Nach Hause [Graue Wirklichkeit 1]

Freako

Der Kriegerpoet
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4. April 2004
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Schweigend saß er auf dem unbequemen Plastiksitz des Zuges, die Füße auf die Lehne des Sitzes davor gelegt und mit verschränkten Armen. Sein Blick starrte durch die regennasse Fensterscheibe nach draußen, wo sich verschwommen das Dunkel der Nacht und die grellen Lichter der großen Stadt abwechselten. Diese spiegelten sich in seinen großen, grünen Augen, die sich fast nie schlossen. Doch er sah sie nicht; sein Blick ging nicht nur durch das Fenster und die schmalen Ströme von Regentropfen, die daran herabflossen, sondern auch durch die Schwärze und die Lichter hindurch und wanderte weiter, er wusste selbst nicht wohin.

Der Zug war alt und schmutzig, so wie alle Züge in dieser heruntergekommenen Stadt. In diesem Viertel, besser gesagt. Die Wände, Haltestangen und auch die Sitze waren mit den Filzstiftschmierereien der Jugendlichen so übermäßig bedeckt, dass ihre ursprüngliche Farbe nur zu oft kaum noch zu erkennen war.

Hätte der Junge sich umgesehen, so hätte er auch den einen oder anderen Schriftzug als seinen eigenen wiedererkannt. Es war nicht das erste Mal, dass er mit diesem Zug fuhr.

Doch es würde das letzte Mal sein.

So wenig wie er von seiner Außenwelt sah, hörte er auch. Die Musik, die aus seinen Kopfhörern drang, verdrängte jedes andere Geräusch; das Rattern des Zuges über die Schienen, das Quietschen der Wände und das Klappern der kaputten Türen, die sich zu einem Großteil nicht mehr von selbst öffneten.

Doch der Hiphop, der nicht nur aus seinen Kopfhörern kam, sondern auch in seinen Adern floss und sein gesamtes Leben bestimmte, verdrängte nicht seine düsteren Gedanken. Was hatte er nun noch? Nur noch seine Musik, ein heruntergekommenes Zuhause, das er schon lange nicht mehr gesehen hatte und dessen einzige Bewohnerin eben der Grund dafür war.

Er wandte nun doch für einen Augenblick den Blick vom Fenster ab und sah sich um. Er war alleine in dem Abteil, nur eine kleine alte Dame saß fast am anderen Ende und starrte ihn unentwegt an. Trotz der vielen Runzeln und Falten in ihrem Gesicht und dem glasigen Überzug ihrer Augen war zu erkennen dass sie missbilligte was sie sah: Einen Jungen, ungefähr achtzehn Jahre alt, nicht besonders groß, aber kräftig, mit übermäßig großen Hosen und einem fleckigen, ebenso großem Pulli, beides noch dazu nass vom Regen; die Kapuze über den Kopf gezogen, so dass seine Haare und Kopfhörer verdeckt waren. Und obwohl seine Kleidung ihm mindestens drei Nummern zu groß war, sahen sie trotzdem so aus, als wären sie für ihn gemacht. Wie oft hatte er schon die immer wiederkehrenden Sätze der älteren gehört, die sich über seine Kleidung ausließen. Was wussten sie schon, sollten sie sich erst einmal selber ansehen.

Als der Junge die alte Dame betrachtete fiel sein Blick in ihre Augen. Es lag ein leichter Schleier über ihnen; sie musste sehr alt sein. Doch ihre Augen waren grün... ein geheimnisvolles, leuchtendes Jadegrün. So wie sein eigenes. So wie das von...

Nein. Er wollte nicht daran denken. Mit einem Ruck wandte er seinen Kopf und starrte wieder aus dem Fenster. Sollte die alte Frau doch denken was sie wollte. Ihm war es gleich.

Er hob kurz seine Füße an, um anstatt den rechten den linken nach oben zu legen. Seine Schuhe hatten auch schon einmal bessere Tage gesehen. Irgendwann einmal waren sie weiß gewesen. Weiß wie sein Gewissen es einmal gewesen war, weiß und hell wie sein Gemüt, als es noch Dinge gab über die er sich hatte freuen können. Weiß wie das Haus, in dem sie...

Ein seufzen entfuhr seiner Brust. Es hatte keinen Zweck, zu versuchen nicht daran zu denken. Nicht jetzt. Wie hatte er sich nur einbilden können, dass es so leicht werden würde? Wie hatte er nur so dumm sein können daran zu glauben, dass es ewig so bleiben könnte? Sie kam aus guten Verhältnissen, er lebte im Ghetto und hatte nicht einmal dort eine feste Wohnung sondern blieb immer dort, wo es sich gerade ergab; sie hatte eine Familie, die sich liebevoll um sie kümmerte, während sein Vater schon seit zwei Jahren tot war, getötet von einem konkurrierenden Drogendealer, und seine Mutter sich so viel betrank dass er sich nicht erinnern konnte, wann er sie das letzte Mal nüchtern und bei Verstand gesehen hatte. Sie hatte ein schönes Leben, Geld und eine Zukunft vor sich; alles was er hatte, war die Musik; die verdammte und gesegnete Musik. Das Mädchen brauchte ihn nicht, doch er sie dafür umso mehr.

Nun war es vorbei.

Er hätte es kommen sehen müssen. Ihre Familie hatte nie einen Hehl daraus gemacht, wie wenig es ihnen gefiel, mit wem sich ihre schöne, kluge Tochter abgab. Er hatte im ernst gedacht, dass sie sich davon nicht beeinflussen lassen würde.

Sie waren so glücklich gewesen- sieben Monate, in denen kaum ein Tag verganen war, an dem sie sich nicht gesehen hatten, kaum ein Tag, an dem sie nicht Arm in Arm durch die Parks der Stadt geschlendert waren oder gedankenverloren den Sternenhimmel betrachtet hatten, völlig gleichgültig gegenüber dem Unterschied der Gesellschaften, aus denen sie kamen. Kein Tag, an dem er nicht an sie gedacht und sich gewünscht hatte, dass es ewig so bleiben würde.

Sein Glauben war unerschütterlich gewesen, der Glaube daran, dass sie beide zusammen stärker waren als die Dinge, die sich ihnen entgegenstellten. Doch er hätte es besser wissen müssen. Nach den harten Jahren im Ghetto war sie der erste Lichtblick in seinem Leben gewesen, und nun war sie fort, ließ ihn zurück in der grauen, kalten, nassen Wirklichkeit.

Er sah sie noch vor sich, in ihrem weißen Kleid, das er so sehr geliebt hatte, direkt vor ihm stehend, und doch so unglaublich weit weg, als sie mit Tränen in den Augen die Worte sprach, die seine Welt zerstörten.

Ihre Eltern. Eine Universität, weit weg von dieser Stadt; und ein Typ, der Sänger einer Band, eitel, arrogant und naiv, der sie eingelullt hatte und vermutlich liegen lassen würde, sobald er seinen Spaß gehabt hatte, wie andere eine Bierdose wegwerfen würden.

Doch er konnte nichts mehr daran ändern.

Der Zug raste weiterhin durch die Dunkelheit; der Zug, der ihn wieder dorthin zurückbringen würde, wo er sein gesamtes Leben verbracht hatte, und wo sein Leben vermutlich früher oder später auch enden würde. Es gab keine Zukunft für jemanden, der dort aufgewachsen war.

Eine Bewegung lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich: es war die alte Frau. Sie saß in einer sonderbar verkrampften Haltung auf ihrem Sitz und hatte die Hände gegen die Brust gepresst. Ihre schmalen, ausgedorrten Lippen formten lautlose Worte. Dann fuhr ein heftiges Zucken durch den ausgemergelten Körper und die Augen verdrehten sich nach oben; und schließlich sank sie mit einem leisen, fast erleichterten Seufzer nach vorne und rührte sich nicht mehr.

Na toll, dachte er.
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Feedback erwünscht! Meine erste nicht-fantasy Geschichte ^^
 
Re: Nach Hause

Liest sich gut, aber warum ist das seine letzte Fahrt mit dem Zug? Ich dachte da erst an Selbstmord...

Und die Alte, welchen Sinn hat sie, bzw was hast du dir bei ihr gedacht?
 
Re: Nach Hause

Hey, da versucht sich einer an düsterem Setting und Atmosphäre! :D

Im ernst; schön geschrieben. Allerdings bleiben dabei sehr viele Sachen ungeklärt, wie Skar schon sagte.

freundlichst,
Kelenas
 
Re: Nach Hause

seine letzte fahrt ist es, weil er die strecke net mehr fahren wird weil er ja nich mehr zu seiner ex freundin will. früher is er die fast jeden tag gefahren, um zu ihr zu kommen, aber nun is es nicht mehr möglich.

und die alte frau, die die selben augen hat wie sein mädchen und die stirbt soll noch ein bisschen die endgültigkeit der szene symbolisieren.

wenn euch der stil gefallen hat dann schreib ich vielleicht noch ein bisschen in die richtung :) ansonsten geh ich zurück zum fantasy stil. das ganze ist ein bisschen aus eigener sicht geschrieben, aber nich dass ihr denkt ich wohn im ghetto oder sowas gg
 
Re: Nach Hause

okay dann schreib ich wenn ich zeit hab nochmal sowas. frage: gibts ne möglichkeit den einzelnen storys die titel zu verändern damit man weiß wozu sie gehören? zB [Freako Lainvendil] (ich lass mir da aber was anderes einfallen) oder sowas.

hab ich dich übrigens auch schon per PN gefragt ;)
 
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