AW: Wie entwickeln sich eure Charaktere weiter?
Quantifiziert... d.h. alles hat einen Wert und man kann darauf würfeln?
Alles von BELANG hat einen Wert. HeroQuest ist ein HEROISCHES Fantasy-Rollenspiel, welches davon ausgeht, daß Kleinkram uninteressant ist. Daher wird man nicht würfeln, ob ein Held auf ein Scheunendach klettern kann, weil das etwas ist, was ein Held (in der Wahrnehmung seiner eigenen Kultur) einfach normalerweise können sollte.
Man wird hingegen die Eigenschaften beschreiben, die den Helden von den üblichen Vertretern seiner Kultur, seines Berufes, seiner Religion unterscheiden.
So haben alle Völker in der Region Dragonpass auf der Welt Glorantha aus der Historie dieser Region die Eigenschaft "Furcht vor Drachen 17". Wenn der Held nun besonders ängstlich wäre (unwahrscheinlich), oder aber in sich eine besondere Anziehung zu Drachen verspürt, so hätte er vielleicht nur "Furcht vor Drachen 9". Das ist eine Eigenschaft, die bemerkenswert ist, und die es ihm eher ermöglichen würde in Kontakt (ob kämpferisch oder diplomatisch ist da gleich) mit Drachen zu treten.
Ich möchte hier nicht das gesamte HQ-Konzept zur Charakterbeschreibung und Konfliktbewältigung schildern, doch sei soviel gesagt: Die Eigenschaften eines Charakters können direkt an einem Konflikt beteiligt sein, oder indirekt als Verstärkungen oder Hinderungen wirken.
Direkte Beteiligung ist meist sehr einfach zu erkennen: Romeo hat Loyalität zur Familie Montague 19, Haß auf die Familie Capulet 27, und Liebe zu Julia Capulet 45, sowie Fechten 17. Geht er in ein Duell gegen einen Vertreter aus der Familie Capulet, so nutzt er direkt sein Fechten 17. Gegen diese Gegner unterstützt ihn dabei aber seine Familienbande mit +2 und sein Haß auf die Capulets mit +3. Somit kämpft er gegen einen Capulet mit 22. Ist ihm aber klar, daß er gegen den liebsten Vetter seiner Angebeteten antritt, so wirkt sich in diesem Kampf die Liebe zu Julia als Hinderung mit -5 aus. Eventuell kommt es sogar im Vorfeld des Duells zu einem Konflikt der Loyalität zu seiner Familie gegen die Liebe zu Julia, dessen Ergebnis den anstehenden Fechtkampf beeinflussen wird.
Im Übrigen: sollte es z.B. zu einem Konflikt zwischen Loyalität zur Familie Montague 19 gegen Liebe zu Julia Capulet 45 gekommen sein, so kann ein Ergebnis des - wahrscheinlichen - Sieges der Liebe über die Loyalität sein, daß die Loyalität zu seiner Familie schweren, eventuell irreparabelen Schaden nimmt. Ist die Liebe viel stärker als die Familienloyalität, so sinkt die Loyalität zur Familie Montague auf 9 ab. Damit ist sie sogar unter der für einen Durchschnittsbürger veranschlagten Familienbeziehung von 17. Somit stellt sich Romeo gegen seine Familie und für die Liebe zu Julia.
Dieser Konflikt hat den Charakter Romeo in eine Bahn entwickelt, die ohne die Liebe zu Julia nie möglich gewesen wäre. Er hat sich - in meßbar starker Weise - entfremdet von seine Familie. In einem Fechtduell gegen die Capulets würde ihm seine Familienloyalität jetzt nur noch die halbe Verstärkung einbringen. Wäre sein innerer Konflikt sogar noch extremer ausgegangen, so hätte er die GESAMTE Eigenschaft Loyalität zur Familie Montague einbüßen können! Er hätte sich ganz von seiner Herkunft abgekehrt.
Konflikte auf solche Beziehungs- und andere "weiche" Charaktereigenschaften sind in HQ IMMER eine ernst Sache und können weit schlimmere und interessantere Schäden anrichten, als nur ein paar Wunden im Kampfgetümmel. Die Abkehr von seiner eigenen Familie, weil sie ihm - man sehe auf die deutlich höheren Werte für die Liebe zu Julia - eben weit weniger bedeutet, als seine Angebetete, ist ein Resultat, welches einem Todesfall in einem Kampf entspräche. Hier ist die Familienbeziehung für Romeo gestorben.
Beziehungen können auch wieder "geheilt" werden. Das ist im Spiel auch eine sehr interessante Sache. Einen "Heiler" für Beziehungen zu spielen, ist ein wirklich cooler Charakterzug. Das könnte ein Verwandter sein, der den Betroffenen, den "Verwundeten", aufgrund seiner eigenen Beziehungseigenschaft zum Betroffenen wieder in die Gemeinschaft zurückholen möchte. Oder ein externer Vermittler, der von der einen oder der anderen Seite beauftragt wurde.
Auf alle Fälle sind quantitative Charaktereigenschaften und deren klare Entwicklung aufgrund von Aktivitäten eines Charakters, die in Konflikte münden, deren Ergebnisse die Charaktereigenschaften ändern können, eine sehr schöne Sache im Spiel.
Und der vorhandene Crunch der Regeln um die Konflikte herum bedingt auch eine Charakterentwicklung, die sich der Spieler so vielleicht nicht vorgestellt hatte, die ihm aber durch entsprechend stark wirkende Ereignisse geradezu eingebrannt werden (Verlust an Quantität in bestimmten Eigenschaften).
Lässt sich das auch gut im Spiel umsetzen, bzw. wird diese "Steilvorlage" zum Charakter ausspielen auch von den Spielern genutzt?:devil2:
Und ob das genutzt wird. HQ ist ja ein Powergaming-Rollenspiel. Hier ist es GUT und GEWOLLT, daß sich ein Spieler Gedanken darüber macht, wie er mittels seiner vielfältigen Eigenschaften sich seine Verstärkungen, aber auch seine Hinderungen in den Konflikten zu nutze machen kann.
Also nicht: "Ich stell mich vor ihn hin und hau mal drauf.", sondern "Ich zeige diesem Wurm der Capulet unverhohlen meine Abscheu (Verachtung für die Capulets 19 => +2). Aufbrausend, wie ich bin, schleudere ich meinen Hut und Mantel in seine Richtung und gehe mit entschlossenen Schritten auf ihn zu (Aufbrausend 18 => +2). Ich zücke mein Rapier und blicke ihm böse in die Augen und sage 'Du bist ein Capulet. Diese Stadt ist zu klein für uns beide.' (Einschüchtern 21 => +2). Ich nehme meine liebste Fechtstellung ein und lasse sie ihn beobachten, auf daß er sieht, welch gute Schule ich im Fechten genossen habe (Posiert zu gerne beim Fechten 17 => -2, da dies ein Hindernis in diesem Konflikt ist; wäre das ein Versuch bei zuschauenden Damen Eindruck zu schinden, wäre das Posieren etwas Positives). - Unterm Strich kommen also durch die hier berücksichtigten Charaktereigenschaften +4 zur Anwendung, die auf die Haupteigenschaft für diesen Konflikt, das Fechtduell, angewandt werden.
Jeder HQ-Spieler lernt sehr schnell, was er alles, wie zur Verstärkung einsetzen kann.
Die Beschreibung (s.o.) wirkt dadurch weit weniger "aus dem Ärmel geschüttelt", als vielmehr durch klaren Crunch der Eigenschaften direkt bedingt. Das wirkt somit nicht aufgesetzt, sondern kommt als ganz natürlicher Bestandteil jedes Konfliktes zum Tragen.
Irgendwie beschreiben welche "weichen" Eigenschaften nun eine Rolle spielen, das kann man in fast jedem Rollenspiel. Nur hat es in Midgard oder D&D wenig Einfluß auf den eigenen Kampfausgang, ob man nun Loyal zu seiner Familie steht oder nicht. Die Abwicklung von Handlungen ist komplett separat zum Einbringen von charakterlichen Aspekten jenseits der Handlungskompetenzen.
Bei HQ nicht. Bei HQ ist alles von Bedeutung, bzw. es KANN alles von Bedeutung sein. Es kommt natürlich darauf an, ob und wie es eingesetzt wird. Daher Powergaming, um den optimalen Einsatz aller relevanter Eigenschaften für die direkte Optimierung des Nutzens im laufenden Konflikt zu erzielen. - Und was eingesetzt wird, das kann bei Konflikten auch Schaden nehmen! Das muß einem dabei als "Gegengewicht" auch immer bewußt sein.
So gibt es meiner Erfahrung nach kaum eine HQ-Spielrunde, in der man NICHT eine auch quantitativ festgehaltene Charakterentwicklung erleben wird. - Da aber auch immer "Rückstellkräfte" gegen jegliche Charakterentwicklung wirken, muß sich der Spieler bewußt entscheiden, welche dieser Änderungen er für seinen Charakter nun "zementieren" möchte, und welche nach einer Weile wieder ihren Ausgangswert annehmen sollen (bzw. bei neuen Eigenschaften auch wieder völlig verschwunden sind - eine Art "natürlicher Heilung" von Beziehungsänderungen z.B., wenn man seine neugewonnene Beziehung zu jemandem nicht pflegen mag, dann kühlt diese merklich ab, bis sie nicht mehr von Bedeutung ist).