01.04.2004 Freudiges Wiedersehen?

AlexanderK

Neuling
Registriert
21. März 2004
Beiträge
292
Eine Hälfte der Nacht lag hinter ihm zurück. Für die zweite hatte er noch etwas geplant. Seine Rostschüssel, auch als fahrbarer Untersatz zu bezeichnen, oder einfach Auto, beförderte ihn durch den Straßenverkehr. Ziel war eine Wohnung am Dom, wo scheinbar eine Großfamilie lebte. Eine typische, klischeehafte italienische Familie. Aber das störte ihn nicht. Alexander störte eher der Gedanke dort ein Mitglied unter Umständen getötet zu haben. Genau das wollte er nun überprüfen. Insgeheim betete er natürlich darum, dass dem nicht so war. Er selbst erkannte langsam, dass er etwas Abstand gewinnen musste. Früher oder später würde wieder jemand sterben, daran würde er nichts ändern können. Und wenn er dann immer noch so stark mitfühlte, würde es ihn zugrunde richten.
Früh am Abend hatte er in einen locker sitzenden Anzug gewechselt. Und trat damit wohl weit seriöser auf, als vermutlich die Nächte zuvor.
Lauernd beobachtete er die Ampel vor sich. Sie war wie ein rotes Tuch, einroter Punkt vor ihm, der ihm vor die Nase hielt, dass er das Spiel der anderen spielen musste. Seine eigenen Regeln zählten hier nur soweit, wie sie in die der anderen passten. Verdammt, waren sie nicht alle Mörder? Nacht um Nacht streiften zahlreiche von ihnen durch die Straßen und nahmen Leben. Und er selbst war einer davon.
Er gehörte hinter Gitter. Aber da wäre er verbrannt und hätte vielleicht eine Hexenjagd auf viele Unschuldige ausgelöst. Nein, es gehörte wohl keiner zu den Unschuldigen. Nicht unter den Kainskindern.
Die Ampel sprang auf Grün und... er lauschte den vertrauten Geräuschen, wenn er die Wagentür öffnete. Die Absätze seiner Schuhe erklangen auf der Straße und nur einen Moment später stand er draußen, in einer lausigen Nacht, zum Trotz von Konvention, zum Trotz der Urgewalt und zum trotz Gottes. Ja, so langsam begriff er, warum die Kainskinder Verdammte waren. Sollten sie doch Hupen und rufen.
Er stieg wieder ein, löste die Handbremse und trat bei langsam kommender Kupplung das Gaspedal. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Sein stummer Aufschrei hatte nicht mal eine Grünphase gedauert.
Und weiter steuerte er zielstrebig den Wagen in Richtung Dom.
 
Das Haus der Rizzo's lag immer wieder als der einzig freundliche Fleck in dieser grauen Strasse voller Reihnehäuser, in de sich keines vonj dem anderen zu unterscheiden scheinen wollte, ausser eben jenes, zu dem sich Alexander auf den Weg gemacht hatte. Das einzige, was eine freundlich sonnengelbe Fassade hatte und der warme Lichthschein, der aus den, mit dünnen roten Vorhängen behangenen, Fenstern fiel machte es noch einladender als zuvor.
Der kleine Vorgarten wurde seit seinem letzten Besuch dominiert von bunten Winrädern, einem mit Strassenmalkreide bekritzelten Gartenweg - die Kritzelei setzte sich ganz zum Ärger der Nachbarn auch auf dem Bürgersteig und der Strasse fort - und der Magnolienbaum schien nun auch endlich seine ersten Blüten zur Begrüssung der Besucher spriessen zu lassen.
Vielleicht war es jene Herzenswärme, die die Familie Rizzo mit ihrem sonnigen Gemüt an ihrem Haus wiederzuspiegeln versuchte, die einen Glauben machte, dass man helles Kinderlachen hörte, wenn man in ihrem Vorgarten stand...
 
Dieses Haus, diese Unterkunft der Rizzos verlangte von dem jungen Brujah einiges ab. Er stand da, draußen bei schlechtem Wetter gegenüber des Hauses und gegen seinen Wagen gelehnt. Still stand er da. Wenn er jetzt da rein ginge, würde der Sonnenaufgang auf dem Weg lauern.
Er nahm es mit einem dünnen Lächeln. Wenn sie tot war, hatte er ohnehin nichts besseres verdient. Außerdem würde der Tod ihn hier nicht einholen. Nicht diese Nacht und nicht jetzt. Aber war verdammt zu sterben. Wenn er da reinging, mochte er diese Familie infizieren. Würde er mit ihnen in Verbindung gebracht werden... Gott allein wusste wohl, was dann mit ihnen geschehen würde. Auf jeden Fall nichts schönes, wie er sich sagte.
Aber hatten sie es in ihrer Trostlosigkeit nicht verdient beschützt zu werden? Denn egal, ob er da rein gehen würde oder nicht. Früher oder später würde die dunkle Welt auch diese glückliche Familie zerfressen. Vermutlich war er der einzige, der dies eventuell bewahren konnte. Aber war es nicht klüger einfach fern zu bleiben? Die ersten Häscher der Dunkelheit, würden sie dann nicht erst entdecken.
Aber er konnte hier nicht einfach nur stehen. Er würde sie nie wiedersehen. Aber er musste es wissen, musste sich vergewissern, dass er diese Familie nicht zerstört hatte. Musste es mit eigenen Augen sehen und durfte sich nicht auf die Fassade, die sie an die Nacht legten verlassen.
Dabei kam ihm ein weiterer Gedanke. Er war bekanntlich nicht der einzige Blutsauger in der Nacht. Und einmalig war er sicher auch nicht. Vielleicht hatten sie einen Schutzherren und konnten deswegen glücklich sein. Nein, denn wenn es einen gab, hätte dieser Alexander aufgehalten, noch bevor er die Schwelle überschritten hätte.
Kurzerhand stieß er sich von seinem Wagen ab und trat an die Tür des farbenprächtigen Hauses um zu klingeln.
Er würde nur kurz fragen.
 
Die Tür flog nahezu auf, kaum dass Alexander geklingelt hatte und ein junger, ihm schon bekannter, Bengel stand in der Tür, in Schlafanzug und mit nackten Füssen, sich biegend vor Gekicher.
Ein Blick auf Alexanders Beine, die er als erstes im Blick hatte, verriet ihm aber wohl, dass hier nicht diejenige Person vor der Tür stand, die er erwartet hatte.
Das Lachen erstarb, als die grossen rehbraunen Augen - die von solcher Unschuld erzählten, dass es jemandem der noch eine Seele hatte und wusste, was für ein Unmensch er war hätte zu Tränen rühren können - zu Alexanders Gesicht langsam empor wanderten. Und sofort hielt das Glucksen wieder Einzug.
Marieeeeeellaaaaaaaaaaa, brüllte der kleine Mann mit erstaunlichem Lungenvolumen ins Haus hinein und zupfte Alexander schon am nächsten Moment am Hosenbein.
Es gibt Eis. Mama hat Geburtstag, erklärte er dem eigentlich ja wildfremden Mann ohne umschweife.
 
Auch wenn Alexander gewusst hatte, was ihn erwarten würde, so fühlte er sich dennoch unangenehm. Allein, dass der Kleine nach Mariella rief, hatte noch nicht zu bedeuten, dass es ihr auch gut ging. Immer hin beruhigte ihn der Gedanke, dass sie also wohl noch am Leben war.
Er ließ sich ein wenig mitreißen von dem Kleinen, von dieser fröhlichen aufgeschlossenen Art und ließ davon etwas in sein Herz. Bestimmt würde er sich später dafür schelten. Aber im Moment fühlte er sich Glücklicher und Freier, als es die Trostlosigkeit der Stadt in letzter Zeit, bewirken konnte.
Er gab dem kleinen Nach und trat wenigstens schon mal ein. Dann sollte ich ihr wohl gratulieren. Und natürlich ist jetzt auch die ganze Verwandtschaft im Haus. Du magst wohl Eis. Welches Kind mag kein Eis? Wie alt ist sie denn geworden? Weißt du das, junger Mann?
 
Der Kleine zog eine nachdenkliche Schnute und erklärte dann ziemlich salopp: Ganz alt schon. Sie hatte nämlich keine Kerzen auf dem Kuchen. Weil die bestimmt nicht mehr drauf gepasst haben! Aha. Da war entweder jemand gut in logischen Schlussfolgerungen oder hatte grade jemandem Unrecht getan.

Was ist, France? Meldete sich nun eine Frauenstimme von oben und kurz drauf war Mariella auf dem oberen Treppenabsatz auszumachen.
 
Also wirklich. Der Junge war wirklich gut. Ich danke dir. Weiter kam er nicht. Denn als sein Blick Mariella erfasste hatte er ihn ohnehin fast vergessen. Ob nun wegen ihrer Erscheinung oder der Erleichterung sie wirklich auf den Beinen zu sehen war ihm selbst nicht klar. Aber darüber dachte er auch gar nicht nach.
Nur ein besorgter Besucher zu später Stunde. Ich wollte mich erkundigen, ob es ihnen wieder gut geht, erklärte er.
Wenn sein Gesicht sich schon zuvor erhellt hatte, so zauberte die Erleichterung ein strahlendes Lächeln in seine Züge.
 
Alexander. Begrüsste sie ihn lächelnd und kam die Treppe runter. Nun, so ganz gesund sah sie nicht aus, sie hatte sich wohl eine Grippe eingefangen, einen Schal um den Hals geschlungen und die Nasenspitze ein wenig rot entzündet vom ständigen Nase putzen. Trotz allem sah man ihr die Freude an, Alexander wiederzusehen.
 
Sie erinnerte sich noch an seinen Namen? Dann erinnerte sie sich sicher auch noch daran, wo sie gegessen hatte oder essen hatte wollen. Das gefiel ihm zwar nicht. Aber sie schien wirklich gesund zu sein, abgesehen von der Erkältung.
Mariella, schön zu sehen, dass sie sich wieder erholt haben. Hatten sie lange mit dem Schwächeanfall zu kämpfen? Er lächelte, war glücklich und hätte die Geburtstagsmutter vermutlich wüst umarmt, wenn er ihr hätte gratulieren müssen.
 
Strahlend, wie der junge Morgen und vielleicht ja sogar ebenso gefährlich für Aexander mit ihrem Halbwissen, kam sie neben ihm zum stehen.
Ja. Und ich wollte mich noch einmal bei ihnen bedanken, dass sie mich nach Hause gebracht haben. Aber das glühen in ihren Augen erzählte noch viel mehr von einer Wiedersehensfreude, die nichts mit dieser Nettigkeit zu tun hatte.
Aufgeregt zuppelte der junge Mann nun an Mariella herum. Francesco, geh zu Mama, mahnte Mariella leise.
Der Kleine aber schien gar nicht daran zu denken und deutete hektisch auf Alexander. Der da war's! Und für eine kurze Schockminute liess er diese Anschuldigung einfach im Raum stehen, ehe er japsend erklärte: Der hat uns eingeladen. Gehst du mit mir da ein Eis essen, Mariella?
 
Man muss es wohl Alexanders Erleichterung anrechnen, dass ihm der Blick Mariellas entging. Für ihn war hier alles erledigt. Auch wenn er wohl rot geworden wäre, hätte er es vermocht, bei Mariellas Aussage. Sie wollte sich dafür bedanken, dass er Schuld war?
Und dann blieb ihm fast das Herz stehen. Na ja. Es stand ja schon seit einigen Jahren still. Aber wenn dem nicht so gewesen wäre, wäre er ab heute eine wandelnde Leiche gewesen. Später würde er sich sicher fragen, ob er davon nicht ein paar graue Strähnen davontrug. Der da war’s! Mehrmals hallte es in seinen Ohren nach. Aber wie konnte der Junge davon Wissen? Er hatte diese bunte Familie im Grau der Stadt zerstört, so befürchtete er schon, als der Junge erklärte, was er meinte. Schnell sammelte sich der junge Brujah wieder und die entgleisten Gesichtszüge kamen wieder unter seien Kontrolle. Das Strahlen schien nun jedoch verhalten, als wenn ein Schatten darüber gefallen war.
Es spricht nichts dagegen, wenn ihr wollt. Aber wohl besser ein andermal, wo es noch nicht ganz so spät ist. Hier sieht es nämlich eher so aus, als müsse jemand langsam ins Bett fliegen, erwiderte er dem Jungen verschmitzt.
 
Dem Einwand konnte sich Mariella nur schmunzelnd anschliessen, während Alexander bei France erstmal alle positiven Zuwendungen damit verspielt hatte seine unbarmherzige Schwester daran zu erinnern, dass es Zeit war ins Bett zu gehen. Zwar auf italienisch, aber dennoch sehr eindeutig machte ihm Mariella klar, dass er erst ins Wohnzimmer gehen sollte, um allen gute Nacht zu sagen, ehe er nach oben ins Bett verschwinden sollte.
Mit vor Empörung kraus gezogener Nase, stapfte der Zwerg ins Wohnzimmer, aus dem einen Moment lauter werdendes Gelächter und Musik erklang, als France die Tür aufzog, um sie hinter sich wieder - demonstrativ laut - ins Schloss fallen zu lassen.
Wollen sie... nicht mit reinkommen? Erkundigte sich Mariella lächelnd bei Alexander und deutete auf eben jene Wohnzimmertür, durch die France verschwunden war.
 
Nein. Lieber nicht. Ich muss noch arbeiten. Bestellen sie allen einen lieben Gruß von mir. Und machen sie es gut. Nein, schimpfte er sich. Er hätte sagen sollen, Seine Frau würde warten. Nein, keine gute Idee. Er wohnte alleine, das würde sich zu einfach herausfinden lassen. Aber er hätte sagen können, er hätte eine wartende Verabredung. Oh, ja. Viel besser als so ein spießiger Workaholic und eine sanfte Abfuhr zudem.
Dennoch wollte er sich wieder zum Gehen wenden.
 
Mariella war die Enttäuschung deutlich anzusehen, aber sie lächelte eisern. Oh, ich verstehe... Haben sie noch einen schönen Abend, Alex... Konnte man so grossen, dunklen Rehaugen eigentlich widerstehen, wenn sie so traurig dreinblickten?
 
Im Prinzip hatte Alexander keine Wahl. Der Zwang zu Gehen war einfach zu groß. Würde es doch sonst alles zerstören. Vor allem diese Rehaugen.
Aber er stand noch viel zu sehr mit einem Bein in den Reihen der Lebenden. Und sein Herz versagte ihm, so dass er ihr zum Abschied noch etwas zuflüsterte. Wir könnten uns am Samstag im Maxican treffen. Dann machte er sich endgültig auf den Heimweg. Wenn sie ihn treffen wollte, dann da. Wenn nicht, dann eben nicht.
Er winkte nur noch einmal von seinem Auto aus, bevor er einstieg und fuhr ohne weitere Umschweife los. Kaum war er abgebogen als er eine Art heulenden Schrei von sich gab. Eine Art Verzweiflungsausdruck. Dabei klopfte er mit einer Hand so kräftig auf die Autotür, dass diese vermutlich eine Macke bekam. Dachte er mit dem Herzen, brachte er andere in Gefahr. Tat er es nicht, waren sie ihm egal und starben deswegen. In Gedanken suchte er nach allen Beschimpfungen, die aus dem Lateinunterricht hängen geblieben waren und stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus.
Natürlich würde er am Samstag im Maxican aufkreuzen. Nur um sie zu sehen. Nur wegen der Möglichkeit, dass sie kommen mochte. Nur wegen dem süßen Duft, der Jugend, welches durch ihre Adern strömte.
 
Zurück
Oben Unten