Tatsächlich wäre es eine geradezu fatale Fehleinschätzung gewesen zu glauben, die Britin würde keinen Schwerpunkt bei dem Wohle ihrer Patienten sehen. Lediglich Erfahrung war es, welche sie dazu veranlasste daneben in möglichst kurzer Zeit möglichst alle anderen Einflussfaktoren mit in ihre Planungen einzubeziehen. Darüber hinaus musste eine Präsentation, gerade wenn das erkorene Projekt menschliche wie nichtmenschliche Unterstützung bedürfte um beiden Fraktionen entsprechend nach bestem Wissen und Gewissen zufrieden zu stellen, auch stets mit den allgemeinen Moral- und Rechts-Verständnissen konform gehen.
Rief sich Ligeia das Verhalten der Prinz ihr gegenüber noch einmal zu Bewusstsein, ging die Bilder, Stimmen, Emotionen, Farben und Klänge durch, deren tiefer Eindruck sie in jenen wenigen Minuten erfasst hatte, würde sie nicht davon ausgehen, dass ihr der morgige Abend ein wahrhaftiges Pläsier sein würde. Zu aller mindest nicht aufgrund der Präsenz jener Prinz, wenigstens nicht in dieser einen, schrecklich lästigen Angelegenheit.
Vorurteile. Es blieb abzuwägen, in wie weit man sich dazu entschließen würde ihnen entgegen zu kommen. Immerhin blieb es nicht aus sich mit dergleichen zu arrangieren.
Oder doch lieber gänzlich differente Selbstdarstellung?
Jedes Mondkind jenseits weniger Nächte war ein Schauspieler. Ein exzellenter noch dazu. Paraderollen des Clans fanden sich in einem durchaus beachtlichen Spektrum, reichend von der labilen, schutzbedürftigen Barbara, über den charismatischen Hannibal oder Patrick bis hin zum tollen Menschen.
Die Persona wurde gewählt ganz nach den individuellen Ansprüchen von Ort, Epoche und -natürlich- Auditorium.
Sie hier war ein Rabe.
Das musste vorerst ausreichen. Warum sollte Finstertal in den Genuss einer Sondervorstellung kommen, welche der Stadt an der Themse über all jene Jahre hinweg verwehrt geblieben war?
"Ich danke ihnen für ihre Glückwünsche", erwiderte die Malkavianerin dem Caitiff mit beiläufigem Lächeln. Würde man in dieser Geste auch vor allem ablesen mögen, dass die Dame zumindest gegenwärtig trotz aller Höflichkeit nicht sonderlich erpicht darauf war jener Episode mehr Zeit einzuräumen als unbedingt von Nöten, galt das durchaus kokettierende Verziehen der roten Lippen doch in Wahrheit der Erinnerung an eine erheiternd perfide, köstliche Unterredung.
Der Arzt breitete auf dem Tisch zwischen ihnen eine Karte aus und ermöglichte somit die zu gegebener Stunde wohl optimalste Visualisierung der Bebauung Finstertals, Clans-Reviere eingeschlossen.
Einem Rundschreiben an die Primogene allein war es jedoch zu verdanken, dass die hübsche Psychiaterin auch in dieser Sache bereits etwas weiter vorzuplanen vermochte, als es ihrem Gegenüber freistand.
Mit Klischees verhielt es sich letztlich ähnlich wie mit Märchen, Mythen und Sagen: Den meisten von ihnen wohnte zumindest ein wahrer Kern inne, sei er auch bloß ein Splitter, erbärmlicher Aschepartikel des Ganzen. Sandkorn im Getriebe des einzigen Uhrwerks.
Und obgleich Dr. Raven nicht gezielt jenen Archetyp des allwissenden Exzentrikers zu bedienen gedachte, kam sie im Verlauf dieses Dialoges doch nicht umhin zu ersehen, dass sie trotz wenig erwähnenswerter Präsenzzeit innerhalb Finstertals durchaus mit einem merklichen Wissensvorsprung an manche Dinge herangehen dürfte. Zumindest in direktem Vergleich mit Herrn Köning.
Nichts, was sie zu Übermut verleiten würde, allerdings doch etwas, das ihr in der darauffolgenden Nacht von Nutzen sein mochte. All zu viele Kainskinder dieser Domäne hatte sie noch nicht kennen gelernt. Das war allerdings auch gar nicht notwendig. Die Informationen, welche sie bis dato sammeln konnte, mochten hingegen von weit größerem Wert für sie sein. Wenigstens mutmaßlich. Hinlänglich durchaus.
Für nicht einmal 3 Nächte hatte sie dahingehend in jedem Fall einen guten Schnitt erzielt. Es bedürfte nun eben nicht notwendiger Weise stets des Schutzes gemiedener Kanalröhren um geduldig durch die Zeugnisse von Verkommenheit, Schatten, Frevel und humanoiden Abschaums zu waten.
"Die für uns explizit interessantesten Immobilien befänden sich entweder in diesem Teil Finstertals", sie fuhr mit dem Finger das noch nicht offiziell erklärte Clansgebiet der Caitiff in seinen Konturen nach, "oder aber jener Teil Burghs." Sie wiederholte die vorherige Geste mit dem Revier der Malkavianer, wie es sich nach Lenas Neuaufteilung ergeben mochte. Woher sie die offenkundige Zuversicht um die potentielle Verfügbarkeit jener Orte nahm blieb ihr Geheimnis.
"Beide Areale haben ihr Für und Wider. Für den präferierten Standpunkt in Finstertal spräche eindeutig die Verkehrsanbindung. Allerdings besteht eben hierin auch der große Nachteil des Standpunktes. Die unmittelbare Nähe zu dieser Schnellstraße sowie des Flughafens bedeutet eine nicht zu verkennende Schadstoffbelastung der Luft innerhalb dieser Region. Von einer mehr als blöß erhöhten Lärmkulisse ganz zu schweigen. Ein Umstand der sicherlich wenig wünschenswert für eine Genesungsanstalt sein muss. Rückt man vom nördlichen Rande weiter gen Zentrum, läge man in der direkten Nachbarschaft des Marienhospitals. Ich weiß nicht, ob dies ratsam wäre, zumal bei einer innerstädtischen Klinik der Rhea-Aspekt und damit unser potentielles Alleinstellungsmerkmal entfallen würde.
Der Standpunkt in Burg", sie deutete dabei vor allem auf die Sektion östlich sowie südlich beziehungsweise südwestlich der Malkavianerbibliothek, "würde fraglos über alle Vorzüge einer naturnahen Lage verfügen und darüber hinaus eine gewisse, wohl auch hinsichtlich der Zuständigkeiten durchaus sinnige, Distanz zu der Preußenklinik halten, dabei jedoch noch immer nahe genug an jenem Hospital liegen, um potentiell eine Kooperation fruchtbar zu gestalten.
Dafür entbehrt er jedoch der entsprechend idealen Verkehrsanbindung. Aus meiner Perspektive handelt es sich hierbei allerdings um das bedeutend kleinere Ärgernis."
Nachdenklich glitt der Blick leuchtend grüner Augen über das Dokument. Der linke Zeigefinger ruhte dabei an ihrer Unterlippe.
"Wir werden uns also wohl oder übel für das eine oder andere Konzept entscheiden müssen", sprach die Brünette schließlich. "Je mehr ich darüber nachdenke, umso sinniger erscheint mir das Reha-Psychiatrie-Kombinationskonzept in Burgh. Über etwas derartiges verfügt die Stadt noch nicht, tatsächlich weder über das Eine noch das Andere. Dabei sind beiderlei Institutionen von kaum schätzbarem Wert... Eigentlich ein ernstzunehmender Mangel den wir kompensieren könnten, vielleicht gar sollten.
Was meinen sie dazu, Herr Köning?
Würden sie hinsichtlich dieser Aspekte Burgh als Standort mittragen?
Oder haben sie gravierende Einwände vorzubringen welche mir bis dato entgangen scheinen?"
Die Art wie Raven den Kollegen nun ansah, kam sie um jenes Bohren der Seelenspiegel auch nicht herum, verriet tatsächliches Interesse an seinen Ansichten und Meinungen zu ihrem Gedanken.
Eine Rhea würde bedeuten, dass in jedem Fall eine Vielzahl an einstmals ernstlich versehrten Patienten -und seien sie vorab auch in anderen Institutionen untergebracht worden- letzten Endes in jener vampirisch geleiteten Klinik ihre letzte Station vor der endgültigen Genesung finden würden. Damit ergäben sich Möglichkeiten des Maskeradeschutzes, welche die diversen Amtstträger bei einiger Maßen rationalem Denkvermögen bloß gutheißen konnten, womit die kanitische Gesellschaft mutmaßlich ausreichend zufrieden zu stellen wäre sollte es dort etwaige Einwände geben. Darüber hinaus wäre es möglich in einer solchen Institution durchaus auch eine renommierte Chirurgie zu etablieren, womit Köning sein Steckenpferd ganz nach Belieben ausleben könnte. Klassische Rehabilitations-Maßnahmen wurden ohnehin häufig nach Operationen verordnet, womit auch der Zusammenhang zwischen beiden Einrichtungen gut deutlich sein musste. Eine Psychiatrie wiederum verfügte ebenfalls über Bedarf an solchen Maßnahmen und eine kleine Parkanlage, wie sie am Rande Burghs wohl zur Ergänzung eines existenten Baus sicher möglich wäre, könnte sowohl für das Programm der Reha als auch zum Freigang ermächtigte Patienten des Sanatoriums durchaus zuträglich sein. Von der signifikanten Bedeutung eines gewissenhaft geleiteten Tollhauses in Hand einer Untoten für die Maskerade kaum zu schweigen.
Fand sich dort nun ein entsprechender Komplex wäre die Wahl der Malkavianerin schnell gefallen.
Sobald die Einrichtung ihren Betrieb eröffnete würde... nun, es war in London kein Geheimnis, dass die bleiche Psychiaterin durchaus dazu im Stande war sich derart in ihrer Arbeit zu vergraben, dass sie über Jahre hinweg ihre Anstalt nicht mehr verließ. Gewissenhaftes arbeiten nannte sie es, Obersession war der Begriff, den böse Zungen dafür fanden.
Was kümmerte den Raben das Geschwätz des Fuchses? Aas wurden sie alle.
Über diese ganze Caitiff-Revier-Geschichte verlor sie allerdings kein Wort. Immerhin hatte sie ihm einen kleinen, durchaus diskreten Hinweis erteilt, in dem sie die relevanten Terrains so deutlich eingegrenzt hatte. Ob er dies zu deuten vermochte, lag ganz bei ihm. Abgesehen davon war nun ja auch noch nicht all zu sicher, in wie weit sich vielleicht doch noch etwas an diesem eher unkonventionellen Konzept am morgigen Abend ändern würde.
Wer verließ sich schon auf Ankündigungen eines Prinzen, noch dazu eines solchen?
Eine Rose im Wasser. Vielleicht würde man beizeiten eine entsprechend adäquate Aufmerksamkeit besorgen können...
"Betreffs der Verwaltungsfrage gebe ich ihnen Recht. Ich wusste ja nicht um ihren Assistenten. Damit ließe sich für Miss Willson wohl eine konkreter medizinische Position finden. Ich denke letzten Endes käme dies ihren Befähigungen vielleicht sogar eher zu Gute.
Sie brauchen sich für diesen ihren Einwand auch nicht zu rechtfertigen. Ich sehe den potentiellen Problemherd und mir ist nicht daran gelegen vermeidbare Komplikationen hervor zu rufen. Es wäre mir jedoch recht lieb, wenn man sich beizeiten darauf einigen würde Eleanore von ihrem Martin ein die hiesige Sachlage einarbeiten zu lassen. Aber auch das hat noch Zeit und ist noch nicht von konkreter Wichtigkeit."
Ein charmantes, versöhnliches Lächeln.
"Sehr gerne würde ich ihren Antrag gegenlesen. Damit würden wir eine gemeinsame Verständigungsbasis schaffen. Wenn sie erlauben..."
Ein Griff zu der schwarzen Ledertasche, ein weiterer um selbiger ein silbernes Etui mit darauf eingeprägtem Raben zu entnehmen.
"Hier, meine Karte. Die Adresse, an welche sie mir gerne elektronische Post senden können, notiere ich ihnen auf die Rückseite." Eine Ankündigung, welche Ligeia auch prompt mithilfe eines silbernen Füllfederhalters in die Tat umsetzte.
"Bitte sehr. Fühlen sie sich so frei dieses Postfach zu nutzen wann immer sie dessen bedürfen."
Die nachfolgende Überleitung gen anderer Thematik entlockte Raven ein durchaus amüsiertes Schmunzeln.
"Oh, ich denke wir stimmen darin über ein, dass sie mehr über solche nichtstöfflichen Ärgernisse zu sagen wissen als manch anderes Kainskind dieser Stadt. Das ist nichts wofür sie sich genieren müssten.
Wissen ist Macht, aber aus Macht erwächst Verantwortung."
Die Eindringlichkeit, mit der sie die den letzten Satz sprach, vermittelte den Eindruck einer Warnung. Oder doch bloß eines ernsten Hinweises?
"Es ist allerdings wahr, dass es in Finstertal jemanden gibt, den sie vielleicht als Geisterjäger bezeichnen würden, zu welchem ich einen recht intimen Kontakt unterhalte. Wenigstens müsste man es wohl so umschreiben.
Liegen die Dinge wie sie möchten. Es wäre mir, sofern es dem Herrn nicht widerstrebe, was ich natürlich erfragen würde, gegebenenfalls durchaus möglich sie zusammen an einen Tisch zu bringen. Ich glaube, dass diese Erfahrung für sie sicherlich von einem unschätzbaren Wert sein könnte, gerade hinsichtlich ihrer Neigungen."
Verhaltenes Gelächter, spitzes Gekicher. Rummel im Geiste.
Intimitäten waren etwas, womit man sich in jenem Tempel kaum zu belasten gedachte, Exhibitionismus war keine Frage der Wahl.
An Prüderie zu klammern musste hinderlich erscheinen auf dem Pfad zur Entfremdung des Etwas-Sein hin zum Nichts-Sein, eher All-Sein.
Widerstand? Zwecklos.
Gewalt war ein Fremdwort für jene, die dem Fleisch zu entsagen verpflichtet waren.
Zwischen Tod und ewigem Leben gab es noch etwas drittes, gänzlich anderes.
Vollkommen identisch.
Darin war man verbunden.
Alle.
Hell blieb der Schein.
Gütiges Lächeln strahlender Luna.