Manny
Relikt
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World of Darkness
WoD2 Grundregelwerk
Mit einer neuen World of Darkness geht White Wolf mit ihren Erzählspielen in die zweite Runde. Der Hauptgedanke eines Kernregelwerkes liegt darin für alle World of Darkness Linien ein Regelfundament zu bilden; sozusagen ein „Grundgrundregelwerk“ für sämliche Grundregelwerke der abstammenden Spiellinien. Das Regelfundament beinhaltet einheitliche Mechaniken, die alle Bewohner des Systems betreffen, mit der einen oder anderen Ausnahme für Übernatürliche. Als solches ist es also mindestens gemeinsame Regelbasis als auch Regelwerk für die Nicht-Übernatürlichen.
Worum geht es nun eigentlich genau in dieser World of Darkness? Das lässt sich sehr einfach erklären, weil die Eckpfeiler des Settings nichts ungewöhnliches oder „fantastisches“ sind: es geht um eine subtil düstere Version der modernen Welt, wie wir sie kennen; hier und da gibt es vielleicht ein paar Obdachlose mehr, andernorts verschwindet Personen vielleicht ein weniger häufiger spurlos. In den dunklen Schatten hausen verborgene Kreaturen und dunkle Mächte, verstecken sich vor oder in der Menschheit wie der Wolf im Schafspelz. Worüber man nun stolpert, das bleibt dem Erzähler freigestellt. Und wenn man auch in Besitz eines der Subsysteme ist – und erfahrungsgemäß ist das meistens der Fall –, so kann man auch Teil dieser anderen Seite der Medaillie werden.
Wie beinahe jede Publikation in der neuen World of Darkness Serie ist auch dieses Buch solides Hardcover. Die Hülle zeigt in Schwarz-Blau-Weiß ein unscharfes, verwackeltes Bild eines Mannes von hinten, der sich durch die nur sporadisch beleuchtete Gasse einer Großstadt wagt. Darunter verstecken sich 224 Seiten in Schwarz/Weiß auf glänzendem Papier, die letzte davon Werbung für den offiziellen, in Theorie globalen Fan Club von White Wolf namens Camarilla. Mein Exemplar hat schon einiges an Zeit und Gebrauch verstreichen gesehen, und die Bindung hält nach wie vor.
Der Inhalt beginnt unmittelbar mit einer Geschichte, wie es für Publikationen Usus ist; in diesem konkreten Fall ist es ein annotierten Bericht, der den geneigten Leser schon vorab auf die mysteriösen Machenschaften einstimmen soll. Nach den Credits und dem Inhaltsverzeichnis geht es auch schon mit dem konkreten Inhalt los.
Kapitel 1 – „The Secret Society“ – versucht den Leser stückchenweise in die Idee einzuführen, dass nicht alles in der fiktiven Welt ganz so koscher ist, wie man meinen möchte. Dieses Statement wird nach und nach unterstrichen, und es wird auch reichtlich Gebrauch von Exzerpten gemacht, in denen über mysteriösen Ungereimtheiten, urbanen Mythen, Vampiren bis hin Aliens erzählt wird. Und das ist noch nicht das Ende der Liste. Die Aufmachungen dieser Exzerpte sowie deren Qualität sind ziemlich weit gestreut, aber vielleicht für Neulinge eine willkommene, helfende Hand.
Interessanterweise gibt es hier am Kapitelende bereits eine sehr rudimentäre, zweiseitige Zusammenfassung über White Wolfs Storytelling System. Unmittelbar darauf folgt eine kurz gehaltene Schreibung über den Charaktererstellungsprozess, einem Glossar und einer Auflistung von häufigen Fertigkeitskombinationen, die bei Proben eingesetzt werden. Die Charaktererschaffung selbst ist zwar an sich recht trivial und sollte spätestens nach dem zweiten Mal aus dem Gedächtnis heraus passieren können. Die Grundregelwerke der Subsysteme, wie etwa Vampire: The Requiem, benutzen keine vollständig eigenständige Charaktererschaffung, sondern knüpfen unmittelbar daran an.
Die Mechaniken hinter der World of Darkness schwören übrigens auf zehnseitige Würfel; etwas anderes ist nicht notwendig. Im Regelfall gestalten sich Wurfproben so, dass die eigenen, für eine Aktion relevante Fertigkeiten zusammenaddiert werden, der Erzähler noch aufgrund der Umstände etwas hinzufügt oder subtrahiert, und das Ergebnis dann die Anzahl der zu rollenden, zehnseitigen Würfel ist. Danach wird jeder Würfel einzeln angesehen, jeder Einzelnde mit der Ziffer Acht oder höher zählt als Erfolg, und Zehner dürfen sogar noch einmal gewürfelt werden, um zusätzliche Erfolge zu erzielen. In einigen, seltenen Fällen – und zwar jedes Mal, wenn die Anzahl der zu rollenden Würfel weniger als eins wäre und man dann nur einen Würfel benutzen darf – zählt allerdings nur die Zehn selbst als Erfolg, und die Eins ist ein Vorbote für einen dramatischen Fehlschlag.
Im Gegensatz zur alten World of Darkness gibt es also schon hier maßgebende Unterschiede: Patzer können nur noch in bestimmten Situationen auftreten, und welche Ziffern als Erfolg gelten oder auch nicht ist in Stein gemeißelt.
Kapitel 2 – „Attributes“ – sowie Kapitel 3 – „Skills“ – sind in einer etwas enzyklopädischeren Aufmachung gestaltet und beschreiben im Detail, was nun die Einträge auf dem Charakterblatt bedeuten, um Missverständnisse weitestgehend vorzubeugen (und ich hatte tatsächlich sogar mal eine Spielerin, die mit dem Begriff „Empathie“ absolut nichts anfangen konnte). Das System unterscheidet hier also im Wesentlichen neun Attribute, die die körpereigenen Fähigkeiten beschreiben, und 24 Fertigkeiten, die angelernte Expertise und Erfahrung wiederspiegeln. Im Falle von letzterem ist es auch möglich eigenständig gewählte, dazugehörige Spezialisierungen zu wählen, die meistens ein eingeschränkter Teil der Fertigkeit selbst sind, wie beispielsweise eine Spezialisierung „Hacken“ für die Fertigkeit „Computer“. Proben, die auf Spezialisierungen zurückgreifen, erhalten einen kleinen Bonus in Form eines weiteren Würfels.
Jeder einzelne Eintrag sieht so aus, dass zuerst ein Stück Geschichte in kursivem Text dem Leser eine Situation ohne richtigem Anfang und ohne richtigem Ende präsentiert, die im kontextuellem Zusammenhang mit der jeweiligen Fähigkeit steht. Danach folgt eine kurze Beschreibung sowie eine genauere Präsentation relevanter häufiger Würfe mit der jeweiligen Fähigkeit, wie die Ergebnisse dieser Proben interpretiert werden können, und welche Umstände die Anzahl der Würfel im Pool beeinflussen können. Im Falle von Fertigkeiten sind exemplarische Beispiele für Spezialisierungen erwähnt.
Kapitel 4 – „Advantages“ – kümmert sich nun um eine andere Art von Charaktereigenschaften. Verteidigung im Nahkampf, Moral, Tugend, Laster, Geschwindigkeit und noch einige andere. Hier spürt man die wesentlichen Unterschiede zu den Mechaniken der alten Systeme deutlicher: anstelle von Wesen und Verhalten tritt nun Virtue und Vice, die allgemein als die sieben Todsünden und die sieben Tugenden bekannt sein sollten. Man kann sich das als tief in der Psyche des Charakters vergrabene Wünsche vorstellen, die die Willenskraft bestärken, wenn man ihnen nachgibt. Ob und wie oft man das nun eigentlich tut, ob sie offensichtlich für andere sind oder nur subtil ans Tageslicht kommen, bleibt allerdings Entscheid des Spielers. Die Virtues aus dem alten System (Gewissen, Selbstkontrolle und Courage) sind übrigens gänzlich weggefallen.
Dann gibt es noch das leicht überarbeitete Moralsystem. Üblicherweise beginnen frische Charaktere mit sieben von zehn möglichen Punkten. Und jedes mal, wenn man eine Tat begeht, die für die jeweilige Moralitätsstufe eine Sünde darstellt, riskiert man einen Punkt tiefer zu rutschen. Soweit kaum etwas Neues. Rutscht man aber tatsächlich einmal die Leiter hinab, so steigt nach und nach die Gefahr Geistesstörungen zu entwickeln; einige bekannte Vertreter und ihre Effekte sind in dieser Publikation bereits vertreten. Überwinden lassen sich solche nur, wenn man die Leiter wieder hinaufsteigt – üblicherweise nur durch vom Erzähler abgesegnetes Ausgeben von Erfahrungspunkten.
Nach der detaillierten Beschreibungen der Charaktereigenschaften sowie dazugehörigen Mechaniken endet das Kapitel auch schon und lässt Kapitel 5 – „Merits“ – auf die Bühne treten. Was in den alten Systemen noch in „Hintergrund“ und „Vorteil“ seperiert war, wurde nun zu „Vorzügen“ fusioniert. Darunter fallen Eigenheiten, Hintergründe und besondere Merkmale eines Charakters; vom fotografischen Gedächtnis über die Anzahl der Geldnoten in der eigenen Böse bis hin zu speziell eingeübten Kampfstilen lässt sich in diesem Kapitel einiges finden. Und wem das noch nicht genug ist, der wird bestimmt in einen der thematischen Supplements fündig.
Merits sind auf unterschiedlichen Stufen verfügbar und sind nicht immer von eins bis fünf skalierbar. Doch man soll sich nicht zu früh freuen, man hat nicht überall freie Hand: die neuen Vorzüge können gewisse Voraussetzungen haben. Das macht durchaus Sinn, ein völlig ungeschickter Charakter wird sicher keine katzenhaften Reflexe an den Tag legen.
Mit Kapitel 6 – „Dramatic Systems“ – werden nun einige wesentliche Konzepte der Mechaniken vorgestellt oder näher erläutert. Es beginnt mit einer kurzen Begriffsdefinition von abstrakten Zeiteinheiten im System und geht dann nahtlos in eine genauere Erläuterung der Würfelmechaniken über. White Wolf nimmt sich auch die Zeit viele der einzelnen Punkte mit Beispielen zu untermauern und bespricht auch Konzepte wie Teamwork. Dennoch ist diese Passage im Grunde genommen nur eine konkretere und umfangreichere Ausführung vom Ende des ersten Kapitels; das gestaltet es streckenweise etwas redundant. Dafür sind die Grundmechaniken am Ende des ersten Kapitels deutlich kürzer formuliert, was es als ideales Opfer für die Kopiergeräte gestaltet, um Handouts für Neulinge zur Hand haben zu können.
Schlussendlich folgen Mechaniken für Objekte und Equipment in einigen Farben und Formen, von Nachtsichtbrillen über SUVs. Nicht uninteressant ist hier der Aspekt, dass Objekte ebenso eine Form von „Gesundheit“ besitzen; ich persönlich jedoch bin kein großer Freund von exzessiver Buchhaltung und empfehle derartiges nur bei Fragestellungen wie beispielsweise „Wie oft kann ich mit einem Holzbrett zuschlagen, bevor es zerbricht?“ oder „Wann muss ich mit degradierter Ausrüstungsqualität rechnen?“ anzuwenden – und ich denke im letzteren Fall ganz besonders an Nahkampfangriffe mit Fernkampfwaffen, auf denen ein Visier angebracht ist. Letztendlich ist es aber ein Entscheid des Erzählers, wann und wie oft der über derartige Dinge Buch führt. Auch nicht uninteressant ist das Vorhandensein von Regeln für improvisierte Waffen. Glücklicherweise gestalten sich die Regeln hierfür recht kurz und machen keine eigene Wissenschaft daraus; es lohnt sich also noch mit dem Gedanken zu spielen seinem Gegenüber mit einem Spaten die Milchzähne zu polieren.
Apropos, wo wir gerade beim Polieren von Milchzähnen sind: Kapitel 7 – „Combat“ – beschäftigt sich nun endlich mit den Regeln, die für die meisten Rollenspielsysteme unerlässlich sind. Von „üblichen“ Regelungen hinsichtlich Initiative und Angriffe gibt es auch noch eine Reihe an behandelten Themen, die sich mit Komplikationen im Nah- und Fernkampf beschäftigen. Und wer die Systeme der alten World of Darkness kennt, dem sollte auch spätestens jetzt auffallen, dass die neuen Mechaniken spürbar vereinfacht worden sind: Anstelle einer Angriff-Schaden-Soaking-Sequenz mit jeweils eigenen Würfelpools tritt nun nur noch der Angriff, bei welchem Abzüge durch Rüstungen und Umstände bereits im Pool impliziert werden und die gewürfelten Erfolge die Anzahl des Schadens ergibt. Deutlich einfacherer, deutlich schneller – und somit deutlich abstrakter, was einigen durchaus sauer aufstoßen kann.
Das Kapitel enthält auch eine einseitige Zusammenfassung der Kampfregeln und möglichen Optionen in der Hitze des Gefechts, von gut und lang geziehlten Angriffen bis hin zu All-Out-Manövern ohne Rücksicht auf die eigene Deckung. Wieder etwas, was sich als Handout eignet.
Was bei so einem Thema natürlich ebenso unerlässlich ist, sind archetypische Waffen und ihre Werte; hier hat sich White Wolf entschieden lediglich überblicksartig tabellarisch Kategorien von Waffen – und keine archetypischen Vertreter derselbigen – mit Werten auszustatten; das heißt, dass man hier lediglich Einträge nach dem Schema „Schwere Revolver, diese Werte. SW M29, Kaliber .44, fällt in diese Kategorie“ benutzt. Wer mehr Details oder mehr Differenzierung benötigt, dem bleibt nur die Wahl selbst Hand anzulegen oder das Supplement zu kaufen, das sich mit thematischem Fokus damit beschäftigt – nämlich Armory.
Wo gesägt wird, fallen Späne. Und wo geschossen wird, fließt auch Blut. Nun wird man mit dem Schadens- und Gesundheitssystem vertraut gemacht. Selbstverständlich gibt es wieder das eine oder andere ausgeführte Beispiel, wie das im Realfall nun aussehen kann. Und das ist noch nicht alles: nun müssen auch Themen wie Hunger, Erschöpfung, Sprengstoffe, Fallschaden, Gifte, Schaden durch Feuer- oder Elektrizitätsquellen und ähnliche Mittel in den Zeugenstand treten. Wer der Meinung ist, einige Dinge, beispielsweise Schaden durch Elektrizität, seien zu exotisch, dem möchte ich noch kurz darauf hinweisen: mein Mage-Charakter ist anderer Meinung.
Mit Kapitel 8 – „Storytelling“ – neigt sich die Publikation dem Ende zu. Hier geht es im Wesentlichen darum angehenden Erzähler mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, beginnend mit einem Crash-Kurs über Thematik, Geschichten, Plots und Konflikten. Es geht sogar soweit, dass White Wolf an dieser Stelle „The 10 Commandments [of Storytelling]“ vorstellt. Es gibt Story Hooks und Ideen für die unterschiedlichsten Arten von Spielstilen und möglichen Geschehnissen, vom Explorativen bis hin zur Konfrontation. Da die World of Darkness kein Kindergeburtstag ist, gibt es auch gleich eine Reihe von Beispiel-Agonisten inklusive mechanischen Werten, von üblichen Tieren über Clubbesucher bis hin zum mürrischen SWAT Officer. Zudem werden hier Gespenster in einem Rahmen behandelt, der es mühelos erlauben sollte, diese Art der Unnatürlichen für eine kleine Spukgeschichte einzusetzen. Sollte man also jemals in die Fußstapfen des Exorzisten treten wollen, hier wird einem geholfen.
Nachdem noch kurz exemplarisch signifikante Charakterschwächen als optionale Regel besprochen werden, schließt das Buch auch schon mit dem Index, einem einseitigen Charakterblatt und der Werbung für die Camarilla.
Fazit: Man kommt nicht drum herum. Wenn man irgendein System der neuen World of Darkness spielen will, so benötigt man zwangsläufig dieses eine Buch. Es ist nicht immer besonders spannend oder prickelnd, da es sich mehr wie ein enzyklopädisches Referenzwerk verhält, aber es enthält die „Grundgrundregeln“ für alle weiteren Systeme – Changeling: The Lost, Hunter: The Vigil, Mage: The Awakening, Promethean: The Created, Werewolf: The Forsaken sowie Vampire: The Requiem. Der Ansatz, alle wichtigen Regeln des Systems in einem einzigen Buch zu kapseln, ist sicher eine Frohbotschaft für Crossover-Spieler, denn so hat man einerseits eine gemeinsame Basis mit konsistenten Regeln und andererseits erspart man es sich auch immer wieder (hoffentlich) dieselben Würfelregeln und Mechaniken in jedem anderen Regelwerk der neuen World of Darkness abzudrucken bzw. zu lesen, das Platz für (ebenso hoffentlich) Sinnvolleres schafft.
Natürlich bedeutet das aber auch, dass man für die oben genannten Subsysteme zwangsläufig auch immer dieses Buch zusätzlich benötigt. Die einzige Möglichkeit die World of Darkness mit nur einem Buch zu spielen wäre, indem man einfach nur einen Menschen spielt – allerdings haben wir die World of Darkness gerade deswegen liebgewonnen, weil wir auch einmal die andere Seite der Medaillie spielen dürfen.
Glücklicherweise kann ich auf vier Jahre Retroperspektive zurückblicken, und das bestärkt mich in meiner Meinung, dass dieser Ansatz ein guter ist. Die neuen Regeln haben sich meiner Ansicht nach als gut erwiesen; hier und da kann man noch mit ein paar Hausregeln tweaken, wenn man den Abstraktheitsgrad nicht willkommen heißt, aber soviel Bedarf bestünde eigentlich kaum.Den Artikel im Blog lesen
WoD2 Grundregelwerk
Mit einer neuen World of Darkness geht White Wolf mit ihren Erzählspielen in die zweite Runde. Der Hauptgedanke eines Kernregelwerkes liegt darin für alle World of Darkness Linien ein Regelfundament zu bilden; sozusagen ein „Grundgrundregelwerk“ für sämliche Grundregelwerke der abstammenden Spiellinien. Das Regelfundament beinhaltet einheitliche Mechaniken, die alle Bewohner des Systems betreffen, mit der einen oder anderen Ausnahme für Übernatürliche. Als solches ist es also mindestens gemeinsame Regelbasis als auch Regelwerk für die Nicht-Übernatürlichen.
Worum geht es nun eigentlich genau in dieser World of Darkness? Das lässt sich sehr einfach erklären, weil die Eckpfeiler des Settings nichts ungewöhnliches oder „fantastisches“ sind: es geht um eine subtil düstere Version der modernen Welt, wie wir sie kennen; hier und da gibt es vielleicht ein paar Obdachlose mehr, andernorts verschwindet Personen vielleicht ein weniger häufiger spurlos. In den dunklen Schatten hausen verborgene Kreaturen und dunkle Mächte, verstecken sich vor oder in der Menschheit wie der Wolf im Schafspelz. Worüber man nun stolpert, das bleibt dem Erzähler freigestellt. Und wenn man auch in Besitz eines der Subsysteme ist – und erfahrungsgemäß ist das meistens der Fall –, so kann man auch Teil dieser anderen Seite der Medaillie werden.
Wie beinahe jede Publikation in der neuen World of Darkness Serie ist auch dieses Buch solides Hardcover. Die Hülle zeigt in Schwarz-Blau-Weiß ein unscharfes, verwackeltes Bild eines Mannes von hinten, der sich durch die nur sporadisch beleuchtete Gasse einer Großstadt wagt. Darunter verstecken sich 224 Seiten in Schwarz/Weiß auf glänzendem Papier, die letzte davon Werbung für den offiziellen, in Theorie globalen Fan Club von White Wolf namens Camarilla. Mein Exemplar hat schon einiges an Zeit und Gebrauch verstreichen gesehen, und die Bindung hält nach wie vor.
Der Inhalt beginnt unmittelbar mit einer Geschichte, wie es für Publikationen Usus ist; in diesem konkreten Fall ist es ein annotierten Bericht, der den geneigten Leser schon vorab auf die mysteriösen Machenschaften einstimmen soll. Nach den Credits und dem Inhaltsverzeichnis geht es auch schon mit dem konkreten Inhalt los.
Kapitel 1 – „The Secret Society“ – versucht den Leser stückchenweise in die Idee einzuführen, dass nicht alles in der fiktiven Welt ganz so koscher ist, wie man meinen möchte. Dieses Statement wird nach und nach unterstrichen, und es wird auch reichtlich Gebrauch von Exzerpten gemacht, in denen über mysteriösen Ungereimtheiten, urbanen Mythen, Vampiren bis hin Aliens erzählt wird. Und das ist noch nicht das Ende der Liste. Die Aufmachungen dieser Exzerpte sowie deren Qualität sind ziemlich weit gestreut, aber vielleicht für Neulinge eine willkommene, helfende Hand.
Interessanterweise gibt es hier am Kapitelende bereits eine sehr rudimentäre, zweiseitige Zusammenfassung über White Wolfs Storytelling System. Unmittelbar darauf folgt eine kurz gehaltene Schreibung über den Charaktererstellungsprozess, einem Glossar und einer Auflistung von häufigen Fertigkeitskombinationen, die bei Proben eingesetzt werden. Die Charaktererschaffung selbst ist zwar an sich recht trivial und sollte spätestens nach dem zweiten Mal aus dem Gedächtnis heraus passieren können. Die Grundregelwerke der Subsysteme, wie etwa Vampire: The Requiem, benutzen keine vollständig eigenständige Charaktererschaffung, sondern knüpfen unmittelbar daran an.
Die Mechaniken hinter der World of Darkness schwören übrigens auf zehnseitige Würfel; etwas anderes ist nicht notwendig. Im Regelfall gestalten sich Wurfproben so, dass die eigenen, für eine Aktion relevante Fertigkeiten zusammenaddiert werden, der Erzähler noch aufgrund der Umstände etwas hinzufügt oder subtrahiert, und das Ergebnis dann die Anzahl der zu rollenden, zehnseitigen Würfel ist. Danach wird jeder Würfel einzeln angesehen, jeder Einzelnde mit der Ziffer Acht oder höher zählt als Erfolg, und Zehner dürfen sogar noch einmal gewürfelt werden, um zusätzliche Erfolge zu erzielen. In einigen, seltenen Fällen – und zwar jedes Mal, wenn die Anzahl der zu rollenden Würfel weniger als eins wäre und man dann nur einen Würfel benutzen darf – zählt allerdings nur die Zehn selbst als Erfolg, und die Eins ist ein Vorbote für einen dramatischen Fehlschlag.
Im Gegensatz zur alten World of Darkness gibt es also schon hier maßgebende Unterschiede: Patzer können nur noch in bestimmten Situationen auftreten, und welche Ziffern als Erfolg gelten oder auch nicht ist in Stein gemeißelt.
Kapitel 2 – „Attributes“ – sowie Kapitel 3 – „Skills“ – sind in einer etwas enzyklopädischeren Aufmachung gestaltet und beschreiben im Detail, was nun die Einträge auf dem Charakterblatt bedeuten, um Missverständnisse weitestgehend vorzubeugen (und ich hatte tatsächlich sogar mal eine Spielerin, die mit dem Begriff „Empathie“ absolut nichts anfangen konnte). Das System unterscheidet hier also im Wesentlichen neun Attribute, die die körpereigenen Fähigkeiten beschreiben, und 24 Fertigkeiten, die angelernte Expertise und Erfahrung wiederspiegeln. Im Falle von letzterem ist es auch möglich eigenständig gewählte, dazugehörige Spezialisierungen zu wählen, die meistens ein eingeschränkter Teil der Fertigkeit selbst sind, wie beispielsweise eine Spezialisierung „Hacken“ für die Fertigkeit „Computer“. Proben, die auf Spezialisierungen zurückgreifen, erhalten einen kleinen Bonus in Form eines weiteren Würfels.
Jeder einzelne Eintrag sieht so aus, dass zuerst ein Stück Geschichte in kursivem Text dem Leser eine Situation ohne richtigem Anfang und ohne richtigem Ende präsentiert, die im kontextuellem Zusammenhang mit der jeweiligen Fähigkeit steht. Danach folgt eine kurze Beschreibung sowie eine genauere Präsentation relevanter häufiger Würfe mit der jeweiligen Fähigkeit, wie die Ergebnisse dieser Proben interpretiert werden können, und welche Umstände die Anzahl der Würfel im Pool beeinflussen können. Im Falle von Fertigkeiten sind exemplarische Beispiele für Spezialisierungen erwähnt.
Kapitel 4 – „Advantages“ – kümmert sich nun um eine andere Art von Charaktereigenschaften. Verteidigung im Nahkampf, Moral, Tugend, Laster, Geschwindigkeit und noch einige andere. Hier spürt man die wesentlichen Unterschiede zu den Mechaniken der alten Systeme deutlicher: anstelle von Wesen und Verhalten tritt nun Virtue und Vice, die allgemein als die sieben Todsünden und die sieben Tugenden bekannt sein sollten. Man kann sich das als tief in der Psyche des Charakters vergrabene Wünsche vorstellen, die die Willenskraft bestärken, wenn man ihnen nachgibt. Ob und wie oft man das nun eigentlich tut, ob sie offensichtlich für andere sind oder nur subtil ans Tageslicht kommen, bleibt allerdings Entscheid des Spielers. Die Virtues aus dem alten System (Gewissen, Selbstkontrolle und Courage) sind übrigens gänzlich weggefallen.
Dann gibt es noch das leicht überarbeitete Moralsystem. Üblicherweise beginnen frische Charaktere mit sieben von zehn möglichen Punkten. Und jedes mal, wenn man eine Tat begeht, die für die jeweilige Moralitätsstufe eine Sünde darstellt, riskiert man einen Punkt tiefer zu rutschen. Soweit kaum etwas Neues. Rutscht man aber tatsächlich einmal die Leiter hinab, so steigt nach und nach die Gefahr Geistesstörungen zu entwickeln; einige bekannte Vertreter und ihre Effekte sind in dieser Publikation bereits vertreten. Überwinden lassen sich solche nur, wenn man die Leiter wieder hinaufsteigt – üblicherweise nur durch vom Erzähler abgesegnetes Ausgeben von Erfahrungspunkten.
Nach der detaillierten Beschreibungen der Charaktereigenschaften sowie dazugehörigen Mechaniken endet das Kapitel auch schon und lässt Kapitel 5 – „Merits“ – auf die Bühne treten. Was in den alten Systemen noch in „Hintergrund“ und „Vorteil“ seperiert war, wurde nun zu „Vorzügen“ fusioniert. Darunter fallen Eigenheiten, Hintergründe und besondere Merkmale eines Charakters; vom fotografischen Gedächtnis über die Anzahl der Geldnoten in der eigenen Böse bis hin zu speziell eingeübten Kampfstilen lässt sich in diesem Kapitel einiges finden. Und wem das noch nicht genug ist, der wird bestimmt in einen der thematischen Supplements fündig.
Merits sind auf unterschiedlichen Stufen verfügbar und sind nicht immer von eins bis fünf skalierbar. Doch man soll sich nicht zu früh freuen, man hat nicht überall freie Hand: die neuen Vorzüge können gewisse Voraussetzungen haben. Das macht durchaus Sinn, ein völlig ungeschickter Charakter wird sicher keine katzenhaften Reflexe an den Tag legen.
Mit Kapitel 6 – „Dramatic Systems“ – werden nun einige wesentliche Konzepte der Mechaniken vorgestellt oder näher erläutert. Es beginnt mit einer kurzen Begriffsdefinition von abstrakten Zeiteinheiten im System und geht dann nahtlos in eine genauere Erläuterung der Würfelmechaniken über. White Wolf nimmt sich auch die Zeit viele der einzelnen Punkte mit Beispielen zu untermauern und bespricht auch Konzepte wie Teamwork. Dennoch ist diese Passage im Grunde genommen nur eine konkretere und umfangreichere Ausführung vom Ende des ersten Kapitels; das gestaltet es streckenweise etwas redundant. Dafür sind die Grundmechaniken am Ende des ersten Kapitels deutlich kürzer formuliert, was es als ideales Opfer für die Kopiergeräte gestaltet, um Handouts für Neulinge zur Hand haben zu können.
Schlussendlich folgen Mechaniken für Objekte und Equipment in einigen Farben und Formen, von Nachtsichtbrillen über SUVs. Nicht uninteressant ist hier der Aspekt, dass Objekte ebenso eine Form von „Gesundheit“ besitzen; ich persönlich jedoch bin kein großer Freund von exzessiver Buchhaltung und empfehle derartiges nur bei Fragestellungen wie beispielsweise „Wie oft kann ich mit einem Holzbrett zuschlagen, bevor es zerbricht?“ oder „Wann muss ich mit degradierter Ausrüstungsqualität rechnen?“ anzuwenden – und ich denke im letzteren Fall ganz besonders an Nahkampfangriffe mit Fernkampfwaffen, auf denen ein Visier angebracht ist. Letztendlich ist es aber ein Entscheid des Erzählers, wann und wie oft der über derartige Dinge Buch führt. Auch nicht uninteressant ist das Vorhandensein von Regeln für improvisierte Waffen. Glücklicherweise gestalten sich die Regeln hierfür recht kurz und machen keine eigene Wissenschaft daraus; es lohnt sich also noch mit dem Gedanken zu spielen seinem Gegenüber mit einem Spaten die Milchzähne zu polieren.
Apropos, wo wir gerade beim Polieren von Milchzähnen sind: Kapitel 7 – „Combat“ – beschäftigt sich nun endlich mit den Regeln, die für die meisten Rollenspielsysteme unerlässlich sind. Von „üblichen“ Regelungen hinsichtlich Initiative und Angriffe gibt es auch noch eine Reihe an behandelten Themen, die sich mit Komplikationen im Nah- und Fernkampf beschäftigen. Und wer die Systeme der alten World of Darkness kennt, dem sollte auch spätestens jetzt auffallen, dass die neuen Mechaniken spürbar vereinfacht worden sind: Anstelle einer Angriff-Schaden-Soaking-Sequenz mit jeweils eigenen Würfelpools tritt nun nur noch der Angriff, bei welchem Abzüge durch Rüstungen und Umstände bereits im Pool impliziert werden und die gewürfelten Erfolge die Anzahl des Schadens ergibt. Deutlich einfacherer, deutlich schneller – und somit deutlich abstrakter, was einigen durchaus sauer aufstoßen kann.
Das Kapitel enthält auch eine einseitige Zusammenfassung der Kampfregeln und möglichen Optionen in der Hitze des Gefechts, von gut und lang geziehlten Angriffen bis hin zu All-Out-Manövern ohne Rücksicht auf die eigene Deckung. Wieder etwas, was sich als Handout eignet.
Was bei so einem Thema natürlich ebenso unerlässlich ist, sind archetypische Waffen und ihre Werte; hier hat sich White Wolf entschieden lediglich überblicksartig tabellarisch Kategorien von Waffen – und keine archetypischen Vertreter derselbigen – mit Werten auszustatten; das heißt, dass man hier lediglich Einträge nach dem Schema „Schwere Revolver, diese Werte. SW M29, Kaliber .44, fällt in diese Kategorie“ benutzt. Wer mehr Details oder mehr Differenzierung benötigt, dem bleibt nur die Wahl selbst Hand anzulegen oder das Supplement zu kaufen, das sich mit thematischem Fokus damit beschäftigt – nämlich Armory.
Wo gesägt wird, fallen Späne. Und wo geschossen wird, fließt auch Blut. Nun wird man mit dem Schadens- und Gesundheitssystem vertraut gemacht. Selbstverständlich gibt es wieder das eine oder andere ausgeführte Beispiel, wie das im Realfall nun aussehen kann. Und das ist noch nicht alles: nun müssen auch Themen wie Hunger, Erschöpfung, Sprengstoffe, Fallschaden, Gifte, Schaden durch Feuer- oder Elektrizitätsquellen und ähnliche Mittel in den Zeugenstand treten. Wer der Meinung ist, einige Dinge, beispielsweise Schaden durch Elektrizität, seien zu exotisch, dem möchte ich noch kurz darauf hinweisen: mein Mage-Charakter ist anderer Meinung.
Mit Kapitel 8 – „Storytelling“ – neigt sich die Publikation dem Ende zu. Hier geht es im Wesentlichen darum angehenden Erzähler mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, beginnend mit einem Crash-Kurs über Thematik, Geschichten, Plots und Konflikten. Es geht sogar soweit, dass White Wolf an dieser Stelle „The 10 Commandments [of Storytelling]“ vorstellt. Es gibt Story Hooks und Ideen für die unterschiedlichsten Arten von Spielstilen und möglichen Geschehnissen, vom Explorativen bis hin zur Konfrontation. Da die World of Darkness kein Kindergeburtstag ist, gibt es auch gleich eine Reihe von Beispiel-Agonisten inklusive mechanischen Werten, von üblichen Tieren über Clubbesucher bis hin zum mürrischen SWAT Officer. Zudem werden hier Gespenster in einem Rahmen behandelt, der es mühelos erlauben sollte, diese Art der Unnatürlichen für eine kleine Spukgeschichte einzusetzen. Sollte man also jemals in die Fußstapfen des Exorzisten treten wollen, hier wird einem geholfen.
Nachdem noch kurz exemplarisch signifikante Charakterschwächen als optionale Regel besprochen werden, schließt das Buch auch schon mit dem Index, einem einseitigen Charakterblatt und der Werbung für die Camarilla.
Fazit: Man kommt nicht drum herum. Wenn man irgendein System der neuen World of Darkness spielen will, so benötigt man zwangsläufig dieses eine Buch. Es ist nicht immer besonders spannend oder prickelnd, da es sich mehr wie ein enzyklopädisches Referenzwerk verhält, aber es enthält die „Grundgrundregeln“ für alle weiteren Systeme – Changeling: The Lost, Hunter: The Vigil, Mage: The Awakening, Promethean: The Created, Werewolf: The Forsaken sowie Vampire: The Requiem. Der Ansatz, alle wichtigen Regeln des Systems in einem einzigen Buch zu kapseln, ist sicher eine Frohbotschaft für Crossover-Spieler, denn so hat man einerseits eine gemeinsame Basis mit konsistenten Regeln und andererseits erspart man es sich auch immer wieder (hoffentlich) dieselben Würfelregeln und Mechaniken in jedem anderen Regelwerk der neuen World of Darkness abzudrucken bzw. zu lesen, das Platz für (ebenso hoffentlich) Sinnvolleres schafft.
Natürlich bedeutet das aber auch, dass man für die oben genannten Subsysteme zwangsläufig auch immer dieses Buch zusätzlich benötigt. Die einzige Möglichkeit die World of Darkness mit nur einem Buch zu spielen wäre, indem man einfach nur einen Menschen spielt – allerdings haben wir die World of Darkness gerade deswegen liebgewonnen, weil wir auch einmal die andere Seite der Medaillie spielen dürfen.
Glücklicherweise kann ich auf vier Jahre Retroperspektive zurückblicken, und das bestärkt mich in meiner Meinung, dass dieser Ansatz ein guter ist. Die neuen Regeln haben sich meiner Ansicht nach als gut erwiesen; hier und da kann man noch mit ein paar Hausregeln tweaken, wenn man den Abstraktheitsgrad nicht willkommen heißt, aber soviel Bedarf bestünde eigentlich kaum.Den Artikel im Blog lesen