zu beginnen. - Und selbst diese Gruppe hat immer noch ETWAS ZU GEWINNEN, nämlich weitere XP.
Oder wäre ein Kaufsystem, Learning by Doing oder was anderes sinnvoller?
Da gilt DASSELBE. Ein nicht auf heroische Übermenschen ausgelegtes Kaufsystem ist nicht heldengerecht. Wenn man hingegen Elric, Corum, Fafhrd, Kane, etc. damit "zusammenkaufen" kann, dann schon. Und "Learning by Doing" hat sowieso genug andere Probleme, daß auch hier das Heldenhafte auf der Strecke bleibt und das Erbsenzählen mehr und mehr Raum einnimmt.
Der Charaktererschaffungsmechanismus bzw. das Kompetenzsteigerungssystem an sich sagen noch nichts über "heldengerechte" Kompetenzzuwächse aus. Das Regelmechanische ist hier nicht so entscheidend, wie das relative Kompetenzniveau der SCs gegenüber "normalen" Charakteren (NSCs). Ist das hoch genug, dann ist es auch "heldengerecht".
Achtung! NICHT JEDES ROLLENSPIEL MUSS HEROISCHE ÜBERMENSCHEN-CHARAKTERE ZULASSEN!
Nur die "heldengerechten" Rollenspiele.
In anderen spielt man ja auch weniger HELDEN, sondern etwas anderes. Es gibt halt mehr Genres als die der Heroischen Fantasy. Daher ist die einleitende Frage auch nur sehr beschränkt von Interesse.
Bei Traveller, wo man bereits "gesetzte", erfahrene Charaktere bei Spielbeginn zur Verfügung hat, gibt es die D&D-typische "Aufstiegsstory" eines Charakters vom Nichtskönner zum Master of the Universe nicht. Da gibt es andere Formen der Erhöhung der Charakterkompetenz und der Spielerbelohnung. Deswegen gibt es dort auch KEINE XP oder ähnliches.
Bei Midgard SOLL MAN KEINE HELDEN spielen. Daher ist das Steigerungssystem sehr (spiel-)zeitaufwendig, sehr buchhaltungsreich, sehr umständlich und sehr stark kompetenzbeschränkend und abbremsend gestaltet worden. Daher gelangt das Midgard-Regelsystem bei Graden im oberen Bereich in einen immer labiler werdenden Bereich: Das Regelwerk ist ab Grad 10 effektiv kaputt. (Sehr schwarz-weiß ausgedrückt, aber so meine Spielerfahrung, die dazu geführt hatte, daß wir zwei langlaufende Midgard-Kampagnen eingestampft hatten und zu Runequest gewechselt sind.) - Bei Midgard ist der Aufwand, um einen Charakter von HELDENhaften Ausmaßen zu entwickeln nicht nur immens groß, sondern es ist nahezu unmöglich, den Charakter nach für Spielercharaktere gültigen Regeln zu einem jungen, kompetenten Conan zu entwickeln. Entweder er ist jung, und ziemlich inkompetent, oder er ist STEINALT und hat so langsam - aufgrund des Lernzeitbedarfs - zwar die Kompetenzen, aber nicht mehr seine Zähne und die Sicht läßt auch schon langsam nach. - Midgard ist KEIN heroisches Rollenspiel, in dem Sinne, in welchem ICH FÜR MICH die Helden-Frage beantwortet habe.
Rollenspiele, die mit Erfahrungspunkten arbeiten, gibt es viele. Erfahrungspunkte haben auch schon für sich rein praktische Vorteile gegenüber Lernmöglichkeitssystemen oder anderen Systemen, wo keine "Kennzahl" für die Charakterkompetenz vorhanden ist: Wenn ich ein Szenario plane, dann möchte ich meine Spieler mit Herausforderungen und Problemen konfrontieren, sie aber nicht rundheraus scheitern lassen und sie nicht frustrieren. Es soll schwierig sein, aber durch gewitztes Spielen lösbar sein. - Wenn ich nun eine Kampfszene plane, dann kann ich leicht jede Menge für die SCs niemals zu packende Gegner auftreten lassen. Doch wäre das nicht angemessen für mein Ziel meinen Spielern eine SPANNENDE und BEFRIEDIGENDE UNTERHALTUNG bieten zu wollen. - Somit brauche ich etwas, was mir das Einschätzen der Kompetenz der Charaktere erlaubt, so daß ich diesen Charakteren eine Herausforderung bieten kann, ohne sie zu überfordern (Überforderungen sind in Ordnung, wenn es andere Wege gibt - auch die Flucht ist solch ein Weg. Manchmal (siehe Cthulhu) ist es ja schon ein Sieg, wenn man mit halbwegs heiler Haut und halbwegs heilem Verstand dem Grauen entkommen ist.).
Erfahrungspunkte, Stufen, Ränge, Grade, aber auch die Summe an "Kaufpunkten" in Kaufsystemen sind Maßzahlen, die ein Gefühl für die Charakterkompetenz vermitteln können. Diese reichen natürlich nicht wirklich aus, da ein Spieler einen noch so kompetenten Charakter sehr unglücklich spielen kann (im Sinne von Würfelpech, aber auch im Sinne von ungeschickter Vorgehensweise, tapsigem Auftreten, unaufmerksamem Spiels). - Dennoch ist bei einem Szenario, welches für 5 Charaktere der Stufen 12 bis 14 gedacht ist, eher zu erwarten, daß die Herausforderungen darin viel zu schwer sind, wenn ich dieses mit einer Gruppe aus 3 Charakteren der Stufen 3 und 4 spielen will.
Solche Maßzahlen sind insbesondere für die Verwendung von Kaufabenteuern sehr hilfreich.
Wo sie fehlen, da hat es der Spielleiter schwer sich einen Eindruck vom Kompetenzniveau der Charaktere zu verschaffen.
Beispiel Deadlands (Classic): Dort gibt es diese Maßzahlen nicht. Nun stellt sich das Problem, daß ein Autor eines Quellenbandes (z.B. Law Dogs) die Werte für "historische und legendäre Persönlichkeiten" aufgeschrieben hat (z.B. Wild Bill Hickock). Und diese Werte hielt der Autor des Quellenbandes für ziemlich hoch und somit einen adäquaten Ausdruck der höheren Kompetenz dieses NSCs gegenüber z.B. den meisten SCs in Deadlands. - Aber der Autor eines anderen Bandes (Canyon o'Doom) hatte seinem Gefühl nach ein höheres Kompetenzniveau der SCs im Sinne, als er selbst nicht gerade legendären NSCs VERDAMMT hohe Werte in kritischen Fähigkeiten verpaßt hatte.
Wer hat nun recht?
Beide natürlich. Denn Deadlands Classic sagt ja NIE etwas über Kompetenzniveaus aus, sondern bietet einem nur die Charaktererschaffungsregeln und das Steigerungssystem. Aufgrund beider kann man sich ein Gefühl verschaffen, wie aufwendig es sein dürfte so verdammt gut im Schießen zu werden, wie ein NSC bei Canyon o'Doom, und wie viele XP (Bounty Points) ein Deadlands-SC da wohl hineinstecken müßte.
Das ist an sich ja noch in Ordnung. Damit kann man - wenn auch schwerer als nötig wäre - leben und spielen. - Ärgerlich wird es nur, wenn man seine SCs längere Zeit in einer Kampagne sich hat weiterentwickeln sehen, und man dann doch gerne diese eine vorgefertigte, offizielle Metaplot-Kampagne durchspielen möchte, und man feststellt, daß die SCs um eine halbwegs faire Überlebenschance zu bekommen, NOCHMAL drei Jahre "bespielt" werden müßten, um hier mithalten zu können.
Keine solchen Maßzahlen für Kompetenzen von SCs und NSCs zu haben, erschwert die Verwendung von Szenarien, die nicht AUSSCHLIESSLICH der eigenen Gruppe auf den Leib geschrieben wurden.
Da aber längst nicht jeder Spielleiter ein begnadeter Szenario-Autor ist, da auch den begnadetsten immer noch der frische Wind von Ideen anderer Leute gut tut, ihren eigenen Horizont zu erweitern, und da manche Leute einfach zu wenig Zeit haben, viel in Eigenentwicklungen zu stecken, sind Fertig-Szenarien ein wichtiger Produktbereich im Rollenspiel.
Wenn man nun nicht leicht, sondern nur schwer - d.h. durch ewiges Nachrechnen im Fertigszenario - herausbekommen kann, wie kompetent die für dieses Szenario gedachten SCs denn nun sein sollen, dann ist das ungeschickt.
Deadlands Reloaded (basierend auf dem Savage Worlds Regelsystem) kennt Charakter-Ränge und Level-Ups. Hier kann ich sofort sagen, daß ein Szenario nur für Veteran-Rank gedacht ist, und ich weiß, daß ich da mit Novice-Rank Charakteren diese in den Fleischwolf jagen werde. - Das erleichtert die Arbeit des Spielleiters ungemein.
Manche Szenarien vertragen von ihrem Inhalt her einfach keine sehr kompetenten SCs. Andere benötigen SCs von legendären Fähigkeiten.
Die Idee der Stufen ist diesbezüglich eine nicht etwa "in-game" interessante Sache, sondern vornehmlich für den Hobby-Aspekt des "adäquat spannende Unterhaltung Bietens" wichtig und nützlich.
Wir haben auch beim Lernmöglichkeiten-System RuneQuest eine Maßzahl eingeführt. Und zwar einfach die Summe der über die Prozentpunkte quer über alle Fähigkeiten (Attributsteigerungen wurden mit 5% multipliziert). Das haben wir gemacht, um ein Gefühl zu bekommen, wie kompetent die Gruppe anfangs war, wie schnell sie wieviel Kompetenzzuwachs erfahren hat, wie stark Gegner sein konnten, die die Gruppe noch gut/schwierig/gerade so/nicht gepackt hat. - Das war insbesondere beim Einstieg in RuneQuest eine echte Hilfe, da wir noch keinerlei Gefühl dafür hatten, wie die Kompetenzen der Charaktere in Relation zu den möglichen Bewohnern der Spielwelt verhielten.
Keine Maßzahl ist irgendwie eine wirklich belastbare Größe - auch die D&D Challenge Ratings nicht. - Sie kann aber helfen ein besseres Gefühl für relative Kompetenz der SCs zu liefern, und das ist notwendig, um den SPIELERN mit ihren Spielercharakteren die notwendigen Herausforderungen bieten zu können.