[17.05.2008] Endstation Sehnsucht

MarieClaire

Halbgott
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Endlich war Marie Claire Majeux angekommen. Am finsterburger Hauptbahnhof herrschte zu später Stunde nur noch wenig Treiben. Ob das an dem Unfall im Tunnel lag? Unfall (?), die gebürtige Schweizerin ließ das Wort durch den Geist spuken. Mache Medien sprachen auch von einem Anschlag (!). Große Letter auf Seite Eins, gleich neben verschwommenen Bildern von hilflosen Rettungskräften. Wieviel Tote waren es noch gleich gewesen?
Es war ein seltsames Gefühl jetzt hier zu sein. Der Tragödie zum Greifen nah. Und da lag auch diese Stimmung in der Luft, so eine Art emotionales Nachbeben… „schwer zu beschreiben“, dachte Marie Claire.

„Bitte lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt,…“ keifte es durch den Lautsprecher. Marie Claire stellt ihren MP3-Player lauter und drehte so, mit der Hilfe Schuberts, der pingeligen Frauenstimme den Hahn ab. Langsam trottete sie der kleinen Menschenmenge hinterher, die gerade mit ihr gemeinsam aus Berlin angekommen war. Den Trolli in der einen Hand, den MP3Player in der anderen.

Lefaibre hatte sein Wunderkind angekündigt. Angekündigt, wie er das auch schon die vielen Male zuvor für sein Mündel gemacht hatte. In ihren letzten Nächten in Lodz, waren der Toreador ein Brief mit mannigfaltigen Informationen überantwortet worden; was sie alles mitzubringen hatte, wo und wann sie sich vorzustellen hatte und so war sie gut vorbereitet, auf ein Treffen mit der hiesigen Autorität.

Ob man ein Empfangskomitee geschickt hätte? Sheriff und Geißel und Schlagstock zwischen die Beine oder Harpyie, Primogens Mündel und Hüterin… Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Sich lieber auf nichts verlassen und sich selbst darum kümmern, hatte ihr schon der Klavierlehrer beigebracht, als sie noch in die dritten Klasse ging. Und so strebte sie unaufhaltsam dem Haupteingang entgegen… und mit jedem Schritt stieg das Lampenfieber… sie liebte dieses Gefühl… und lächelte gedankenverloren, während sie den Blick schweifen ließ.

[OT: hab mich im Monat vertan -.-' und kanns nicht mehr ändern. Mea Culpa!]
 
Es war ein schmuddeliger Bahnhof spät am Abend. Die Menschenmassen waren mit dem Berufsverkehr abgeflaut, jetzt waren nur noch wenige Menschen am Bahnhof unterwegs und kaum einer schien sich für den neuankömmling zu interessieren auch wenn ein paar jugendliche Streuner einige Anzüglichkeiten riefen als Marie-Claire vorbeiging, was diese aber durch Schuberts Gnade nicht mitbekam. Aber irgendwie schien es so als hätte Finstertal nicht gerade auf eine hochbegabte Pianistin gewartet, keine Empfangskommitee, keine Palmwedel und Hosianna - Rufe...ob ihr das auch die Kreuzigung ersparte blieb abzuwarten.
 
Pas de problème.
Hin zu den Taxis. Direkt vor dem Bahnhofsgelände sollten sie stehen und sich leicht finden lassen. Und denn geht man an ihnen entlang. Ein bisschen, als würde man Strichmädchen begutachten, entscheidet man sich für das Modell, das einen am wenigsten anekelt.
 
Nun in dem Fall stellte Marie Claire schnell fest das es bei Taxifahrern nicht üblich war Fahrgäste aufzunehmen wenn sie in der Schlange vor dem Eingang nicht an erster Stelle standen. Ein Fahrer schickte sie umgehend an die Spitze der Schlange weil er keinen Krach mit den Kollegen wollte. Der Vorteil war das bis die Toreador an dieser Spitze der Reihe ankam dort ein niegelnagelneuer Wagen stand der sogar noch nach Neuwagen roch. Auch der Fahrer machte einen guten Eindruck, nur der Fleck vom gerade zum Abendessen verzehrten Döner auf dem Hemd störte den positiven Eindruck ein wenig.
Der Fahrer nahm Marie Claire das Gepäck ab und verstaute es im Kofferraum bevor er wieder einstieg unxd sich zu seinem Fahrgast umwandte.
"Guten Abend junge Frau! Wohin darf ich Sie bringen?"
 
„Guten Abend,“
sagte sie mit einem französischen Akzent. Die junge Frau fixierte die alten Augen des Fahrers im Rückspiegel. Es waren schöne Augen, müde vom Reisen. Und es war ein schöner Akzent…
„Zur Kunstakademie, bitte…“
Marie Claire lehnte sich zurück und ließ Blick über das trostlose Gebäude schweifen. Der Geruch vom Knoblauch mischte sich mit dem vom Neuwagen-Geruch. Es musste jetzt mittlerweile mehrere Stunden her gewesen sein, dass er diesen Döner gegessen hatte.
„Nein! Nein… warten sie. Können wir durch die Stadt fahren? Können Sie mir die Stadt zeigen, bevor Sie mich zur Akademie bringen?“
 
Der Mann hatte einen osteuropäischen Akzent mit dem er sprach. "Wenn Sie wünschen gerne. Allerdings ist die Stadt dieser Nächte nicht mehr das was sie vor der Vergiftung der Trinkwasserversorgung war. Schlimme Sache das, hat viele gute Menschen das Leben gekostet." Er bekreuzigte sich.
"Aber das Leben geht weiter. Auf den Festwiesen spielen heute einige Bands, man scheint die Menschen win wenig von ihrem Kummer ablenken zu wollen. Soll ich dorthin fahren oder Sie einfach durch die nächtliche Stadt fahren? Der Tunnel nach Burgh ist leider wegen eines schweren Verkehrsunfalls von gestern Nacht gesperrt. Wenn Sie dorthin wollen müsste ich einen längeren Umweg über die Autobahn nehmen."
 
„Nein, wir müssen nicht nach Burgh.“ sagte sie und schüttelte den Kopf. Sie sprach langsam, so als müsse sie gegen einen Widerstand ankämpfen. „Ich werde nur kurz in der Stadt bleiben… und möchte gerne einen ersten Überblick bekommen. Bitte, seien Sie heute Nacht mein Fremdenführer und zeigen Sie mir die Highlights, ehe Sie mich zur Akademie bringen… Ja!?“ sie steckte den MP3 Player in die große schwarze Ledertasche, die jetzt neben ihr auf dem Rücksitz lag. „…und… erzählen Sie mir von der Vergiftung der Trinkwasserversorgung… ist mit dem Wasser jetzt wieder alles in Ordnung?“
 
"Laut der Verlautbarungen der Stadtverwaltung in den zeitungen und im Radio ja, aber irgendwie haben wir jetzt innerhalb kurzer Zeit eine zweite schwere Epedemie gehabt...irgendwas stimmt da doch nicht. Mich hatte es auch erwischt, glauben Sie mir, so krank war ich noch nie in meinem Leben. Ich und meine ganze Familie haben komplett zwei Tage verloren - wir waren einfach augeknockt. Als ich wieder zu mir komme waren meine alte Nachbarin und der Mieter unter mir tot und so war es inder ganzen Stadt und das letzte an was ich mich erinnere waren giftgrüne Wolken über der Stadt...das muss schon der Teil des Deliriums gewesen sein, ich dachte auch schemenhafte Gestalten und Monsterfratzen am Himmel zu sehen..es war furchtbar."
Der Taxifahrer fuhr weiter durch das nächtliche Finstertal. Nichts lies vermuten das die Stadt von solchen Ereignissen heimgesucht worden war. Vor allem die Architektur war beeindruckend, der mittelalterliche Dom gewaltig und alt.
 
„Eine Epidemie!?“ klang es geschockt von der Rückbank. Marie Claire ließ den Gedanken, sich zum Abschluss der Stadtrundfahrt noch von ihrem Fahrer zu nähren, abrupt fallen. Sie musste mitfühlend aussehen, dabei ging es der jungen Toreador nur um sich selbst… wie würde sie in einer Stadt leben können, die scheinbar ein ernsthaftes gesundheitliches Problem aufzuweisen hatte? Und wie war es um die politische Ordnung einer Domäne gestellt, wenn nicht nur eine, sondern gleich zwei davon in kurzer Zeit gewütet hatten? Das hier war doch Deutschland, und kein Dritte-Welt-Land! Was war von den hiesigen Schäfern zu halten?

Aber natürlich lauschte Sie auch aufmerksam, als er weiter erzählte… grüne Giftwolken, Delirium, Monster und seltsame Gestalten… sie wurde schweigsam. Marie Claire war weitgereist, hatte viel gesehen, genug um hinter den Hirngespinsten Übernatürliches zu vermuten, aber dass sie so selbstverständlich daran dachte, machte ihr Angst… Es war eine Angst vor einem unnennbaren Dunklen. Und dieses mächtige Gefühl vermischte sich auf heimtückische Art mit einem zweiten, nicht weniger toxischem: Zorn. Das Tier in ihr, das mochte es nicht unbequem und es war wütend sich Gefahren ausgesetzt zu sehen, von denen es sich keine Vorteile versprach. Lefaibre, warum nur Finstertal?

Und dann kam der Dom – gotischer Wundertraum. Mit Wasserspeiern und ziselierten Heiligen am Haupteingang… und beleuchtet… so grell. So ein herrlich, göttlicher Widerschein in dieser tristen Wirklichkeit. Und die Menschen, die dafür gestorben sind,… für steingewordene Ideologie. Schwindelerregend, alles andere wurde daneben kleiner, leiser, weniger,… aber der Wagen fuhr schnell und so war dieses schöne Gefühl viel zu schnell vorbei.

„Was hält Sie noch hier?“, fragte sie, um Fassung ringend. Das Tier war vollkommen ruhig und ihre kleinen Fäuste entspannten sich wieder.
 
Der Mann lachte auf die Frage. "Meine Familie, das kleine Häuschen das wir gebaut haben bevor die Immobilienpreise verfallen sind, die Kinder die ihre Freunde und gewohnte Umgebung nicht verlassen wollen. Wenn man jahrelang für den Traum vom eigenen Heim sechs Tage pro Woche jeden Tag 12 Stunden im Taxi sitzt, die Frau im Supermarkt an der Kasse arbeitet und Abends noch putzen geht dann gibt man Heim und Hof für den man so schwer arbeitet nicht so leicht auf."
 
„Ich verstehe…“ sagte sie, nickte und lächelte mitfühlend.
Aber sie verstand nicht. Marie Claire hatte nichts was sie hielt. Nirgendwo. Ihre Verpflichtung war ihr Erzeuger und ihr Talent. Nicht mehr und nicht weniger. Und so erschien ihr das eigenes Schicksal dann und wann nicht mehr als ein Blatt im Wind. Aber sie war frei, freier als die meisten die sie kannte, und dafür war sie dankbar. Dass sie so etwas wie finanzielle Not überhaupt nicht kannte, tat natürlich ihr übriges.
Sie dachte wie trist so ein Leben sein musste: Gefangen im Hamsterrad. Und wofür? Für einen Vorgarten und Kinder, die einen beizeiten ins Altenheim stecken würden? Es war ein hartes Urteil. Härter als es hätte sein müssen, aber dann, wenn ein Lebensentwurf vom eigenen so sehr abweicht, ihn geradezu in Frage stellt, bleibt oft nur die Abwertung des Fremden, damit die eigene, kleinen Welt nicht zerbricht.

Auch sie hätte jetzt Kinder. Zwei. Julien und Caroline. Auch sie würden im Garten spielen. Grundschüler, in weißem Leinen auf saftig grüner Wiese. Von der Terrasse, auf der sie es sich bequem gemacht hatte und einen lieblichen Weißwein im Sonnenuntergang genoss, fiel der Blick auf den endlos blauen See, die Berge im Hintergrund. Nicht eine einzige Wolke am Himmel. Sonntags kämen die Großeltern vorbei und man würde mit Liebe Selbst-gekochtes im lichtdurchfluteten Esszimmer zu sich nehmen. Man würde über Politik reden, die Kunst das Leben und lachen. Viel lachen.

Der Wagen hielt an und die Gedanken platzen. „…was schulde ich Ihnen für die Tour?“ sagte sie während sie in der schwarzen Ledertasche nach dem Geldbeutel suchte. Hamsterrad
 
Da die Fahrt doch sehr lange gewesen war wurde die Tour nicht ganz billig. Über 100 € fielen an, aber der Fahrer erwies sich als Kavallier und trug das Gepäck noch zum Eingang der Akademie. "Vielen Dank junge Dame, Sie haben mir mit der netten Unterhaltung den Abend verschönt. Er reichte ihr eine Karte mit einer Handynummer. Wenn Sie mal wieder jemanden benötigen der Sie kutschiert rufen Sie mich doch an..
Auf der Karte stand neben der Rufnummer noch der Name Klaus Ritter.
"Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt in Finstertal und noch eine angenehme Nacht."
Freundlich lächelnd verabschiedete er sich von Marie -Claire und eilte zum Wagen zurück um seine Schicht fortzusetzen.
 
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