Das vielleicht faszinierendste Attribut der Mythologie bestand wohl darin, wie sehr sie sich kulturübergreifend ähnelte. Bestimmte Motive fanden sich zuweilen in europäischen Kulturen archaischer Zeiten als auch in amerikanischen Stammesglauben wieder. So war die Assoziation des Raben mit dem Totenreich, aber auch mit Weisheit und Scharfsinn nur eins von vielen Beispielen für das besagte Phänomen.
Nichts desto trotz blieb der Rabe stets der Welt des Fleischlichen näher verbunden als den jenseitigen Gefilden, deren Bote er war. Ähnlich wie Charon vermochte er es die Gefilde der Lethe zu kreuzen ohne von den Wassern gehalten zu werden. Tatsächlich wäre ein vollendetes Durchschreiten der trennenden Pforten seiner wahrhaftigen Bestimmung wohl auch mehr als abträglich gewesen.
Wie musste das Rühren eiskalter, fleischloser Hände das Rabenherz in Aufruhr versetzen! Eben noch wollte sie ihrem Blutsgeschwister etwas entgegnen, doch nun verschlug es ihr die Stimme.
Unzählige Male hatte sie die ihr Anvertrauten zu jener unsichtbaren Pforte geleitet, die hinter sich zu lassen ihr selbst nicht vergönnt sein dürfte. Doch nun stand sie hier, im Angesicht jener Feste, und die Erkenntnis, dass die Karten neu gemischt und verteilt werden würden traf sie gänzlich unvorbereitet.
Es war Wahnwitz!
An keinem anderen Ort sollte sie weniger sein als an eben diesem! Es war nicht richtig hier zu sein!
Hier, wo das Blut nicht das einzige Geleit sein würde. Der Klang der Stimmen, welche nicht wie all zu gewohnt aus ihrem Kopf an ihren Geist, sondern von außen an ihr Ohr heran drangen, wispernd, chaotisch, fremd versicherte unumstößlich, dass Eintritt in ihr Reich nichts weniger bedeuten würde als alle Regeln jener beider der Malkavianerin geläufigen Welten hinter sich zurück zu lassen.
Madelaine tat taumelnd einen Schritt zurück, halb aus Ehrfurcht, halb aus schierem Entsetzen. Groß waren ihre Augen. Wie Handteller weit aufgerissen blickten sie hinüber zu dem grotesk morbiden Anblick der Burg mit den toten, wie leere Augenhöhlen starrenden Fenstern, eingelassen in die kahlen Mauern.
Die Kehle schien sich ihr zu zuschnüren. Die Erinnerung an ein Leben, welches nicht das ihre und doch so gänzlich eigen war drang in ihr Bewusstsein und öffnete peinigender Gewissheit alle Tore.
Ein unerträglich trübes Gefühl hatte die Untote befallen, welches durch keine der poetischen und darum erleichternden Empfindungen, mit denen die Seele gewöhnlich selbst die finstersten Bilder des Trostlosen oder Schaurigen aufnimmt, gelindert wurde. Es war, als entzöge sich das was vor ihr lag all den Gesetzen der morbiden Ästhetik, wie sie für Madelaine und ihre jüngere Schwester längst essentieller Bestandteil ihrer Existenz, viel mehr ihrer Inkarnation geworden waren.
Es gab nur jenen einen, einzigen Ort welcher dergleichen Impressionen auszulösen im Stande sein dürfte.
"And at length found myself, as the shades of the evening drew on, within view of the melancholy House of Usher…"
Madelaines Stimme war ein Flüstern, schwer von tiefst empfundener Anspannung, gar leicht bebend. Sie drohte rücklings taumelnd zu stürzen, doch ehe es dazu kommen konnte ergriff Ithamar ihre Hand und zog die von Grauen Befallene dem Eingang entgegen. Noch ehe sie die Neigung ihres Körperschwerpunktes nach hinten zu Fall brachte, zwang der Zug in die entgegengesetzte Richtung die Malkavianerin zurück ins Gleichgewicht.
Unfähig ihren Blick von dem Gebäude abzuwenden und den Mund leicht geöffnet wie im schweigenden Ringen um Worte verharrte die Brünette an der Seite ihres Clansbruders. Als mit einem Male und völlig unerwartet etwas Warmes ihren Arm berührte und sich kriechend daran empor bewegte, zuckte die bleiche Vampirin zusammen.
Was…? Wie…? Konnte es möglich sein dass….? Natürlich! Conqueror Worm! Ja, ja, genau das musste es sein!
Blieb auch ein Beben in den strahlend grünen Augen zurück, so legte sich doch endlich ein zaghaftes Lächeln auf ihre Lippen. Es machte ihr Mut. Natürlich tat es das.
Eine Geste, die in ihrer Intention auch nicht gänzlich erschlossen doch eine Gewissheit wachrief. Sie war nicht allein, nicht im Geiste, nicht im Fleische und noch weniger dort wo sich beides vereinte. Sie waren stets mindestens zu zweit. Immer. Und nun gar mehr.
Eigentümlich jener Eindruck, als ob sie etwas für einen kurzen Moment umgab… was war es? War es überhaupt da gewesen, nicht bloß eine Täuschung? Oder...
Warum war sie hier? Warum sollte sie dort hinein?
Sie wusste es nicht, aber es musste rechtens sein. Doch um welchen Preis?
Man kannte sie doch, die Geschichten, jene Erzählung. Schon der Name allein offenbarte wie schrecklich unpassend dergleichen für sie sein musste. Und doch war sie nicht im Stande sich dem Eindruck, den das Zusammenspiel jener unbeschreiblichen Trübheit in Einklang mit Stimmen, Erscheinungen, Unstetigkeit hinterließ, zu entziehen.
Sie war hier, und das nicht grundlos.
Ganz allmählich schien Madelaine sich der Präsenz des Wesens an ihrem Arm gewahr zu werden, über die Schleier ihrer Welt hinaus als sich Worte den Weg in ihren Geist bahnten. Ein….ein Band, Verbundenheit.
Verlängerung seines Armes?
Und doch war sie nicht im Stande die Geste weiter zu hinterfragen, starrte weiter gen dessen, was mit seinen in die Finsternis empor ragenden Mauern doch einem Abgrund zu gleichen schien. Bloß sah sie nicht von oben in den Schlund hinab, sondern von seinem Grund hinauf…