Rezension Cthulhu Spieler-Handbuch, 2. Edition [B!-Rezi]

Toa

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Cthulhu Spielerhandbuch


2. Edition


Welchem deutschen Rollenspieler ist der Name Cthulhu nicht geläufig? Entsprechend schwierig gestaltet sich eine umfassende Rezension des erfolgreichen Spiels, das bereits eine weite Verbreitung erlangt hat. Lange Zeit hat mich der umfangreiche Mythos und das augenscheinlich "antiquierte" Regelsystem abgeschreckt, so daß ich - zumindest nach einer einmaligen Testrunde - von Cthulhu Abstand hielt. Dennoch habe ich nach all dieser Zeit Interesse bekommen Cthulhu doch noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen und zu sehen ob es nicht doch etwas für mich ist. Insofern richtet sich diese Rezension primär an Cthulhu-Einsteiger, so wie ich es einer bin. Am Ende findet sich für Kenner noch ein Überblick über die Änderungen zur vorherigen Edition, wie sie in der Einleitung des Buches beschrieben sind.

Das deutsche Cthulhu teilt sich (inzwischen) in zwei Grundregelwerke: das Spieler-Handbuch und das Spielleiter-Handbuch. Im vorliegenden Spieler-Handbuch werden die Spielregeln präsentiert sowie ein Einblick in die mundane Welt der 1920er gegeben. Würde man die Fertigkeit "Cthulhu-Mythos" außer Acht lassen hätte man allein mit diesem Buch für den Preis von 19,95€ ein funktionierendes Spielsystem für historische Abenteuer in den 20er-Jahren. Alle weiterführenden und schmutzigen Details zum Cthulhu-Mythos finden sich im Spielleiter-Handbuch, so daß Spieler unbesorgt in diesem Buch lesen können ohne sich eventuelle "Überraschungen" zu verderben.
Die Regeln im Spieler-Handbuch decken zudem auch Fertigkeiten und Ausrüstung der Gegenwart ab, so daß es auch als Grundregelwerk für Cthulhu Now dient.

Hintergrund
Wohl nur für die ganz blutigen Anfänger: worum handelt es sich bei dem sogenannten "Cthulhu-Mythos"? Es handelt sich um eine fiktive Kosmologie, die auf den Werken des Schriftstellers H.P. Lovecraft aufbaut und die sich um höhere Wesen dreht, die jenseits des Verständnisses eines menschlichen Verstands liegen. Daher ist die Folge einer Begegnung mit solchen Wesen meist der Wahnsinn. Andererseits werden sie aufgrund ihrer Macht auch als Götter verehrt, was meist düstere Rituale nach sich zieht. Die Spielercharaktere stoßen meist zufällig auf diese Geschehnisse und müssen Nachforschungen anstellen um herauszufinden wie sie das Schlimmste verhindern können.

Charaktererschaffung
Cthulhu ist ein Rollenspiel, das sich in seiner langen Geschichte nur wenig verändert hat. Insofern hat auch die zufallsbasierte Charaktererschaffung weiterhin Bestand. Die grundlegenden Attribute werden ausgewürfelt und daraus sekundäre Charakteristiken abgeleitet. Irritierend ist hierbei, daß - im Gegensatz z.B. zu D&D - für unterschiedliche Attribute unterschiedliche Würfe erforderlich sind. Der Großteil wird mit 3W6 ausgewürfelt, einige aber mit 2W6+6 oder 3W6+3. Ein einheitliches Attributsspektrum ist also nicht vorhanden. Ein Seitenkasten liefert zwar Spielern, die mit der gegebenen zufallsbasierten Charaktererschaffung nicht zurecht kommen, Alternativen, jedoch sind diese allesamt nur geringe Modifikationen und allesamt weiter zufallsbasiert. Ein Punktesystem zur Charaktererschaffung sucht man also weiterhin vergebens, wo selbst D&D schon seit Jahren Alternativen bietet.
Ein klarer Vorteil ist dennoch, daß durch die recht strikt würfelbasierte Charaktererschaffung das ganze recht schnell abläuft. Nachdem man seine Attribute bestimmt hat kann man sich aus einer langen, langen Liste von Berufen (135 an der Zahl) einen aussuchen, dessen Anforderungen man erfüllt, und erhält dadurch eventuell noch einige Boni. Das Verteilen der Fertigkeitspunkte nimmt wohl am meisten Zeit in Anspruch, was auch mit der großen Anzahl an vorhandenen Fertigkeiten zusammenhängen mag. Wer seinem Charakter mehr Individualität verleihen will kann die ebenfalls zufallsbasierten Charaktereigenschafts-Tabellen nutzen, oder sich zumindest von ihnen inspirieren lassen. Für betagte Rollenspieler vielleicht befremdlich, aber für Rollenspieleinsteiger sicherlich hilfreich.

Regelsystem
Das Regelsystem von Cthulhu, im englischen Raum als Basic Roleplaying (BRP) bekannt, ist - wie der Name schon andeutet - in den Grundprinzipien recht einfach gehalten. Die meisten Proben laufen mit einem W100 ab, mit dem es den eigenen Fertigkeitswert zu unterwürfeln gilt. Andere Würfel kommen nur bei Schadenswürfen und der Charaktererschaffung zum Einsatz.
Erstaunlich ist für diesen "leichten" Ansatz die Verschachtelung des Systems: es existiert eine Vielzahl an Fertigkeiten, die einen sehr engen Fokus haben (z.B. Überreden vs. Überzeugen) oder nur für bestimmte Berufe relevant sind (akademische Fachbereiche). Waffen haben meist ihre jeweils eigene Fertigkeit, so gilt z.B. Knüppel (Stuhlbein) als eigenständige Fertigkeit, und für unbewaffneten Kampf existieren sogar fünf separate Fertigkeiten. Glücklicherweise muß man keine Erfahrungspunkte auf all diese Fertigkeiten verteilen, da die diese einfach durch Einsatz gesteigert werden: für außergewöhnliche Situationen erhält man in der Fertigkeit einen "Haken", für den dann später ausgewürfelt wird ob sich die Fertigkeit verbessert.
Erstaunlich komplex ist auch das Kampfsystem in den Details: es gibt ausführliche Parade-Regeln, die allein über eine halbe Seite einnehmen. Dafür, daß es in Cthulhu eigentlich selten zu Kämpfen kommt recht ausführlich - dabei handelt es sich wohl um ein Relikt der Fantasy-Wurzeln von BRP, das erstmals in RuneQuest zum Einsatz kam. Im Gegensatz dazu sind im Kampf Schußwaffen - wie es sich für die Epoche und das Genre auch gehört - deutlich im Vorteil, da man mit ihnen ohne weiteres bis zu drei Mal angreifen kann, während Nahkämpfer nur zu einem Schlag pro Runde ausholen können.
Eine obligatorische Besonderheit von Cthulhu sind die ausführlichen Regeln zur geistigen Stabilität und Wahnsinn, welchen ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Wann tritt er ein, wie wirkt er sich aus und wie wird man ihn wieder los? Sehr schön sind hier die ausführlichen Informationen über Geisteskrankheiten sowie die Behandlungsmethoden im Laufe der Zeit, die eine authentische Darstellung vereinfachen.
Außerdem findet sich ein Abschnitt mit optionalen Regeln, die es erlauben das System dem eigenen Geschmack anzupassen. Inwiefern sich jedoch die Verfolgungsregeln, die quasi den Einsatz eines Spielplans erfordern, in das eher simple Regelsystem einfügen sollen ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel. Naja, jeder nach seiner Façon...

Material
Hier hat das Spieler-Handbuch trotz seines - zumindest im Vergleich zum Spielleiter-Handbuch - schmalen Umfangs viel zu bieten.
Am Anfang steht die übliche Einführung ins Rollenspiel, die hier etwas ausführlicher aber dennoch (oder vielleicht auch gerade deswegen) meiner Meinung nach gut gelungen ist.
Mit am wertvollsten für neue Spieler dürfte der sehr gelungene "Überblick über die Zeit des Jazz" sein, in dem auf elf Seiten das Amerika und Deutschland der 20er Jahre vorgestellt wird. Dies vereinfacht die Charakterkonzept-Findung sowie -Darstellung enorm, da hier doch meist eine enorme Bildungslücke klafft.
Interessant für Rollenspiel-Einsteiger ist sicherlich auch das umfangreiche (24 Seiten) Soloabenteuer, das als Anwendungsbeispiel für das Regelsystem dient, sowie die Vorstellung der deutschen Cthulhu-Szene, die Anlaufstellen und Materialquellen auflistet.
Im Anhang finden sich Ausrüstung und Waffenliste, sowie - sehr nützlich - eine kurze Abhandlung über Reisedistanzen und -geschwindigkeiten für die relevanten Epochen.

Aufmachung
Wenn die deutsche Übersetzung in einem Bereich zu punkten weiß, dann ist es die Aufmachung, um die wir sogar von amerikanischen Spielern beneidet werden. Das Buch ist durchgehend gut gelayoutet und größtenteils mit authentischen Photographien und Postkartenmotiven, sowie gelegentlich mit skurillen Skizzen von Mythos-Kreaturen illustriert. Dies gibt die angestrebte Atmosphäre perfekt wider und erleichtert den Einstieg ins historische Spiel. Positiv hervorheben möchte ich auch das Vorhandensein eines Lesebändchens, das im Gegensatz zum massiven Spielleiter-Handbuch zwar nicht zwingend erforderlich, dem Erscheinungsbild und Lesekomfort aber dennoch zuträglich ist.

Vergleich zu früheren Editionen
Die Aufteilung in Spieler- und Spielleiter-Handbuch ist bereits aus der vorherigen Edition bekannt. Dementsprechend gering fallen die Unterschiede der zweiten Edition aus, die hier nur eine geringe Überarbeitung darstellt: es wurden sämtliche bekannten Errata berücksichtigt, das Solo-Abenteuer durch ein neues ersetzt, sowie die Vorstellung der deutschen Cthulhu-Szene hinzugefügt. Für Besitzer der ersten Edition lohnt sich der Umstieg also kaum, für Einsteiger bietet diese Ausgabe jedoch mit dem Artikel über die Cthulhu-Szene einen besseren Einstieg.

Fazit
Nach der neuerlichen Auseinandersetzung mit Cthulhu ziehe ich doch ein positiveres Resumee als nach meiner ursprünglichen Testrunde. Das System bietet einige schöne Punkte (gelungener Steigerungsmechanismus, schnelle Charaktererschaffung), ist aber an anderen Stellen tatsächlich recht anachronistisch (Charaktererschaffung zufallsbasiert, Kampfsystem mit zahlreichen Sonderfällen und der Eleganz einer Katze in Gipsbeinen). Hier hätte man im Laufe der Zeit mal ordentlich schleifen und ausmisten können, damit Cthulhu das einheitlich schlanke Regelsystem bekommt, das der Basismechanismus auch suggeriert.
Davon abgesehen ist das Spieler-Handbuch mehr als gelungen und aufgrund seiner Materialfülle sowohl für Einsteiger als auch erfahrenere Spieler interessant. Die Aufteilung gegenüber dem Spielleiter-Handbuch wurde gekonnt umgesetzt, so daß alles zum Spiel erforderliche tatsächlich im Spieler-Handbuch enthalten ist, während sich das Spielleiter-Handbuch dann auf den Hintergrund des Cthulhu-Mythos konzentriert.
Die hervorragende Aufmachung rundet das Gesamtbild ab, so daß ich einzig für das angestaubte Regelsystem einen Punkt abziehen kann - vier von fünf Sternen.Den Artikel im Blog lesen
 
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