AW: Problem von heutigen Rollenspielern
Im Ernst: Wer mit hochtrabender Theorie an Rollenspiele herangeht, hat m.E. eines nicht verstanden: Das sind SPIELE, Leute. Die soll man SPIELEN. Man soll SPASS dabei haben.
Diese "Theoriefeindlichkeitseinstellung" ist ausgesprochen kurzsichtig und engstirnig.
Ich bin u.a. auch Bogenschütze. Es gibt im Bogenschieß-Hobby jede Menge miteinander außerordentlich UNVERTRÄGLICHE Richtungen dieses Hobby zu betreiben, unterschiedliche Stile, unterschiedliche Materialien, unterschiedliche Reglements, usw. - Kommt das jemandem aus dem Rollenspiel-Hobby bekannt vor?
Bogenschießen PROFITIERT von theoretischen Kenntnissen der Praktizierenden über Materialien, Techniken, Reglements, Austragungsarten von Wettkämpfen, Atemtechniken, Trainingslehre, usw. - Und zwar profitieren davon auch schon die Breitensportler und nicht allein die Sportprofis.
Rollenspielen PROFITIERT von theoretischen Kenntnissen der Praktizierenden über Spielformen, Techniken, Regelsysteme, Anwendungsarten von Regeln, Gruppenbildungs- und Gruppenführungstechniken, Kommunikationslehre, usw. - Und zwar profitieren davon auch die "Normalspieler" und nicht allein die elitären, hochnäsigen Indie-Besserspieler.
Was fällt denn überhaupt alles unter diesen "hochtrabenden" Theoriebegriff?
Auch im Rollenspiel gibt es die Materialkunde. Das Wissen um die Gegenstände, mit denen man sich beschäftigt, die Hilfsmittel wie Würfel, Charakterbögen, Spielleiterschirme, Battlemaps, Stimmungsbeleuchtung, usw.
Beispiel: Ein Charakterbogen ist der Fingerabdruck eines Rollenspiels. Ist dieser übersichtlich und nach Benutzbarkeitskriterien erstellt worden, fällt es einem Spieler leichter für dieses Rollenspiel den Zugang zu finden. - Das Analysieren, was einen benutzbaren, lernfreundlichen, einstiegsförderlichen Charakterbogen ausmacht, ist bereits Theorie. Das hat nichts mit der Praxis, nichts mit dem konkreten Einsatz eines Charakterbogens in einer laufenden Runde zu tun, sondern da geht es darum, einfach bessere Materialien - bessere Spielmaterialien - erstellen zu lassen.
Ist das jetzt die "hochtrabende" Theorie?
Aber es IST eine NICHT-praktische Beschäftigung mit Rollenspiel-Themen. Also ist es NICHT-PRAXIS. - Wie würden denn die Theorie-Verteufler diese Art der Beschäftigung mit Rollenspiel-Themen abseits vom konkreten Abenteuer-Durchspielen nennen?
Wie sieht es aus mit Spielleiter-Tips (der eigentlichen Wurzel der Rollenspieltheoriebeschäftigung)?
Hier ist die Zielsetzung, dem Spielleiter Hilfestellungen zu geben, die ihm in der Praxis nutzen können. Das Erarbeiten der Hilfestellungen, das Analysieren der Probleme, das Erdenken von Lösungen, das Strukturieren der hier einflußnehmenden Faktoren, usw. - das ist doch NICHT-PRAXIS. Das ist doch Theorie!
Spielleitertips gibt es in Hülle und Fülle. Nicht erst seit den Internet-Zeiten, wo man damit zugemüllt wird, sondern schon in den uralten Kleinstauflagen der Fanzines und natürlich im Dragon und im White Dwarf.
Wie baue ich einen interessanten und spannenden Dungeon? - Wie gehe ich mit Problemspielern um? - Was mache ich, damit meine Spieler nicht ständig meine Plots zerschießen? - Wie erzeuge ich die passende Stimmung am Spielabend? - Warum klappt es mit demselben Spielleiter mit der einen Gruppe Spieler gut, und mit der anderen Gruppe Spieler gibt es stets Dauerdiskussionen und Zerwürfnisse? - ...
Alles Material aus dem Dragon.
Alles auch schon NICHT-PRAXIS, sondern Theorie.
Daß "Die Theorie" sich heutzutage mit solch einer schlechten allgemeinen Aufnahme herumschlagen muß, liegt an "Den Theoretikern" selbst. - Diese Personen haben einen Jargon geschaffen, der eben viel weiter weg vom Praxisbezug der Spielleitertips oder der Charakterbogen-Usability-Optimierer liegt.
Der Theorie-Jargon, ganz maßgeblich in der Forge geprägt, hat sich als eine für die Beherrscher des Jargons offensichtlich erfreuliche Separationslinie der Theoretiker-Elite von dem Pöbel der ungewaschenen Praktiker und der "Handwerker", die ihre profanen Spielleitertips noch mit der Hand schnitzen herausgebildet.
Da wurden Begriffe geprägt, die man außerhalb dieser Clique schlichtweg nicht oder - schlimmer noch - anders versteht. - Klar, das passiert bei sehr vielen Fachjargons. Doch hier MUSS man sich fragen, ob es tatsächlich das Ziel oder auch nur ein in Kauf zu nehmender Sachzwang gewesen sein kann, daß sich Rollenspieltheorie so weit vom Verständnis durch die Rollenspielpraktiker rein sprachlich und damit eben auch vom Verständnis und von der Akzeptanz her entfernt?
Im Bogenschießen gibt es jede Menge Einflüsse aktuellster Materialforschung. Neue Materialien, neue Erkenntnisse über die spezifischen Anforderungen an die Materialien beim Bogenschießen, neue Trainingsmethoden, usw. bringen - zumindest im Wettkampfsport - tatsächlich MESSBARE Fortschritte IN DER PRAXIS hervor. - Dabei verstehen die Praktiker durchaus IHREN Jargon, wissen um IHRE Materialien, usw.
Es ist im Bogenschießen jedoch NICHT so, daß dem Bogenschützen eine Materialforschungs-Doktorarbeit vorgelegt wird und er daraus selbst erkennen soll, wie er besser schießen kann!
Die Theorie hinter der Materialforschung, die Physik, die Chemie, die Biologie, wird dem Bogenschützen ohnehin nicht zugemutet - noch nicht einmal jeder Materialforscher muß in allen erdenklichen Bereichen der seiner Disziplin zugrunde liegenden Theorie wirklich Kenntnisse haben.
Warum also funktioniert im Bogenschieß-Hobby der TRANSFER von Praxis-Erfahrungen zur Theorie und zurück in die Praxis?
Warum funktioniert das im Rollenspiel nicht oder nur im Bereich der Exoten, der Forge-igen Rollenspiele, die eh kaum jemand kennt, und die aufgrund ihrer One-Trick-Pony-Eigenschaften eher wie Studienobjekte einzeln herausgearbeiteter Aspekte für Laborversuche als wie FERTIGE, BENUTZBARE "Voll-Rollenspiele" wirken?
Warum separiert sich die Rollenspiel-Theoretiker-Elite von den Normalspielern? Warum SCHÜREN sie geradezu die Ablehnung der "ungewaschenen Massen" an dumpf und unreflektiert vor sich hin spielenden Nichtsverstehern? - Warum lehnen sie trotz STÄNDIGER VERSUCHE sie zu mehr Dialog, mehr Austausch zu bewegen, den Kontakt, die Kommunikation mit den Normalspielern, den Breitensportlern ab?
Die Forge-igen Spiele spielen nur Leute in ihren virtuellen Labormänteln und freuen sich, weil sie verstehen, was für einzelne Parameter nun gerade zur Untersuchung bestimmten Rollenspielverhaltens festgehalten und was für andere variiert wurden. - Schön. - Nur leider ohne jede Wirkung, die das Hobby voranbringen kann. Denn das geht nur, wenn auch ein ECHTER ERKENNTNIS-TRANSFER stattfände in Richtung auf die Praktizierenden, und zwar Praktizierende OHNE den erklärten Willen sich zu Theoretikern "hochzujargonifizieren".
So DUMM und ENGSTIRNIG ich das grundsätzliche Ablehnen jeglicher theoretischer (= nicht spielpraktischer) Beschäftigung mit Rollenspiel-Themen finde, so VERSTÄNDLICH ist für mich - aufgrund inzwischen doch recht langanhaltender Enttäuschung über die "Großen Namen" gerade auch der deutschen Theoretiker-Clique - diese Ablehnungshaltung.
Wenn man stets von oben herab behandelt wird, wenn man stets als Nixblicker und unreflektierter Schmuddelrollenspieler dargestellt, wenn man mit Jargon-Kauderwelsch und Arroganz und Häme und Hohn und Verachtung behandelt wird, dann ist der Zorn, den man dabei empfindet ein GERECHTER!
Pauschalvorwürfe an die Adresse von Normalrollenspielern, daß sie eh nicht "diskursfähig" seien, ohne Vokabellektionen und die Anpassung an die Umgangsformen und den Umgangston der Eliten als Vorleistung erbracht zu haben, sind nur die stinkenden Spitzen dieser übelriechenden Eisberge an Selbstverliebtheit und Verachtung, die allein hierzulande von den "Theorie-Betreibenden" in Foren und auf ihren Blog-Inselchen "gekalbt" werden.
Ich kenne theoretisches Erschließen neuer Erkenntnisse aus anderen Hobbys als dem Rollenspiel-Hobby mit weit weniger Star-Allüren, weit weniger Elite-Arroganz, sondern mit mehr VERANTWORTUNGSGEFÜHL für den Erhalt und die Fortentwicklung des Hobbys und somit mit weit mehr Austausch mit der Praxis, mit der Basis, mit den Normalpraktizierenden umgesetzt. - Diese Art der Theoretiker fühlen sich geradezu VERPFLICHTET ihre Erkenntnisse in die BREITE zu bringen. Das funktioniert erstaunlich selbstinszenierungsarm (Ausnahmen will ich da garnicht verschweigen - die gibt es immer).
Was ich insbesondere für interessant an diesen Hobby-Theorie-Erkenntnis-Transfers finde, ist das Bewußtsein, daß man oft mit MODELLEN umgeht. Modelle sind NICHT DIE REALITÄT. - Das Haften an Modellen, die als erkannte WAHRHEITEN propagiert werden, ist m.E. eine der Todsünden der Rollenspiel-Theoretiker, die zurecht Zweifel aufkommen läßt, wie ernstzunehmend denn die Erkenntnisse auf Basis geradezu irrational beschützter MODELL-Gebilde sein können.
Mal ein Beispiel für den mangelnden Erkenntnistransfer: Auch dieses Jahr sind neue deutsche Rollenspiele fertig geworden - manche schon erschienen, manche gerade dieses Wochenende groß auf der Spiel vorgestellt, manche kommen noch.
Wie kann es sein, daß wir hierzulande eine Clique einander süffisant zuprostender Theoretiker haben, und es werden immer noch Rollenspiele im krudesten Faustkeilformat produziert. - Nicht-einmal-Heartbreaker sind hierzulande immer noch die Norm, was neue Rollenspiele anbetrifft. Man muß schon mit viel Geduld von einem Lichtblick zum nächsten ausharren - dazwischen Düsternis, Unverstand, Verstocktheit und - und das ist das Hauptproblem - UNKENNTNIS. - Trotz ausgesprochen flacher Teller, schaut kaum ein deutscher Rollenspielautor mal über seinen Tellerrand hinaus.
Im Bogenschießen werden auch heute noch, trotz verfügbarer leistungstarker moderner Materialien Bögen und Pfeile nach althergebrachten, aus Leistungsaspekten betrachtet suboptimalen, Methoden hergestellt. - Diese Bögen ohne moderne Werkstoffe, werden nicht etwa so gebaut, weil es KEINER WUSSTE, daß es moderne Werkstoffe mit besseren Eigenschaften gibt, sondern weil man sie als BEWUSSTE Entscheidung absichtsvoll nach altem, traditionellem Vorgehen gebaut hat. - Das ist deutlich anders als im Rollenspielhobby.
Beim Bogenschießen ist die theoretische Erkenntnis durchaus weit in der Normalbogenschützenschaft verbreitet. Somit können diese Bogenschützen bewußte, informierte Entscheidungen treffen, welche Art des Bogenschießens sie praktizieren wollen. Und für "old school"-Bogenschützen gibt es eben auch entsprechende Angebote, genauso wie für supermoderne High-Tech-Bogenschützen.
Beim Rollenspiel-Hobby ist hingegen die theoretische Erkenntnis kaum, sogar fast nirgendwohin vorgedrungen. Die beklagenswerten Neuentwicklungen hierzulande kommen daher nicht als bewußte Entwürfe nach altem Vorbild zustande, sondern weil die Entwickler es nicht besser wissen!
Gäbe es beim Rollenspielhobby einen ähnlichen Transfer theoretischer Erkenntnisse in die Praxis wie bei anderen Hobbys, dann hätte man hierzulande sicher eine blühende Rollenspiellandschaft.
Ich hielt diesen Thread anfangs für einen platten Troll-Provokationsversuch. Überflüssig und Scheiße.
Doch scheint es einfach mal wieder an der Zeit zu sein, den gerechten Zorn, den empfundenen Ärger loszuwerden. - Es ist einfach mal wieder genug Arroganz, Herablassung, Geringschätzung durch Vertreter der Theorie-Kaste quer durch Foren und von den einsamen Blog-Gletschern geflossen, daß sich bei manchen die verständliche Verärgerung auf diese Weise Luft machen muß.