AW: Ars Magica als Mittelalterspiel?
Salvete!
Meine persönliche Buchempfehlung, die ich allen, die sich mit dem Mittelalter näher befassen wollen, und ganz besonders jenen, die ein am historischen Mittelalter orientiertes Rollenspiel spielen wollen, ans Herz legen will, wäre
"Lebensformen im Mittelalter" von
Arno Borst, welcher (mittlerweile leider schon verstorben) als einer DER historischen Mediävisten des 20. Jahrhunderts gilt (oder ich wage zumindest, das einmal so in den Raum zu stellen, Bewertungen sind ja bekanntlich subjektiv).
Das Buch ist
in fachlicher Hinsicht einwandfrei (auch wenn mir als Geschichtestudent natürlich sofort das Fehlen von Fußnoten auffällt, welches aber unter "renommierten" Historiker fast Usus zu sein scheint und "Laien" ohnehin eher freut als stört) und wurde mir daher auch von einem meiner Professoren empfohlen. Es ist aber auch, anders als so manche andere geschichtswissenschaftliche Werke (davon kann ich ein Lied singen -.-), meiner Meinung nach - abgesehen von dem doch ziemlich "wissenschaftlich" geratenen Vorwort, um welches sich aber der "Laie" nicht unbedingt kümmern muss - wirklich
gut und verständlich geschrieben. Es umfasst auf knapp 800 Seiten (davon etwa 100 Seiten Anhang, darunter neben den obligatorischen Quellen- und Literaturangaben, welche ca. 50 Seiten ausmachen, auch eine umfangreiche Zeittafel sowie ein Personenverzeichnis) so ziemlich jeden Aspekt des mittelalterlichen Lebens und ist damit ausführlicher, als es ein Rollenspielband je sein kann und wird. Die meisten Kapitel beginnen mit einem längeren Zitat aus einer mittelalterlichen Quelle (Brief, Biographie, zeitgenössische Erzählungen/Märchen, Gesetzestext,...), welches das Thema veranschaulichen soll und als "Aufreisser" für die weiteren Ausführungen fungiert. Gerade diese Originalquellen tragen in meinen Augen viel dazu bei, dass das Buch an Lebendigkeit gewinnt und man sich in die Epoche "hineinfühlen" kann.
Das Allerbeste an dem Buch ist aber der Preis: Die aktuelle Sonderausgabe (ISBN-10: 3933203872) gibt es mittlerweile um
9,95€, was eigentlich ein Spottpreis ist. Selbst wenn das Buch nicht gefällt, ist nicht viel verloren - außerdem machen sich gebundene Wälzer immer gut im Bücherregal
Und ja, das ist kein Schreibfehler, das Buch ist tatsächlich sogar gebunden und hat daher sogar meine Schultasche unbeschadet überlebt, was sonst kaum ein Buch bisher geschafft hat
(Achtung, im Handel kursiert teilweise immer noch die alte Taschenbuchausgabe, welche mit 12,95€ sogar teurer ist als die neue, gebundene Ausgabe)
Alles in allem würde ich einmal provokant meinen, dass man, wenn man dieses Buch gelesen hat, eigentlich keine Rollenspielbücher mehr braucht, wenn man ein rein mittelalterliches Rollenspiel spielen will. Inhalt als auch Preis sprechen einfach für sich. Ich selbst muss zugeben, trotzdem ganz gerne Rollenspielbücher zu lesen, einerseits, da dort alles vergleichsweise kompakt und leicht überschaubar dargestellt wird und meistens auch schon der ein oder andere Abenteueransatz geboten wird, andererseits auch aus Gründen einer gewissen Sammelleidenschaft, aber wirklich notwendig wäre es nicht. Einen besseren Einstieg in die Lebensweise und Gedankenwelt des Mittelalters kann zumindest ich mir kaum vorstellen.
Abschließend will ich noch eine Rezension zitieren, der ich eigentlich nichts mehr hinzufügen kann:
Andreas P. Rauch (Kundenrezension auf Amazon) schrieb:
Wer je versucht hat, sein Fantasy-Rollenspiel mit einem realistischeren Hintergrund auszustatten, oder aus anderen Gründen nach Details zum Alltag der Menschen dieser Zeit zu finden, stellt bald fest, dass der ziemlich fremdartig war - viel fremdartiger als beispielsweise die Antike, oder das westliche Ausland heute. Seuchen, erbärmliche hygienische Verhältnisse und Hungersnöte nach Missernten sorgten für ein Elend, wie wir es heute nur noch in der Dritten Welt wiederfinden. Vielleicht die Hälfte der Kinder erreichte überhaupt die Pubertät, nur wenige wurden älter als vielleicht 50 Jahre. Auf der anderen Seite lebte, wer zu den Herrschenden oder zum höheren Klerus gehörte, in einigem Reichtum: Der Alltag der Menschen verschiedener Stände überschnitt sich nur selten. Manchmal - wie in England - sprachen sie nicht einmal dieselbe Sprache, von einheitlicher Kleidung, Behausung oder den sonstigen Kleinigkeiten des Alltags ganz zu schweigen. Selbst im gleichen Stand gab es große Unterschiede: Ein Kaufmann, der in der Wikingermetropole Haitabu seinen Geschäften nachging, hätte sich in Venedig nicht nur des Klimas wegen umstellen müssen.
Der (inzwischen emeritierte) Konstanzer Professor für Geschichte, Arno Borst, hat dankenswerterweise ein großes Buch namens Lebensformen im Mittelalter über den Alltag mittelalterlicher Menschen geschrieben. Er benutzt lieber das Fachwort Lebensformen, und obwohl er eine lange und breite Einleitung dazu schreibt, was er damit meint, bin ich bis heute nicht dahintergestiegen. Die geschichtswissenschaftliche Mode, den Blick auf die Ereignisse und die Menschen, die davon betroffen waren, durch soziologische Fachtermini und Theoriengebäude so lange zu verstellen, bis es, scheinbar, nur noch um nicht sonderlich greifbare Konstrukte, Formen, Erzählungen geht, zeigt sich hier von ihrer unerfreulichsten Seite.
Man kann die Einleitung aber getrost überspringen. Danach spürt Arno Borst den vielen Facetten mittelalterlichen Lebens nach. Von der Geburt bis zum Tod, über Feste und Feiern, vom All- bis zum Gerichtstag, vom Adel bis zu den Rändern der Gesellschaft, an die Scharfrichter, Juden oder auch - zeit- und landstrichweise - Müller platziert wurden. Dabei präsentiert der Autor in jedem Kapitel mittelalterliche Originalquellen, meist mehrere Seiten lang, in moderner Übersetzung. Danach ordnet er den Text in den sachlichen und zeitlichen Zusammenhang ein. Die Quellenauswahl geht durch alle Zeiten des Mittelalters, von Skandinavien bis Spanien und dem Balkan, und souverän erklärt Borst, was allgemeingültig ist und was eine lokale Besonderheit. Dabei deutet Borst nicht nur die präsentierten Quellen, sondern geht weit darüber hinaus.
Viel Wert legt Borst darauf, herauszuarbeiten, wie die Menschen damals ihre Zeit selbst erfahren haben. Das, die vielen mittelalterlichen Illustrationen und die vielen überraschenden Details machen das Buch sehr lebendig.
Das Buch ist verständlich geschrieben, und der umfassende Blick auf praktisch alle Bereiche mittelalterlichen Lebens macht das Buch zur idealen Übersicht für Einsteiger und fortgeschrittene Laien. Für diejenigen, dies nicht so genau wissen wollen, dürfte Borsts Buch mit 800 Seiten zu umfangreich sein - es ist aber kein Problem, einfach querzulesen und nur einzelne Kapitel durchzuschmökern.
Belohnt wird man mit vielen überraschenden Einsichten in eine ungewöhnliche, komplizierte, fremdartige und stellenweise doch ziemlich vertraute Welt. Wie nach jeder Reise kann man auch nach dieser Gedankenreise unsere eigene Gegenwart mit neuen Augen sehen - und vielleicht etwas besser verstehen, wie sie funktioniert.
Ich hoffe, mit dem Post gegen keine Anti-Werbe-Richtlinien verstoßen zu haben, aber ich finde, auf dieses Buch musste ich einfach einmal aufmerksam machen. Ich kann es wirklich nur empfehlen.
Grüße,
Tar-Calibôr