L
Lyna Grimm
Guest
Tränen liefen dem Mädchen über das Gesicht, während ihre Hände weiche Erde auf den Katzenkadaver schaufelten. Dies war das 7. Mal diese Woche, dass sie Totengräberin spielen musste und es war gerade einmal Mittwoch.
Wie konnten Kinder nur so grausam sein?!
„Es war nur ein armes Kätzchen“, flüsterte sie und wischte sich über die Wangen, was schwarze Streifen zurück ließ. „Es hat doch niemandem etwas getan.“
Von Ferne hörte sie Schwester Marie rufen, man suchte nach ihr.
Nach einem letzten Blick auf das aus zwei Stöcken gebastelte Kreuz rannte sie in Richtung der Stadt, zu den Menschen die sie schimpften und schlugen, verachteten für ihre Naturbegeisterung.
***
„Lyna, was tust du da schon wieder?“
Herausfordernd sah die junge Frau die Schwester an, in ihrer Hand eine Schale Milch.
„Ich fand zwei Igel heute morgen, Schwester Marie“, antwortete sie und lächelte. „Ich will sie nicht verhungern lassen.“
Die Schwester seufzte bekümmert. „Oh, Lyna... warum musst du deine Intelligenz an solch niedere Kreaturen verschwenden? Kannst du dich nicht deinen Studien widmen?“
Lynas Gesicht wurde ernst. „Schwester, seit meinem 5. Lebensjahr lebe ich hier im Waisenhaus, hier wurde ich groß gezogen. Ich habe Englisch und Latein gelernt, weiß, wie ich Menschen richtig behandle, wenn ihre Seelen leiden und ich kann auch ihre Körper einigermaßen verarzten.
Natürlich verstehe ich, dass ihr nur das Beste für mich wollt, dass ich meine Fähigkeiten zum Nutzen aller einsetze. Aber ich werde niemals ein Tier leiden lassen, um einem Menschen zu helfen. Das kann ich einfach nicht.“
Nach dieser Rede verließ Lyna die sprachlose Schwester und das Waisenhaus in Richtung Waldrand.
Sie hatte die Wahrheit gesagt, sie WAR dankbar für die Möglichkeiten, die die Schwestern ihr geöffnet hatten, aber gleichzeitig machte sie sich nichts daraus.
Latein, wer sprach schon noch Latein? Und obwohl sie sich gut in Religion auskannte, glaubte sie nicht an Gott.
Es waren nur die Tiere, die für sie zählten, Menschen waren ihr egal.
Und nichts, NICHTS, hasste sie so sehr, wie Kinder!
Plötzlich blieb sie stehen.
Mit geweiteten Augen starrte sie auf den zerschmetterten Igelkörper zu ihren Füßen.
Die Schüssel fiel aus ihre Hand, als sie losrannte, Richtung Igelbau.
Sie waren zu fünft, zwei Mädchen und drei Jungen, alle etwa 12 Jahre alt.
Als Lyna ankam, ließ einer der Jungs gerade einen großen Stein auf das zweite der hilflosen Tiere fallen.
„NICHT!“, schrie Lyna, aber es war zu spät. Vor ihren Augen zuckte das Tier noch ein wenig, dann lag es still, zerschmettert unter dem Stein.
Betäubt starrte Lyna auf die Szenerie, dann wandte sie ihren Blick auf die Kinder, die bereits johlend die Flucht antraten.
Brennend heißer Zorn stieg in ihr auf, ließ sie würgen und auf die Knie sinken.
14 Jahre waren vergangen, seitdem sie das erste Mal einen Fuß in das Waisenhaus gesetzt hatte, und all die Jahre hatten sie Tiere getötet, nur aus Spaß und weil es sie freute, sie zu quälen.
Tränen flossen über ihr Gesicht, doch sie beherrschte sich.
„Diesmal kommen sie nicht davon“, murmelte Lyna und sah zum Himmel.
Die Sonne war bereits vor über einer Stunde untergegangen, der Mond war noch nicht voll, aber beinahe.
Ihre Tränen versiegten, aber ihr Hass blieb.
Er schärfte ihre Sinne, und daher entging ihr das Rascheln in den Büschen hinter ihr nicht.
Sie fuhr herum, bereit, aufzuspringen und zu flüchten.
Hinter ihr stand ein Wolf.
Unfähig, sich zu bewegen, starrte sie in die unheimlich glühenden Augen des Tieres.
Vor ihren Augen schien es zu wachsen, sich zu verändern...
Und schließlich stand ein Mann vor ihr, in Fetzen gekleidet, sein Haar schwarz wie das Fell des Wolfes, die Augen rot leuchtend.
„Du bist auserwählt“, knurrte er und stürzte sich auf sie.
***
Solche Schmerzen waren unvorstellbar.
Es schien Lyna, als würde sie all die Tode der Tiere, die sie nicht hatte verhindern können, nun am eigenen Leib erfahren; sie hörte ihre Schreie, spürte ihre Qualen.
Sie schrie.
Ihr Körper schien in Flammen zu stehen, es fühlte sich an, als würde sie von innen heraus zerrissen werden.
Vor ihrem inneren Auge erschien der Wolf, seine roten Augen brannten sich in ihre Seele und ETWAS nahm Besitz von ihr.
„Nun bist du eine von uns, Tochter...“
***
Als sie aufwachte, waren knapp zwei Stunden vergangen.
Jedenfalls vermutete sie das, nach einem Blick auf den Mond. Woher sie es wusste, war ihr ein Rätsel, aber sie WUSSTE es.
Als sie versuchte aufzustehen, fiel ihr als erstes auf, dass ihre Schmerzen verschwunden waren. Dann bemerkte sie die Veränderung.
Ihr Körper fühlte sich irgendwie leichter an als früher, beherrschbarer. Sie stand auf und es geschah anders als früher, eleganter.
Ihre Ohren empfingen Geräusche, die sie vorher nicht wahrgenommen hatte.
Fassungslos sah sie den Mann an, der in einiger Entfernung auf dem Boden hockte und sie betrachtete.
„Was ist passiert?“, krächzte sie und erschrak über die neue Rauheit in ihrer Stimme.
Er grinste, oder jedenfalls schien es so, Lyna verglich es mit einem Zähneblecken.
Wobei spitze und überlange Eckzähne sichtbar wurden.
„Mein Gott“, flüsterte sie und wich zurück. „Das ist unmöglich...“
Er grinste noch breiter. „Nein, ist es nicht.“
Plötzlich legten sich seine Hände von hinten auf ihre Schultern. „Und träumen tust du auch nicht.“
Lyna schrie auf, riss sich los und rannte davon, hinein in den Wald.
Sie kam nicht weit, denn nach nur wenigen Metern stand der Mann wieder vor ihr.
Erschrocken stolperte sie und landete auf dem Boden. Zu ihm hochstarrend fragte sie: „Was wollen Sie von mir?“
Er hockte sich vor sie. „Endlich eine gute Frage“, knurrte er und fasste in seinen Mantel.
Ein Beutel und ein Schriftstück landeten vor ihr. „Bewahre es gut auf, auch ein Kind der Tiere braucht Geld.“, meinte er. „Und du solltest darauf achten, dass deine Augen nicht glühen, wenn du unter Menschen bist. Sonst entgeht dir jede Beute.“
Er stand auf und wollte gehen.
Lyna sprang auf und hielt ihn fest, überrascht über ihre eigene Schnelligkeit.
Er drehte sich halb zu ihr um. „Was denn noch?“
Sie schluckte. „Was... was haben Sie aus mir gemacht?“
Er seufzte. „Und hier dachte ich, du wärst ein schlaues Kind... also gut.“ Er machte sich los und drehte sich ganz zu ihr um.
„Mein Name ist Alexander von Reißklaue. Ich bin – wie du sicher bereits erkannt hast – ein Vampir. Mein Clan ist der des Tieres, auch Gangrel genannt. Und du bist nun eine von uns.“
Sie zitterte. „Aber... warum ich?“
Leicht strich er ihr mit seiner blassen Hand über die Wange.
„Weil du Tiere mehr liebst, als Menschen. Weil du die Menschen hasst. Weil du Rache willst. Weil du fähig bist, zu überleben.“
Sie verlor sich in seinen Augen. „Was soll ich jetzt tun?“
Er ließ sie los. „Überleben.“
Und damit verschwand er.
***
Über eine Stunde saß Lyna auf einem Baumstumpf und betrachtete das Waisenhaus in der Ferne. Ihr Leben dort war vorbei, das war ihr klar.
Aber die Worte von Alexander hallten in ihr nach. Weil du Rache willst.
WOLLTE sie Rache?
All die Jahre der Demütigung, der Quälerei... ja, sie WOLLTE Rache.
Aber konnte sie ihren Wunsch auch ausführen?
Ihr Blick senkte sich auf ihre linke Hand.
Schon seit längerem spürte sie ein Kribbeln darin, eines, dass sie auch durch Kratzen nicht los wurde.
Als wollte etwas aus ihr HERAUS.
„Was hat er nur aus mir gemacht?“, flüsterte sie, als ihre Finger zu scharfen, glänzenden Krallen wurden. Das Kribbeln hörte sofort auf.
Noch einmal sah sie zum Waldrand, ihre Chancen abwägend.
Dann ging sie los, Richtung Waisenhaus, auf dem Weg, ihre Vergangenheit zu vernichten.
***
Keines der Kinder erhielt die Chance, zu schreien, bevor Lyna es tötete.
Zuerst starben die, die sie am Abend getroffen hatte.
Dann die Älteren.
Am Schluss die Jüngsten.
Je mehr Blut floss, je mehr sie trank, umso mehr wollte sie töten.
Am Ende lebten nur noch zwei Neuzugänge, beide erst wenige Tage alt.
Diese ließ sie leben und verschwand in ihr eigenes Zimmer, wo sie ein paar Dinge zusammen suchte, darunter zwei Ringe, die sie bereits bei ihrer Ankunft im Waisenhaus bei sich gehabt hatte, Erinnerungsstücke an ihre Familie.
Sie wechselte in die ihr am praktischsten erscheinende Kleidung und Stiefel.
Als letztes griff sie nach einem steinernen Rosenkranz, ließ ihn aber sofort wieder fallen.
Sie wusste nicht, ob es stimmte, dass Vampire keine Kruzifixe ertrugen, aber sie ging das Risiko lieber nicht ein.
Nach einem letzten Blick umher wandte sie sich Richtung Tür.
Und schrak zurück.
Im Türrahmen stand Schwester Marie und aus ihren Augen sprach so viel Kummer, dass es Lyna das Herz zu zerreißen schien.
„Armes Kind“, murmelte die Schwester. „Gott hat dich verlassen...“
Unfähig, irgendetwas zu sagen, fuhr Lyna herum, sprang aus dem Fenster und rannte davon.
Tränen aus Blut rannen über ihre Wangen und wollten nicht aufhören, auch nicht, als sie in ein leerstehendes Haus flüchtete und sich im dazugehörigen Keller vor der Sonne verbarg.
Irgendwann fielen ihr die Augen zu und sie erwachte erst wieder bei Sonnenuntergang.
***
Schlafen am Tage, Jagen in der Nacht, immer auf der Hut vor Menschen, die sie als das erkennen könnten, was sie war.
Die ersten paar Tage war ihr einziges Ziel, sich möglichst weit von ihrer Heimatstadt zu entfernen, um einer Entdeckung zu entgehen.
Ihre Opfer waren immer Kinder oder Jugendliche, nur sie schafften es, sowohl ihren Durst als auch ihren brennenden Hass zu befriedigen.
Es dauerte nicht lange, bis sie weitere Vorzüge ihres neuen „Lebens“ entdeckt hatte.
Wenn sie auf einer Lichtung stand und an ein bestimmtes Tier dachte, bestand die Chance, dass es zu ihr kam. Nur, wenn es in der Nähe war, aber möglich war es.
Auch „verstand“ sie die Tiere jetzt besser, nicht mit Worten, aber mit Gefühlen.
Nie fühlte sie sich wohler, als wenn sie irgendwo in einem Wald war, umgeben von Hasen, Rehen, Vögeln und anderen Waldtieren.
Etwa 20 Jahre lang wanderte sie durch Deutschland, den Krieg erlebte sie zum einen als Glücksfall, weil er ihr mehr Opfer bescherte, als sonst; zum zweiten als Problem, weil auch sie von Bomben und Feuerwaffen verletzt und getötet werden konnte.
Die letzten drei Kriegsjahre flüchtete sie nach Spanien, was zwar nicht einfach aber machbar war.
Anderen Vampiren ging sie aus dem Weg, sie war lieber allein mit sich und der Natur.
Irgendwann kehrte sie nach Deutschland zurück und stellte fest, dass es schwer wurde – selbst für sie – die Grenzen zu überqueren.
Also entschied sie sich, sich erst einmal auf einen kleinen Teil Deutschlands zu beschränken, nur dort zu jagen, wo sie den Soldaten nicht in die Arme lief, und auch ihren Durst nicht nur auf Kinder zu fixieren.
Ja, an und für sich verlief ihr „Leben“ einfach, und „Überleben“ war kein Problem.
***
Aufgeschreckt ließ Lyna ihre Beute – ein Mädchen von etwa fünf Jahren – fallen und fuhr herum. Sie hörte Schreie und viele Schritte, die in ihre Richtung kamen.
Schlimm genug, aber was sie wirklich beunruhigte war das Schnaufen, das den Schritten voranstürmte.
Vorsichtig schlich sie sich aus ihrer Gasse und sah um die Ecke.
Ein Wolf stürzte auf sie zu, zu groß, um ein normales Tier zu sein.
Etwas in Lyna schien panisch zurück zu schrecken vor diesem Etwas, aber ein anderer Teil wollte das tun, was sie immer tat: Einem Tier in Not helfen.
Also trat sie kurz entschlossen auf die Straße und sah dem „Wolf“ entgegen.
„Hier rein“, hisste sie und zeigte mit einer zitternden Hand auf die Gasse. Der Wolf zögerte und wurde langsamer... dann senkte er den Kopf und bog in die Dunkelheit zwischen den Häusern ein.
Keine Sekunde zu früh, denn schon stob ein regelrechter Mob um die Ecke, bewaffnet mit Fackeln, Gewehren und anderen Dingen.
Instinktiv wich Lyna an die Wand zurück und sank zitternd in die Knie.
Jetzt galt es „Mensch“ zu sein, denn fliehen konnte sie nun nicht mehr.
Einer der Männer, die den Mob anführten, kam auf sie zu, während die meisten anderen weiter rannten.
Wenigstens trägt er keine Fackel!, schoss es Lyna durch den Kopf, dann senkte sie den kopf. „Monster... ein Monster...“, stammelte sie und der Mann blieb alarmiert stehen.
„Wohin ist es gerannt, junge Frau?“, fragte er mit ungeduldiger Stimme.
Immer noch zitternd – und das nicht einmal gespielt – hob Lyna den Arm und zeigte in die Richtung, in die der Großteil des Mobs bereits gerannt war. „Dort entlang, Herr“, flüsterte sie und er fuhr sofort herum, um weiter zu stürmen.
Lyna wollte gerade aufatmen, als er sie noch einmal misstrauisch betrachtete. „Ich habe Sie noch nie gesehen, und es ist gefährlich für eine Frau allein... soll einer von uns Sie begleiten?“
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein, danke, Herr. Ich komme schon zurecht. Ihr werdet das Biest ja töten, nicht?“
Sein Gesicht wurde grimmig. Worauf Sie sich verlassen können, junge Frau.“
Und damit stürmte er davon, der Rest der Männer folgte ihm.
Sobald sie alle außer Sicht waren stand Lyna auf und betrat die Gasse.
Ihre Augen glühten rot auf, als sie ihre Anstrengungen, alles zu überblicken, erhöhte.
„Sie sind weg“, sagte sie so fest sie konnte. „Du kannst jetzt rauskommen.“
Erst rührte sich nichts, dann erhob sich hinter einem Müllhaufen eine Gestalt.
Der Mann war groß, sein Haar genauso braun wie es das Fell des Wolfes gewesen war, die Augen leuchteten gelb.
Für einen Moment sah Lyna wieder die Szene vor sich, als sie Alexander das erste Mal gesehen hatte... doch dies hier war kein Vampir.
Blut tropfte von einer hässlichen Wunde an der Seite des Fremden auf den Boden, und einige Sekunden lang starrten die beiden sich einfach nur an.
Am Ende senkte Lyna den Blick, denn sie hatte das dringende Gefühl, dass dieses Wesen stärker war als sie und sie wollte lieber kein Risiko eingehen.
„Ihr seid verletzt“, sagte sie schließlich und trat näher.
Er wich zurück. „Du bist ein Vampir“, grollte er mit tiefer Stimme.
Sie bleib stehen. „Und Ihr ein Werwolf“, gab sie patzig zurück. „Heißt das, ich darf Euch nicht verbinden?“
Er blinzelte. „Aber... Vampire hassen Werwesen.“
Könnte erklären, warum ich mich so komisch fühle. dachte Lyna sarkastisch.
„Davon weiß ich nichts“, behauptete sie und hob die Schultern. „Also, darf ich Euch nun helfen, oder wollt Ihr lieber verbluten?“
Er beobachtete sie noch einen Moment, dann nickte er und sie trat wieder näher.
Die Wunde war tief, aber anscheinend blutete sie nicht so heftig, wie Lyna gedacht hatte.
Kurzerhand riss sie zwei lange Streifen von ihrem verdreckten Rock.
„Tut mir leid, etwas Besseres habe ich im Moment nicht“, murmelte sie und verband die Wunde notdürftig.
„Na ja, nicht perfekt, aber es sollte erst einmal reichen“, meinte sie dann kritisch.
„Reichen?“, fragte ihr Patient perplex. „Bis wann?“
Irgendwie begann Lyna zu vermuten, dass der Werwolf vor ihr zwar stark aber nicht unbedingt der Hellste war.
„Bis zu mir natürlich“, gab sie zurück und machte sich vorsichtig auf den Weg aus der Gasse heraus. „Dort kann ich mich richtig um Eure Wunde kümmern.“
„Das kommt nicht in Frage“, protestierte der Werwolf heftig und sie fuhr wieder zu ihm herum.
„Muss ich Euch bewusstlos schlagen?“
Natürlich war das eine absolut unlogische Drohung, aber anscheinend beeindruckte sie den Fremden doch.
„Geh voran“, knurrte er und sie nickte. „Sicher doch...“
***
Immer darauf achtend, keinem Menschen über den Weg zu laufen, führte Lyna den Werwolf in ihr momentanes Versteck, eine Blockhütte im Wald vor der Stadt.
„Nicht gerade sicher“, meinte er, als sie die Tür öffnete. Sie funkelte ihn wütend an. „Nein, JETZT sicher nicht mehr!“
Wenigstens hatte er die Geistesgegenwart, schuldbewusst auszusehen.
Aus einer Kiste holte Lyna Verbandszeug und bedeutete ihm, sein blutgetränktes Hemd auszuziehen. Dann verband sie die Verletzung neu, diesmal ordentlich.
„Warum hast du so viele Verbände hier?“ Sie zuckte die Schultern. „Ich „finde“ öfter verletzte Tiere.“ Er nickte.
Dann sah er sie offen an. „Ich danke dir“, sagte er ernst. „ich hätte nicht gedacht, das ausgerechnet ein Wesen des Wyrm mir helfen würde.“
Lyna wandte den Blick ab. „Ich kenne diesen Begriff nicht“, antwortete sie. „Ich gebe zu, am liebsten würde ich meinem Instinkt folgen, und Euch entweder töten oder fliehen. Aber ich kann Euch nicht einfach verbluten lassen. Darum habe ich Euch geholfen.“
Er senkte leicht den Kopf. „Man merkt, dass du noch sehr jung bist. Und du scheinst auch nicht viel mit anderen deiner Art zu tun zu haben.“
Sie schüttelte den Kopf. „Der Mann, der mich zu dem machte, was ich bin, ließ mich allein zurück. Ich wusste nichts, ich folgte nur dem Wunsch, zu überleben.
Auch heute ist das kaum anders. Ich bin lieber allein als mit anderen meiner Art.“
Einen Moment fochten sie ein stummes Blickduell aus und diesmal senkte der Mann den Blick zuerst.
„Ich verstehe“, sagte er und stand auf. „Wie ist dein Name, Vampir?“
Sie erhob sich ebenfalls und lächelte leicht. „Lyna Grimm heiße ich.“
Er nahm ihre Hand und drückte sie leicht. „Mein Name ist Lobo. Solltest du je in den Elm kommen, Lyna Grimm, sei dir meines Schutzes versichert.“
Damit ließ er sie los und ging zur Tür.
„Leb wohl, Lyna“, sagte er und verließ die Hütte.
Zitternd sank Lyna in sich zusammen. „Gottverdammte Scheiße...“
Wie konnten Kinder nur so grausam sein?!
„Es war nur ein armes Kätzchen“, flüsterte sie und wischte sich über die Wangen, was schwarze Streifen zurück ließ. „Es hat doch niemandem etwas getan.“
Von Ferne hörte sie Schwester Marie rufen, man suchte nach ihr.
Nach einem letzten Blick auf das aus zwei Stöcken gebastelte Kreuz rannte sie in Richtung der Stadt, zu den Menschen die sie schimpften und schlugen, verachteten für ihre Naturbegeisterung.
***
„Lyna, was tust du da schon wieder?“
Herausfordernd sah die junge Frau die Schwester an, in ihrer Hand eine Schale Milch.
„Ich fand zwei Igel heute morgen, Schwester Marie“, antwortete sie und lächelte. „Ich will sie nicht verhungern lassen.“
Die Schwester seufzte bekümmert. „Oh, Lyna... warum musst du deine Intelligenz an solch niedere Kreaturen verschwenden? Kannst du dich nicht deinen Studien widmen?“
Lynas Gesicht wurde ernst. „Schwester, seit meinem 5. Lebensjahr lebe ich hier im Waisenhaus, hier wurde ich groß gezogen. Ich habe Englisch und Latein gelernt, weiß, wie ich Menschen richtig behandle, wenn ihre Seelen leiden und ich kann auch ihre Körper einigermaßen verarzten.
Natürlich verstehe ich, dass ihr nur das Beste für mich wollt, dass ich meine Fähigkeiten zum Nutzen aller einsetze. Aber ich werde niemals ein Tier leiden lassen, um einem Menschen zu helfen. Das kann ich einfach nicht.“
Nach dieser Rede verließ Lyna die sprachlose Schwester und das Waisenhaus in Richtung Waldrand.
Sie hatte die Wahrheit gesagt, sie WAR dankbar für die Möglichkeiten, die die Schwestern ihr geöffnet hatten, aber gleichzeitig machte sie sich nichts daraus.
Latein, wer sprach schon noch Latein? Und obwohl sie sich gut in Religion auskannte, glaubte sie nicht an Gott.
Es waren nur die Tiere, die für sie zählten, Menschen waren ihr egal.
Und nichts, NICHTS, hasste sie so sehr, wie Kinder!
Plötzlich blieb sie stehen.
Mit geweiteten Augen starrte sie auf den zerschmetterten Igelkörper zu ihren Füßen.
Die Schüssel fiel aus ihre Hand, als sie losrannte, Richtung Igelbau.
Sie waren zu fünft, zwei Mädchen und drei Jungen, alle etwa 12 Jahre alt.
Als Lyna ankam, ließ einer der Jungs gerade einen großen Stein auf das zweite der hilflosen Tiere fallen.
„NICHT!“, schrie Lyna, aber es war zu spät. Vor ihren Augen zuckte das Tier noch ein wenig, dann lag es still, zerschmettert unter dem Stein.
Betäubt starrte Lyna auf die Szenerie, dann wandte sie ihren Blick auf die Kinder, die bereits johlend die Flucht antraten.
Brennend heißer Zorn stieg in ihr auf, ließ sie würgen und auf die Knie sinken.
14 Jahre waren vergangen, seitdem sie das erste Mal einen Fuß in das Waisenhaus gesetzt hatte, und all die Jahre hatten sie Tiere getötet, nur aus Spaß und weil es sie freute, sie zu quälen.
Tränen flossen über ihr Gesicht, doch sie beherrschte sich.
„Diesmal kommen sie nicht davon“, murmelte Lyna und sah zum Himmel.
Die Sonne war bereits vor über einer Stunde untergegangen, der Mond war noch nicht voll, aber beinahe.
Ihre Tränen versiegten, aber ihr Hass blieb.
Er schärfte ihre Sinne, und daher entging ihr das Rascheln in den Büschen hinter ihr nicht.
Sie fuhr herum, bereit, aufzuspringen und zu flüchten.
Hinter ihr stand ein Wolf.
Unfähig, sich zu bewegen, starrte sie in die unheimlich glühenden Augen des Tieres.
Vor ihren Augen schien es zu wachsen, sich zu verändern...
Und schließlich stand ein Mann vor ihr, in Fetzen gekleidet, sein Haar schwarz wie das Fell des Wolfes, die Augen rot leuchtend.
„Du bist auserwählt“, knurrte er und stürzte sich auf sie.
***
Solche Schmerzen waren unvorstellbar.
Es schien Lyna, als würde sie all die Tode der Tiere, die sie nicht hatte verhindern können, nun am eigenen Leib erfahren; sie hörte ihre Schreie, spürte ihre Qualen.
Sie schrie.
Ihr Körper schien in Flammen zu stehen, es fühlte sich an, als würde sie von innen heraus zerrissen werden.
Vor ihrem inneren Auge erschien der Wolf, seine roten Augen brannten sich in ihre Seele und ETWAS nahm Besitz von ihr.
„Nun bist du eine von uns, Tochter...“
***
Als sie aufwachte, waren knapp zwei Stunden vergangen.
Jedenfalls vermutete sie das, nach einem Blick auf den Mond. Woher sie es wusste, war ihr ein Rätsel, aber sie WUSSTE es.
Als sie versuchte aufzustehen, fiel ihr als erstes auf, dass ihre Schmerzen verschwunden waren. Dann bemerkte sie die Veränderung.
Ihr Körper fühlte sich irgendwie leichter an als früher, beherrschbarer. Sie stand auf und es geschah anders als früher, eleganter.
Ihre Ohren empfingen Geräusche, die sie vorher nicht wahrgenommen hatte.
Fassungslos sah sie den Mann an, der in einiger Entfernung auf dem Boden hockte und sie betrachtete.
„Was ist passiert?“, krächzte sie und erschrak über die neue Rauheit in ihrer Stimme.
Er grinste, oder jedenfalls schien es so, Lyna verglich es mit einem Zähneblecken.
Wobei spitze und überlange Eckzähne sichtbar wurden.
„Mein Gott“, flüsterte sie und wich zurück. „Das ist unmöglich...“
Er grinste noch breiter. „Nein, ist es nicht.“
Plötzlich legten sich seine Hände von hinten auf ihre Schultern. „Und träumen tust du auch nicht.“
Lyna schrie auf, riss sich los und rannte davon, hinein in den Wald.
Sie kam nicht weit, denn nach nur wenigen Metern stand der Mann wieder vor ihr.
Erschrocken stolperte sie und landete auf dem Boden. Zu ihm hochstarrend fragte sie: „Was wollen Sie von mir?“
Er hockte sich vor sie. „Endlich eine gute Frage“, knurrte er und fasste in seinen Mantel.
Ein Beutel und ein Schriftstück landeten vor ihr. „Bewahre es gut auf, auch ein Kind der Tiere braucht Geld.“, meinte er. „Und du solltest darauf achten, dass deine Augen nicht glühen, wenn du unter Menschen bist. Sonst entgeht dir jede Beute.“
Er stand auf und wollte gehen.
Lyna sprang auf und hielt ihn fest, überrascht über ihre eigene Schnelligkeit.
Er drehte sich halb zu ihr um. „Was denn noch?“
Sie schluckte. „Was... was haben Sie aus mir gemacht?“
Er seufzte. „Und hier dachte ich, du wärst ein schlaues Kind... also gut.“ Er machte sich los und drehte sich ganz zu ihr um.
„Mein Name ist Alexander von Reißklaue. Ich bin – wie du sicher bereits erkannt hast – ein Vampir. Mein Clan ist der des Tieres, auch Gangrel genannt. Und du bist nun eine von uns.“
Sie zitterte. „Aber... warum ich?“
Leicht strich er ihr mit seiner blassen Hand über die Wange.
„Weil du Tiere mehr liebst, als Menschen. Weil du die Menschen hasst. Weil du Rache willst. Weil du fähig bist, zu überleben.“
Sie verlor sich in seinen Augen. „Was soll ich jetzt tun?“
Er ließ sie los. „Überleben.“
Und damit verschwand er.
***
Über eine Stunde saß Lyna auf einem Baumstumpf und betrachtete das Waisenhaus in der Ferne. Ihr Leben dort war vorbei, das war ihr klar.
Aber die Worte von Alexander hallten in ihr nach. Weil du Rache willst.
WOLLTE sie Rache?
All die Jahre der Demütigung, der Quälerei... ja, sie WOLLTE Rache.
Aber konnte sie ihren Wunsch auch ausführen?
Ihr Blick senkte sich auf ihre linke Hand.
Schon seit längerem spürte sie ein Kribbeln darin, eines, dass sie auch durch Kratzen nicht los wurde.
Als wollte etwas aus ihr HERAUS.
„Was hat er nur aus mir gemacht?“, flüsterte sie, als ihre Finger zu scharfen, glänzenden Krallen wurden. Das Kribbeln hörte sofort auf.
Noch einmal sah sie zum Waldrand, ihre Chancen abwägend.
Dann ging sie los, Richtung Waisenhaus, auf dem Weg, ihre Vergangenheit zu vernichten.
***
Keines der Kinder erhielt die Chance, zu schreien, bevor Lyna es tötete.
Zuerst starben die, die sie am Abend getroffen hatte.
Dann die Älteren.
Am Schluss die Jüngsten.
Je mehr Blut floss, je mehr sie trank, umso mehr wollte sie töten.
Am Ende lebten nur noch zwei Neuzugänge, beide erst wenige Tage alt.
Diese ließ sie leben und verschwand in ihr eigenes Zimmer, wo sie ein paar Dinge zusammen suchte, darunter zwei Ringe, die sie bereits bei ihrer Ankunft im Waisenhaus bei sich gehabt hatte, Erinnerungsstücke an ihre Familie.
Sie wechselte in die ihr am praktischsten erscheinende Kleidung und Stiefel.
Als letztes griff sie nach einem steinernen Rosenkranz, ließ ihn aber sofort wieder fallen.
Sie wusste nicht, ob es stimmte, dass Vampire keine Kruzifixe ertrugen, aber sie ging das Risiko lieber nicht ein.
Nach einem letzten Blick umher wandte sie sich Richtung Tür.
Und schrak zurück.
Im Türrahmen stand Schwester Marie und aus ihren Augen sprach so viel Kummer, dass es Lyna das Herz zu zerreißen schien.
„Armes Kind“, murmelte die Schwester. „Gott hat dich verlassen...“
Unfähig, irgendetwas zu sagen, fuhr Lyna herum, sprang aus dem Fenster und rannte davon.
Tränen aus Blut rannen über ihre Wangen und wollten nicht aufhören, auch nicht, als sie in ein leerstehendes Haus flüchtete und sich im dazugehörigen Keller vor der Sonne verbarg.
Irgendwann fielen ihr die Augen zu und sie erwachte erst wieder bei Sonnenuntergang.
***
Schlafen am Tage, Jagen in der Nacht, immer auf der Hut vor Menschen, die sie als das erkennen könnten, was sie war.
Die ersten paar Tage war ihr einziges Ziel, sich möglichst weit von ihrer Heimatstadt zu entfernen, um einer Entdeckung zu entgehen.
Ihre Opfer waren immer Kinder oder Jugendliche, nur sie schafften es, sowohl ihren Durst als auch ihren brennenden Hass zu befriedigen.
Es dauerte nicht lange, bis sie weitere Vorzüge ihres neuen „Lebens“ entdeckt hatte.
Wenn sie auf einer Lichtung stand und an ein bestimmtes Tier dachte, bestand die Chance, dass es zu ihr kam. Nur, wenn es in der Nähe war, aber möglich war es.
Auch „verstand“ sie die Tiere jetzt besser, nicht mit Worten, aber mit Gefühlen.
Nie fühlte sie sich wohler, als wenn sie irgendwo in einem Wald war, umgeben von Hasen, Rehen, Vögeln und anderen Waldtieren.
Etwa 20 Jahre lang wanderte sie durch Deutschland, den Krieg erlebte sie zum einen als Glücksfall, weil er ihr mehr Opfer bescherte, als sonst; zum zweiten als Problem, weil auch sie von Bomben und Feuerwaffen verletzt und getötet werden konnte.
Die letzten drei Kriegsjahre flüchtete sie nach Spanien, was zwar nicht einfach aber machbar war.
Anderen Vampiren ging sie aus dem Weg, sie war lieber allein mit sich und der Natur.
Irgendwann kehrte sie nach Deutschland zurück und stellte fest, dass es schwer wurde – selbst für sie – die Grenzen zu überqueren.
Also entschied sie sich, sich erst einmal auf einen kleinen Teil Deutschlands zu beschränken, nur dort zu jagen, wo sie den Soldaten nicht in die Arme lief, und auch ihren Durst nicht nur auf Kinder zu fixieren.
Ja, an und für sich verlief ihr „Leben“ einfach, und „Überleben“ war kein Problem.
***
Aufgeschreckt ließ Lyna ihre Beute – ein Mädchen von etwa fünf Jahren – fallen und fuhr herum. Sie hörte Schreie und viele Schritte, die in ihre Richtung kamen.
Schlimm genug, aber was sie wirklich beunruhigte war das Schnaufen, das den Schritten voranstürmte.
Vorsichtig schlich sie sich aus ihrer Gasse und sah um die Ecke.
Ein Wolf stürzte auf sie zu, zu groß, um ein normales Tier zu sein.
Etwas in Lyna schien panisch zurück zu schrecken vor diesem Etwas, aber ein anderer Teil wollte das tun, was sie immer tat: Einem Tier in Not helfen.
Also trat sie kurz entschlossen auf die Straße und sah dem „Wolf“ entgegen.
„Hier rein“, hisste sie und zeigte mit einer zitternden Hand auf die Gasse. Der Wolf zögerte und wurde langsamer... dann senkte er den Kopf und bog in die Dunkelheit zwischen den Häusern ein.
Keine Sekunde zu früh, denn schon stob ein regelrechter Mob um die Ecke, bewaffnet mit Fackeln, Gewehren und anderen Dingen.
Instinktiv wich Lyna an die Wand zurück und sank zitternd in die Knie.
Jetzt galt es „Mensch“ zu sein, denn fliehen konnte sie nun nicht mehr.
Einer der Männer, die den Mob anführten, kam auf sie zu, während die meisten anderen weiter rannten.
Wenigstens trägt er keine Fackel!, schoss es Lyna durch den Kopf, dann senkte sie den kopf. „Monster... ein Monster...“, stammelte sie und der Mann blieb alarmiert stehen.
„Wohin ist es gerannt, junge Frau?“, fragte er mit ungeduldiger Stimme.
Immer noch zitternd – und das nicht einmal gespielt – hob Lyna den Arm und zeigte in die Richtung, in die der Großteil des Mobs bereits gerannt war. „Dort entlang, Herr“, flüsterte sie und er fuhr sofort herum, um weiter zu stürmen.
Lyna wollte gerade aufatmen, als er sie noch einmal misstrauisch betrachtete. „Ich habe Sie noch nie gesehen, und es ist gefährlich für eine Frau allein... soll einer von uns Sie begleiten?“
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein, danke, Herr. Ich komme schon zurecht. Ihr werdet das Biest ja töten, nicht?“
Sein Gesicht wurde grimmig. Worauf Sie sich verlassen können, junge Frau.“
Und damit stürmte er davon, der Rest der Männer folgte ihm.
Sobald sie alle außer Sicht waren stand Lyna auf und betrat die Gasse.
Ihre Augen glühten rot auf, als sie ihre Anstrengungen, alles zu überblicken, erhöhte.
„Sie sind weg“, sagte sie so fest sie konnte. „Du kannst jetzt rauskommen.“
Erst rührte sich nichts, dann erhob sich hinter einem Müllhaufen eine Gestalt.
Der Mann war groß, sein Haar genauso braun wie es das Fell des Wolfes gewesen war, die Augen leuchteten gelb.
Für einen Moment sah Lyna wieder die Szene vor sich, als sie Alexander das erste Mal gesehen hatte... doch dies hier war kein Vampir.
Blut tropfte von einer hässlichen Wunde an der Seite des Fremden auf den Boden, und einige Sekunden lang starrten die beiden sich einfach nur an.
Am Ende senkte Lyna den Blick, denn sie hatte das dringende Gefühl, dass dieses Wesen stärker war als sie und sie wollte lieber kein Risiko eingehen.
„Ihr seid verletzt“, sagte sie schließlich und trat näher.
Er wich zurück. „Du bist ein Vampir“, grollte er mit tiefer Stimme.
Sie bleib stehen. „Und Ihr ein Werwolf“, gab sie patzig zurück. „Heißt das, ich darf Euch nicht verbinden?“
Er blinzelte. „Aber... Vampire hassen Werwesen.“
Könnte erklären, warum ich mich so komisch fühle. dachte Lyna sarkastisch.
„Davon weiß ich nichts“, behauptete sie und hob die Schultern. „Also, darf ich Euch nun helfen, oder wollt Ihr lieber verbluten?“
Er beobachtete sie noch einen Moment, dann nickte er und sie trat wieder näher.
Die Wunde war tief, aber anscheinend blutete sie nicht so heftig, wie Lyna gedacht hatte.
Kurzerhand riss sie zwei lange Streifen von ihrem verdreckten Rock.
„Tut mir leid, etwas Besseres habe ich im Moment nicht“, murmelte sie und verband die Wunde notdürftig.
„Na ja, nicht perfekt, aber es sollte erst einmal reichen“, meinte sie dann kritisch.
„Reichen?“, fragte ihr Patient perplex. „Bis wann?“
Irgendwie begann Lyna zu vermuten, dass der Werwolf vor ihr zwar stark aber nicht unbedingt der Hellste war.
„Bis zu mir natürlich“, gab sie zurück und machte sich vorsichtig auf den Weg aus der Gasse heraus. „Dort kann ich mich richtig um Eure Wunde kümmern.“
„Das kommt nicht in Frage“, protestierte der Werwolf heftig und sie fuhr wieder zu ihm herum.
„Muss ich Euch bewusstlos schlagen?“
Natürlich war das eine absolut unlogische Drohung, aber anscheinend beeindruckte sie den Fremden doch.
„Geh voran“, knurrte er und sie nickte. „Sicher doch...“
***
Immer darauf achtend, keinem Menschen über den Weg zu laufen, führte Lyna den Werwolf in ihr momentanes Versteck, eine Blockhütte im Wald vor der Stadt.
„Nicht gerade sicher“, meinte er, als sie die Tür öffnete. Sie funkelte ihn wütend an. „Nein, JETZT sicher nicht mehr!“
Wenigstens hatte er die Geistesgegenwart, schuldbewusst auszusehen.
Aus einer Kiste holte Lyna Verbandszeug und bedeutete ihm, sein blutgetränktes Hemd auszuziehen. Dann verband sie die Verletzung neu, diesmal ordentlich.
„Warum hast du so viele Verbände hier?“ Sie zuckte die Schultern. „Ich „finde“ öfter verletzte Tiere.“ Er nickte.
Dann sah er sie offen an. „Ich danke dir“, sagte er ernst. „ich hätte nicht gedacht, das ausgerechnet ein Wesen des Wyrm mir helfen würde.“
Lyna wandte den Blick ab. „Ich kenne diesen Begriff nicht“, antwortete sie. „Ich gebe zu, am liebsten würde ich meinem Instinkt folgen, und Euch entweder töten oder fliehen. Aber ich kann Euch nicht einfach verbluten lassen. Darum habe ich Euch geholfen.“
Er senkte leicht den Kopf. „Man merkt, dass du noch sehr jung bist. Und du scheinst auch nicht viel mit anderen deiner Art zu tun zu haben.“
Sie schüttelte den Kopf. „Der Mann, der mich zu dem machte, was ich bin, ließ mich allein zurück. Ich wusste nichts, ich folgte nur dem Wunsch, zu überleben.
Auch heute ist das kaum anders. Ich bin lieber allein als mit anderen meiner Art.“
Einen Moment fochten sie ein stummes Blickduell aus und diesmal senkte der Mann den Blick zuerst.
„Ich verstehe“, sagte er und stand auf. „Wie ist dein Name, Vampir?“
Sie erhob sich ebenfalls und lächelte leicht. „Lyna Grimm heiße ich.“
Er nahm ihre Hand und drückte sie leicht. „Mein Name ist Lobo. Solltest du je in den Elm kommen, Lyna Grimm, sei dir meines Schutzes versichert.“
Damit ließ er sie los und ging zur Tür.
„Leb wohl, Lyna“, sagte er und verließ die Hütte.
Zitternd sank Lyna in sich zusammen. „Gottverdammte Scheiße...“