AW: Warum eigentlich eigene Systeme und Settings?
Jamin schrieb:
1. Warum überlegen wir uns eigene Systeme / Settings?
(Ketzerisch: Sind die andere nicht gut genug? Oder kann man da bestimmtes nicht umsetzen? Oder einfach als Zusatzangebot?)
Das ist - so mein Eindruck - einfach ein weiterer Weg sich mit Rollenspielen zu befassen, ohne nur auf das eigentliche (Durch-)Spielen, wozu ja meist mehrere Leute zur gleichen Zeit und meist am gleichen Ort benötigt werden, angewiesen zu sein. Als Spielleiter kann man sich alleine mit Vorbereitungen für Szenarien beschäftigen. Als Spieler kann man sich neue Charaktere basteln. Viele Rollenspiele haben noch "Spiele im Spiel" zu bieten (z.B. ausgedehnt Fahrzeugbastelregeln). - Und wem das alles nicht zusagt sich alleine zu beschäftigen, der bastelt an bestehenden Regeln oder Settings herum (Hausregeln). - Und wem das noch nicht reicht, der denkt sich selbst was aus, wie er bestimmte Aspekte des Rollenspiels regeln würde (muß ja noch nicht einmal anders sein als andere, es reicht ja schon sich die "besten Stellen" anderer Regelsysteme zusammenzuklauben, um etwas "eigenes" zu haben - das machen einem ja auch professionell produzierte Rollenspiele vor).
Klar ist da auch ein wenig der Wille eine eigene Leistung vollbracht zu haben, die man sich und der Welt mit Stolz zeigen können möchte, beteiligt. (Wenn denn mal nur dieser Stolz auch nur in der Mehrzahl der Fälle eine solide Grundlage hätte, statt nur in Worte gegossene Selbstüberschätzung zu sein!)
Jamin schrieb:
2. Warum haben zwar viele solche Ideen, aber nur wenige setzen sie um?
(Keine Zeit, Angst vor Ablehnung?)
Ideen kosten keine Anstrengung, keinen Schweiß und dauern nicht lange. - Etwas auszuarbeiten, in Form zu bringen, zu durchdenken, es nochmal und nochmal zu überarbeiten, es zur Diskussion zu stellen, sich auf erwachsene Art mit dem erhaltenen Feedback zu befassen, das zu nutzen um nochmal dran zu feilen, usw. - Das ist ja durchaus ARBEIT, MÜHE, und ZEITAUFWENDIG.
Wer sich die Zeit nicht nehmen kann oder will, wer sich die Mühe nicht machen möchte, wer sich keine Arbeit mit einer Ausarbeitung des Gehirngestürmes machen will, der hat zwar vielleicht Ideen (und diese zu haben ist ja auch kein Wert an sich, denn die unoriginellsten Ideen sind auch stets die zahlreichsten), jedoch werden diese Ideen eben nie weiterverfolgt werden.
In den allerallermeisten Fällen ist das auch verdammt gut so.
Etwas wirklich Ausarbeitenswertes kommt ja etwa einem 5er im Lotto gleich. Nicht ganz so selten wie ein 6er, aber doch seltener als es die Ideenhabenden realisieren mögen.
Wer gewisse Qualitätsmaßstäbe an den Originalitätgehalt einer Rollenspielidee anlegt - und diese Maßstäbe könnte man sich durch Kenntnis eine weiten Fülle existenter, professioneller Rollenspielprodukte als eigene Meßlatte gebildet haben - der wird seine eigenen Ideen selbst(!)kritisch prüfen und die meisten davon als eben doch nichts, was sich mit seiner Lebenszeit zu unterfüttern lohnen würde, abtun.
Nur die Nichtselbstkritischen schludern ein wenig Halbgares oder gar Rollenspiel-Gammelfleisch mit mehr als nur einem Geschmäckle hin und geben sich der trügerischen Hoffnung hin, daß dies allein schon eine gut erbrachte Lebensleistung war, daß sie sich ihren rollenspielerischen Rotz ins "Selbstentwickelte Rollenspiele"-Tempo rausgeschneuzt haben.
Die meisten haben eben KEINE guten Ideen. Den meisten ist dies auch ausreichend bewußt, daß sie es nicht nötig haben, noch ein Rollenspieltaschentuch vollzurotzen.
Manche haben aber tatsächlich gute oder gar SEHR gute Ideen, die es wert wären ausgearbeitet zu werden. Doch da fehlt es vielleicht an Zeit oder dem Willen die (nicht geringe) Arbeit reinzustecken.
Klar gibt es die "ich mache alle 24-Stunden ein neues Rollenspiel"-Suchtler. Die haben einen Dauerschnupfen, was man an den unbefriedigenden Aufrissen von Beinahe-Ideen in den entsprechenden Foren/Wettbewerben leicht erkennen kann. Diese Leute sind es gewohnt schnell auf einer noch so untauglichen Idee herumzukauen und dann binnen kürzester Zeit etwas auszuspucken, was die Welt dann bitteschön als tolle Leistung empfinden soll.
Die Ergebnisse der Akkord-Rollenspiel-Hinrotzer sind allesamt (auf unterschiedliche Art) tragisch. Wenn gute Ideen dabei waren, so ist der Suchtler nicht in der Lage sie wirklich zu etwas Fertigem auszuarbeiten, denn das dauert seine Zeit, das ist schmerzlich und langwierig und mühsam und in der Zeit, wo er EINE Idee ausgearbeitet hätte, hat er schon 20 weitere 24-Stunden-Rollenspiele hingeschneuzt. Das liegt daran, daß bei diesen "Autoren" die Nase ständig läuft. - Wenn hingegen schlechte, unausgegorene, blöde Ideen dabei waren, dann ist selbst der Aufwand eines 24-Stunden-Rollenspiels noch zu viel gewesen. Der Mensch könnte prinzipiell vorher überlegen und erst dann handeln, aber allzu oft ist es doch so "Erst gemacht, dann nachgedacht" (wobei das Reflektieren im "dann nachgedacht"-Teil meist auch noch weggelassen wird).
Jamin schrieb:
3. Was führt dazu, dass man seine Entwicklung einstellt?
Die Selbsterkenntnis, daß seine eigene Idee eben doch Scheiße war?
Oder keine Lust mehr zu haben, den alten Kram von vor drei Jahren nochmal grundlegend zu überarbeiten?
Oder schon das nächste oder übernächste 24-Minuten-Rollenspiel im Ofen zu haben.
Oder einfach ein Rollenspielprodukt gefunden zu haben, welches alles das kann, was man von einem Rollenspiel erwartet - und das auch noch besser, als man es sich selbst je hätte ausdenken und vor allem ausarbeiten können?
Gründe nicht mehr an einer Rollenspieleigenentwicklung weiterzuarbeiten gibt es jede Menge. - Vielfach sind das auch dieselben Gründe, aus denen manche erst garnicht anfangen ihre Idee mal aufzuschreiben.
Macht aber alles nichts.
Wer Schnupfen hat, der soll sich ausrotzen können. Nur soll er halt nicht überall herumrennen und jedem stolz das mit gelbem Schleim gefüllte Rotzpapier unter die Nase halten und noch gelobt werden wollen, wie schön viel und schön schleimig er rotzen konnte.
Ein Glück, daß es so viele "Ideen" nicht bis zur ersten Zeile schaffen.
Ein Glück, daß es soviele "eigene Rollenspiele" nicht an die Öffentlichkeit (und die eigene Spielrunde mit höflichen, gutwilligen Freunden, oder die eigene Freundin, oder die Oma zählen hier nicht als Öffentlichkeit) schaffen.
Warum überlegen so manche (gerade auch die Ideen-Dauerrotzer) nicht ab und an mal, ob sie ihre "Rollenspiele" mit Fertigstellungsgraden im Promille-Bereich vielleicht lieber auf der eigenen Festplatte liegen zu lassen, statt sie ständig anderen Leuten in die Fresse zu schieben?