Winter

Freako

Der Kriegerpoet
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4. April 2004
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Es war an einem eiskalten Winterabend in der Stadt, als er sie traf. Er war gerade auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, ein wenig müde von einem anstrengenden Tag, doch in einer Art besonderen Stimmung, die er schon immer kannte und die eine Eigenart von ihm zu sein schien. Er war zufrieden mit allem, was in seinem Leben gerade stand und fiel, auch wenn er wusste, dass viele seiner Mitmenschen es besser hatten und aufregenderes erlebten.
Er sah aus den Fenstern der Straßenbahn hinaus in die nur von Laternen und Schaufenstern beleuchtete Dunkelheit, beobachtete die in dicke Daunenjacken und Wollschals gehüllten, vorbeihastenden Menschen und hing seinen Gedanken nach, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.
Schließlich näherte sich die Bahn der Haltestelle, an der er umsteigen musste, und er erhob sich, um an die Tür zu treten. Als sein Blick durch den von sterilen Neonröhren erhellten Innenraum schweifte bemerkte er eine alte Frau, die ihn ansah. Sie lächelte, wenn auch nur mit den Augen; sie genoss den seltenen Anblick eines jungen Mannes, der trotz der kalten Jahreszeit und ohne Alkoholeinfluss glücklich und guter Dinge zu sein schien. Vielleicht, dachte er, fühlte sie sich dadurch selbst wieder jung.
Die Straßenbahn hielt, und er stieg aus, hinaus in die Kälte. Der eisige Wind schlug ihm entgegen und gab ihm das Gefühl, ihm würde die Haut im Gesicht erfrieren. Er verzog das Gesicht, ballte die Hände zu Fäusten und presste sie fester in seine Jackentaschen hinein. Ein Blick auf die Uhr an der Haltestelle bescherte ihm eine unangenehme Erkenntnis... noch eine Viertelstunde würde er herumbringen müssen, bevor der Bus, der ihn nach Hause bringen würde, eintraf.
Doch bevor ihm die Gedanken an eine rote Nase und gefühllose oder schmerzende Ohren oder gar eine Erkältung die Stimmung verderben konnten, fiel sein Blick auf die Drehtür der Bank auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie bewegte sich monoton im gleichen Tempo, den ganzen Tag lang; nicht gerade der beste Job, dachte er, doch das Geräusch des Gebläses, das den Bereich der Tür mit angenehm warmer Luft versorgte, ließ ihn sich beinahe schon automatisch in Bewegung setzen und die Straße überqueren.

Als er eintrat und der warme Luftschwall ihn traf kam es ihm vor, als gäbe es kein schöneres Gefühl auf der Welt. Noch bevor er die Tür passiert hatte begann seine Haut im Gesicht und an den Fingern zu kribbeln, als sie wieder mit Blut versorgt wurde und sich aufwärmte. Einen Augenblick lang blieb er stehen, mit geschlossenen Augen, während von draußen die Geräusche der Straße gedämpft zu ihm durchdrangen. Als er sich schließlich umsah bemerkte er, dass er in der großen Halle mit den Geldautomaten und ähnlichen Apparaturen, die von ähnlichen Leuchtröhren beleuchtet wurde wie die Straßenbahn mit der er gekommen war, völlig allein war. Nun ja- wer ging um diese Tageszeit auch noch zur Bank.

Um sich die Zeit zu vertreiben schlenderte er ein wenig herum, zählte die Automaten, die funktionierten und die, die es nicht taten, verglich beide Zahlen miteinander und kam zu einem amüsanten Ergebnis. Er dachte ein wenig nach, zeichnete in Gedanken seine weiteren Pläne für diesen Abend vor- sie bestanden im wesentlichen darin die Reste aus seinem Kühlschrank zusammenzukratzen und sich eine warme Mahlzeit zuzubereiten sowie ein heißes Bad zu nehmen und dabei laut Musik zu hören- und schlenderte zwischen den Reihen der Automaten hin und her. Schließlich blickte er auf seine Armbanduhr und beschloss, dass es an der Zeit war zu gehen. Mit allen Sinnen versuchte er die Wärme noch so gut wie es ging zu genießen, als könne er sich auf diese Weise ein wenig davon mit auf den Weg durch die schneidende Kälte nehmen, während er sich bereits seelisch auf seinen Ausstieg vorbereitete.

Er trat in die Drehtür hinein, blickte nach draußen... und sah sie. Eine junge Frau, vielleicht in seinem Alter, deren ausgesprochen gute Figur sogar durch den dicken Mantel hindurch zu erahnen war. Ihre großen, grünen Augen sahen ihn mit jener Mischung aus Neugier und einem Lächeln unter der Wollmütze hindurch an, mit denen ihn die meisten Frauen bedachten, wenn sie ihn das erste Mal sahen, und sie sagten ihm zugleich, dass Ihr Gesicht bemerkenswert hübsch war, auch wenn es von der durch die Kälte leicht gerötete Nasenspitze abwärts von einem dicken Schal verborgen war.

Sie betrat das ihm genau gegenüberliegende Viertel der Drehtür, und ihre Augen versanken in den seinen, genauso wie er sich von ihr nicht lösen konnte. Ihre Beine bewegten sich langsam und im gleichen Tempo miteinander und mit der Tür. Endlos schien die kurze Zeit zu sein, die die Tür brauchte, um sich so weit zu drehen, bis sie beide sie verlassen konnten.

Doch sie taten es nicht.

Die Tür drehte sich weiter, und anstatt auf die Kälte der Straße hinauszutreten setzte er ohne sein Zutun und ohne es wirklich zu realisieren seine Runde fort, gefangen von ihren Augen, ihrer gesamten Erscheinung; er bemerkte die blonden Locken, die unter der Mütze nur so hervorquollen.
Und auch sie taxierte ihn weiter, verließ den Kreis nicht sondern setzte ihn fort; er glaubte, dass sie lächelte, auch wenn er ihren Mund immer noch nicht sehen konnte.

Die Tür drehte sich ein zweites Mal, und ihre Augen begannen am Körper des jeweils anderen auf und ab zu wandern. Er spürte, dass er ihr gefiel, so wie sie ihm, doch es schien etwas zwischen ihnen zu sein, das weit über körperliche Sympathie hinausging. Eine unsichtbare Spannung lag zwischen ihnen, durch das Glas hindurch deutlich zu spüren. Ihm wurde heiß, und er wusste, dass dies nicht von der warmen Luft aus dem monoton rauschenden Gebläse kam.

Die Tür drehte sich ein drittes Mal, und sie hob eine Hand, um ihren Schal zu lockern. Sie schob ihn sich unters Kinn, so dass er ihr ganzes Gesicht erkennen konnte; und noch bevor sich ihre sinnlichen Lippen zu einem fast kindlich- unschuldigen Lächeln teilten wusste er, dass er sie küssen musste. Ohne es zu merken erwiderte er ihr Lächeln.

Als sich die Tür ein viertes Mal drehte legte sie eine Hand an das Glas zwischen ihnen, und ihr Blick wurde auf einmal so eindringlich, dass er gar nicht anders konnte als das selbe zu tun. Das Glas beschlug bereits nach wenigen Augenblicken unter ihren Berührungen. In seinen Gedanken stellte er sich vor, wie es sich anfühlen mochte, ihre Haare, ihre Haut zu berühren... die Häärchen auf seinen Armen richteten sich auf, und ein angenehmer Schauer durchfuhr seinen ganzen Körper, als sie ihre Lippen leicht öffnete und ihre Hand ein wenig fester an die Scheibe presste.

Bei der fünften Drehung änderte sich etwas in ihrem Gang... sie schienen sich zu umkreisen wie zwei Raubtiere, die sich nicht aus den Augen ließen, sich musterten und jeden Augenblick bereit zum Sprung waren, doch lag keine Aggressivität in ihren Bewegungen... nur ein Verlangen, das mit jedem Augenblick größer wurde und sich bald Bahn brechen musste.

Nach der sechsten Drehung stieß sie sich schließlich leicht von der Scheibe ab und trat rückwärts aus der Drehtür hinaus, in die Eingangshalle der Bank hinein. Sein Herzschlag beschleunigte sich abrupt, und er bemerkte, wie sein Atem schneller ging. Nach einer weiteren halben Drehung der Tür trat auch er heraus und stand genau vor ihr. Sie sah zu ihm hinauf, die Lippen immer noch leicht geöffnet, die großen, unendlich tiefen grünen Augen auf ihn gerichtet; er konnte ihren Atem spüren und sah, wie sich ihr Brustkorb zitternd hob und senkte. Während er die Hände um ihre Taille und sie beinahe gleichzeitig die Arme um seinen Hals legte fragte er mit vor Aufregung leicht belegter Stimme, aber dennoch in seinem für ihn typischen, verschmitzten Tonfall:

„Du bist... auch nicht hier, um Geld abzuheben, oder?“

Sie schüttelte den Kopf, lächelte leicht, zog ihn zu sich heran und sie küssten sich lange, fordernd und leidenschaftlich, während draußen auf der Straße sein Bus nach Hause abfuhr.



Stunden später lag er angenehm erschöpft auf den Ellbogen aufgestützt neben ihr in seinem Bett und betrachtete im gedämpften Licht der Straßenlaternen, das durch die Vorhänge hindurch ins Zimmer fiel, die Flut aus blonden Locken, die sich über sein Kopfkissen ergoss und ihr friedlich schlummerndes Gesicht engelsgleich einrahmte. Er musste lächeln, als er die letzten Stunden in seinem Kopf noch einmal Revue passieren ließ und dabei ganz sachte mit dem Finger die Konturen ihres Körpers unter seiner Bettdecke nachzeichnete.

Er war zufrieden mit dem, was in seinem Leben stand und fiel, doch in dieser Nacht wusste er, dass keiner seiner Mitmenschen und vermutlich auch sonst niemand in dieser Nacht etwas auch nur annähernd so schönes und aufregendes erlebt hatte wie er.



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Copyright by Federico Meixner
 
Ist wirklich schön geworden, atmosphärisch sehr dicht.

Meine einzigen Kritikpunkte wären die fehlenden Dialoge, es müssten nur wenige sein, aber sehr gut gewählt und manchmal neigst du dazu dich in Details zu verlieren - aber weil das ganze eine Kurgeschichte und kein Romankapitel ist, darfst du dich auf all diese kleinen schönen Details viel mehr konzentrieren.

Gefällt:)) .
 
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