Bahnfahren für Fortgeschrittene -oder- Der schmale grad zwischen Chaos und Spass.

Lou

reality bites. get an axe
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26. Juni 2004
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Dies ist eine wahre Geschichte, gestern mir selbst wiederfahren.
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Platz am einem Tisch ergattert, sogar Fensterplatz, in Fahrtrichtung rechts, Mp3-Player auf dem Schoß, Stöpsel im Ohr, Schlepptop an der dankenswert bereitgestellten Steckdose angeschlossen, Handy in der irrigen Hoffung doch ab und zu Empfang zu haben, auf dem Tisch liegend.
Manchmal macht Bahnfahren richtig Spass.



Es hat gut 10 min gedauert, aber ich habe mich häuslich eingerichtet. Entspannt daddel ich ein wenig und höre mit halben Ohr zu, wie der eifrige Zugchef die Umsteigemöglichkeiten für Hamm durchgibt und die sind mannigfaltig. Sogar eine Möglichkeit nach Stendal gibt es, wo ich auch hin will. Da wird meine volle Aufmerksamkeit wieder von dem Spiel gefesselt. Wurde schwer getroffen, gehe zu Bode, rolle mich ab, springe auf, blocke seine Schlagkombi, gehe mit einem leichten Schlag mit dem Schwertknauf zwischen seine Kombi. Nun ist er offen. Schwerer Schlag gefolgt von Sechser Kombi + gelinkten Special Move. Zwei von drei Runden gewonnen, das wars. In cooler Machomanier steckt mein Recke sein Schwert weg und lässt noch einen Oneliner vom Stapel...

Moment mal! Stendal? Hamm? Ein schneller Blick aus dem Fenster verrät, dass wir langsam in den Bahnhof von Hamm einfahren. Fahrschein rausgekramt und neben dem Reiseplan gelegt ist die eine Bewegung, dabei mein Handy auf den Boden zu fegen, die andere.

Ich vergleiche die Zugnummern. Verdammte Scheiße ich sitze im falschen Zug! Brennend schießt Adrenalin durch meine Nerven. Mit der linken Hand greife ich nach dem Handy auf den Boden, mit der rechten schicke ich den Schlepptop in den Ruhezustand. Halte dabei immer noch ein ungläubiges Auge auf den Reiseplan. Der Schleppi fährt nicht runter. Das Handy stopfe ich in meine Hosentasche, der MP3-Player macht nun den Abgang. Aber nur beinahe eine Katastrohe. Wofür ist man schließlich grade high auf Adrenalin? Mit den Unterschenkeln fange ich ihn auf. Das Kabel der Kopfhörer musste gottseidank nicht die Fallenergie absorbieren. Ein wenig verklemmt sitzend, studiere ich immer noch die Pläne. Richtige Uhrzeit, richtiges Gleis, richtiger ICE? Warum bin ich in den Falschen gestiegen? Grausam schiebt sich die Erinnerung in mir hoch...Habe ich wirklich nachgeschaut ob das die richtige Zugnummer war? War es wirklich 18:35 oder vielleicht doch noch 18:30 als ich eingestiegen bin?

Das Kopfhörerkabel wird mir egal. Ich lasse den Player baumeln, Start Taste, Pfeil hoch, Enter, Tab, Enter --> Rechner auschalten, scheiß auf geöffnete Fenster, scheiß auf Ruhezustand.

Mit der rechten Hand ziehe den den Player an dem Kabel entgegen der Schwertkraft zu mir rauf. Mit der Linken stütze ich mich ab und versuche gleichzeitig über meine auf dem linken Sessel von mir abgestellten Sachen auf den Gang zu treten. Verheddere mich im Stromkabel. Stürze aber nicht und reiße auch nichts vom Tisch. Luft hohlen, kurz beruhigen. Ich löse langsam mein Bein aus der Kabelschlinge, obwohl der Zug grade zum stehen kommt.

Der Schleppi ist abgestürzt. Er fährt nicht runter. Ich packe das Netzteil ein und drücke nebenbei auf den Hardware aus. Mit einem befriedigen *Ploink* bricht er in seinen Aktivitäten zusammen und ist dankenswerterweise still.

Beschwingt klappe ich ihn zu, Laptoprucksack aufgemacht, Schleppi reingeprokelt (er wehrt sich... aber nicht lange), kontrolliert wo und ob das Handy ist, Player auf den Tisch leg, Jacke gegriffen und dabei deren Inhalt auf den Boden entleert...

Die mitleidigen Blicke der anderen Fahrgäste ignoriere ich geflissentlich und werfe mir die Jacke über, stopfe mir den Player in eine Tasche, knie mich auf den Boden und lese die teuren Akkus für den Player auf.

Nun geht es schnell, den Rucksack halte ich in der Hand und lasse ihn halb offen, den werd ich auf dem Bahnsteig zumachen, schulter meine Reisetasche und stürme entgegen dem Strom der einsteigenden Massen hinaus in die Freiheit... der Gefahr von dem klinisch weißen stählernden Ungetüm in die falsche Richtung verschleppt zu werden, knapp entkommen.

Der Schaffner, der meine Fahrkarte kontrolliert hatte steht praktischerweise auf dem Bahnsteig. Dem guten Mann schildere ich mit knappen Worten meine Situation und mein Begehr. Der ICE nach Stendal fährt in 10 min auf Gleis 5 ab. Perfekt. Das ist der, den ich eigentlich nehmen wollte und der 5 Minuten nach dem abgefahren ist, den ich unglückerweise als mein Gefährt gewählt hatte und ja, beide fahren sie über Hamm.

Während ich lockeren Schrittes mich auf den Weg zum neuen Gleis begebe taste ich mal sicherheitshalber meine Jacke ab. Handy, Player, Rucksack, Reisetasche, Sonnenbrille, AAA-Akkus eins, zwei, drei... -einenaugenblick- Wo ist Akku Nummer vier? Auf die Uhr schau, umdreh, zurück geh. Den freundlichen Schaffner kurz gefragt, wie lange die Bahn hier noch verweile. Seine Belustigung verbirgt er geschickt unter der Maske seiner Professionalität und teilt mir routiniert mit, dass dies noch 4 Minuten der Fall sei. Reicht. Elegant und unauffällig schlüpfe ich wieder in den Zug und knie mich auf dem Mittelgang vor meinen Ex-Platz hin. Da ich mich hier sowieso schon lächerlich gemacht habe und so ein Akku teuer ist, habe ich auch wenig Skrupel die Fahrgäste auf der anderen Gangseite zu bitten kurz die Füße zu heben.

Leider muss ich den Zug ergebnislos verlassen und begebe mich zeitig Richtung meines eigentlichen Zuges. Nebenbei: Vielleicht möchte der geneigte Leser an dieser Stelle weiter oben in diesem Text nachlesen, ob ich schilderte, dass ich meine Fahrkarte wieder eingesteckt hätte. Dem faulen Leser sei verraten: Das habe ich nicht.

Ungefähr zu diesem Zeitpunkt, ca. 2 Minuten bevor ich in den richtigen Zug einsteigen muss, fällt mir eben dies ebenfalls wie Schuppen von den Augen.

Meine folgenden Gedankengänge will ich aus Pietäts- und Gründen des Jugendschutzes an dieser Stelle nicht darlegen. Ich kam aber zu dem Ergebnis, dass ich mein Glück versuchen möchte und stieg ein. Meine Überlegungen gingen in die Richtung, dass sich alles im Zuge durch ein konstruktives Gespräch klären lassen müsste. Schließlich sind wir a) alle vernunftbegabte Wesen und b) hatte ich sowieso keine Wahl.

Das wohlige Gefühl des Fatalismus begleitete mich als ich mir einen sehr schönen Platz am Fenster mit einer Steckdose und viel Beinfreiheit suchte und ich machte es mir bequem. Im Kopf legte ich mir meine Möglichkeiten zurecht. So könnte ich so tun, als säße ich schon ewig im Zug und hoffen, dass zu eben diesen Schluss auch die Schaffnern kommen würden, wenn ich denn nur beschäftigt genug dreinschauen würde. Sollten sie aber gewitztermaßen meine Tarnung durchschauen und mich kontrollierten wollen, so würde die von mir dann darzulegende Wahrheit wie eine plumpe Lüge klingen. Daher entschied ich mich aus taktischen Überlegungen zur Wahrheit. Dazu fehlte mir aber eine Kleinigkeit: Der Rezipient. Bis nach Bielefeld zeichneten sich die Schaffner vor allem durch Abwesenheit aus. Schlecht für mich. Je mehr Wasser seid dem Ereignis den Rhein runter geflossen sein würde, je schlechter stünden meine Chancen auf die für mich wohlwollende Aufklärung. Ich vertrieb mir die Zeit damit eine Geschichte zu schreiben, in der es darum geht, dass ich im falschen Zug säße. Ja, das schreiben dieser Geschichte auf meinem lieben Schleppi hinderte mich daran einen Schaffner aktiv zu suchen, aber ich war grade so schön im Schreibfluss. Man muss ja schließlich Prioritäten setzen.

Schließlich kam ein sehr erfahrender Schaffner forschen Schrittes an mir vorbei. Sein Dienstalter und Erfahrung gaben ihm eine undurchdringbare Aura der Autorität. Ich wusste sofort, dass ich es hier mit dem Zugchef zu tun hatte. Gönnerhaft wiegelte er meinen Versuch der Kommunikationsaufnahme ab, er würde später noch mal eine Runde gehen, und schon war er aus meinen Blickfeld entschwunden. Nicht weiter tragisch, allein der Versuch meinerseits Aktiv auf mich hinzuweisen konnte ich leicht als Zeichen guten Willens meinerseits verbuchen, wenn er denn gleich seine Kontrollierrunde gehen würde und mich auf meinen Fahrschein ansprechen wird. Nur wenige Minuten später wurde ich dann kontrolliert. Natürlich von seiner Kollegin, die mich noch nie sah. Sie war in ihren mittleren Lebensjahren und trug eine geschickt gestufte Kurzhaarfrisur mit rot gefärbten Deckhaar. Eine von der Art, mit der sie ein eine Höchstmaß an ihrer eigenen Individualität ausdrücken will. Jedenfalls hat das der Friseur behauptet, der ihr diese Frisur empfahl. Ich erklärte ihr die Situation und frug an, ob man denn nicht den anderen ICE kontakten könne, damit dort entweder meine Karte gefunden würde, oder zumindest der Schaffner ihr bestätigen könnte, dass ich zumindest einmal eine Fahrkarte besessen hätte. Ihr, meine Leser, könnt sicherlich nachvollziehen, dass ich mir recht gewiss war, dass sich der Schaffner an den etwas hektisch wirkenden jungen Mann erinnern würde.

Nachdem ich ihr meine, wirklich gute, ich konnte ja schließlich, Zug- und Gleisnummern, Abfahrzeiten und andere Daten anführen, Geschichte anvertraut hatte, zog sie von dannen um dies zu bestätigen.

Eher verdrießlich zog sie los um per Funk den anderen Zug zu erreichen, dort alle Schaffner aufzuscheuchen, damit diese deren Zug auf den Kopf stellen könnten um eine verschusselte Fahrkarte aufzutreiben. She was not amused.

Ich für meinen Teil widmete mich wieder meinem Schriftkram und überlegte mir eine so richtig schön lustige Umschreibung für einen ICE. Schon nach knappen 45 Minuten kam sie wieder. Man könne den anderen Zug nicht erreichen, die hätten sich nicht ins Funknetz eingebucht und da man in Hannover Personalwechsel hätte, müsste vorher eine Regelung von statten gehen. Sie notierte meine amtlich beglaubigten Personalien und stellte mir einen Wisch aus, der entweder nichtig wäre, sollte das folgende Zugpersonal doch noch erfolgreich den ICE per Funk erreichen, oder dazu führen würde, dass ich mehr Geld für die Strecke Hamm-Stendal zahlen werde als ich von Bochum-Stendal ursprünglich gezahlt hatte.

Mitten in unserer geschäftlichen Transaktion platze der rüstig gebieterische Zugchef. Während er sein antiquiertes Nokia Communicator verstaute teilte er uns mit, dass der junge Mann (moi) sehr viel Glück gehabt hätte und die Karte gefunden und von dem anderen Personal eingezogen sei (Beamtendeutsch für eingesackt & zerrissen) und, dass das hier in Ordnung gehe. Mit einigen knappen Handbewegungen dirigierte er den Schuldnerwisch aus meiner Hand zurück in die der Schaffnerin und erklärte ihr knapp wie sie das nun formal in den Akten zu verzeichnen hätte (schließlich hatte sie ja alles schon in ihren tragbaren Ticketautomaten eingehackt). Dem folgenen Zugpersonal würde mitgeteilt werden, dass es in Ordnung sei, dass ich keinen Fahrschein vorzuzeigen haben würde.

Hiermit will ich meinen kleinen Exkurs in die wunderbare Welt meiner Zugreisen abschließen. Anzumerken sei noch, dass das neue Zugpersonal mich problemlos als rechtmäßigen Fahrgast akzeptierte und ich pünktlich auf die Minute am Zielbahnhof ankam und der fehlende Akku wunderbarerweise in meinem Rucksack auftauchte. Wo ist das Problem?
 
seeehr gut nachvollziehbare gedankengänge. ich denke, man kann von glück sagen, dass du deinen schleppi dabei hattest, sonst wären viele der details vermutlich dem ewigen hunger des vergessens anheimgefallen.
es ist schön zu sehen, dass es auch anderen leuten so geht, das bei solch geringen dingen wie schwarz- und zugfahren einem das adrenalin hochkommt. ich bin auch immer permanent etwas nervös, ob ich im richtigen zug sitze.

wenn ich dabei gewesen wäre UND eine gültige fahrkarte gerhabt hätte, hätte ich mich sicherlich köstlich amüsiert *ggg* :D

glückwunsch für deinen akku deinen geldbeutel. hat mich sehr gut unterhalten die geschichte.
gruss
doom
 
ja das schöne bahnfahren.....

schöne geschichte, hoffe deine nerven leben noch! und wünsch dir viel spaß in deinem kurzurlaub und eine gute heimreise...ohne pannen....
 
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