[Spoiler] Engel = Soldaten = unmoralisch?

oni

freies Radikal
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Ist es moralisch vertretbar Kindersoldaten zu spielen?
Denn nichts viel anderes sind Engel nunmal...

Diese Überlegung hab ich aufgrund eines Links (http://www.heise.de/tp/r4/artikel/19/19512/1.html) bzw. des dazugehörigen Filmes und einer darauf folgenden Diskussion mit einem Freund begangen.

Wie seht ihr dass? Was sind eure für und widers?
Kann/darf/soll man womöglich sogar Filme wie Lost Children als 'Inspiration' nehmen?
Wie weit ist soetwas tragbar?

bin schon gespannt auf eure Antworten!
 
AW: Engel = Kindersoldaten = unmoralisch?

Ist es moralisch vertretbar Kindersoldaten zu spielen?

Ist es moralisch vertretbar, blutsaugende Serienkiller zu spielen? Oder genozidale antiimperiale Terroristen? Raubmordende Söldner?

Meiner Meinung nach schon. Immerhin wird in der Realität niemand dabei verletzt.


Silver, und nebenbei bemerkt: Papers & Paychecks ist ein saublödes Spiel...
 
AW: Engel = Kindersoldaten = unmoralisch?

Ähmmm... hallo? So brauchen wir mMn garnicht anfangen. Man sollte dran denken, was für ein Unterschied zwischen einem Rollenspielcharakter und einer realen Person liegt. Da zum Beispiel fast jedes Rollenspiel relativ umfangreiche Kampfhandlungen vorsieht (oder zumindest als einen "Lösungsweg" beinhaltet) ist auch fast jeder Chrakter gewaltbereit. Ich habe zumindest, bis auf wenige Ausnahmen, noch keinen Spieler erlebt, dessen Chara sich ins Hemd gemacht hat, weil er gerade einen Ganger/Jäger/Lonestar-Cop angeschossen hat. ICH HÄTTE DAMIT PROBLEME. Ich hätte auch Probleme damit in den meisten Filmhelden zu stecken, die heutzutage nur allzu gedankenlos töten. Ich habe damit aber kein Problem es mir anzusehen oder es zu spielen, es unterhält und ist nicht real.

(ich habe auch schon pazifistische Charaktere gespielt, aber die sind in Rollenspielen schon wirklich was besonderes!)
 
AW: Engel = Kindersoldaten = unmoralisch?

@Oni: Eine kleine Spoilerwarnung wäre aus Gründen der Fairness für Engel-Spieler, die über ein gewisses Setting-Geheimnis noch nicht informiert sind, durchaus angebracht. Man kann hier allein aus dem Titel einen fiesen Spoiler entnehmen, den so manch ein Engel-Spieler (unter anderem auch noch ein paar in meinen Runden) nicht haben will. Soviel Rücksichtnahme auf andere Engel-Spieler sollte man an den Tag legen können, oder?


oni schrieb:
Ist es moralisch vertretbar Kindersoldaten zu spielen?
Nein, natürlich nicht! - Ja, klar, kein Problem! - Kommt darauf an. - Weiß nicht.

Sag Du es mir.

Genauer: bilde Dir aufgrund Deiner eigenen Werte eine Meinung dazu. Dann stehe zu Deine eigenen wertebezogenen Entscheidung und spiele das, was Du für spielbar hältst. Und vor allem: spiele das NICHT, was Dir nach Deinen Werten nicht wünschenswert als Thema oder auch nur als Bestandteil eines Rollenspiels erscheint.

Weiters: falls Du über diese persönliche, nur Deine eigene Spielpraxis betreffende Beurteilung eines Rollenspiels der Meinung bist, daß ein Rollenspiel in Deinen Augen besonders heikle Aspekte hat, über die auch andere aufgeklärt werden sollten, oder zu denen andere zumindest auch einmal Deine Sicht aufgrund Deiner Werte erfahren sollten, um eventuell ihren eigenen, möglicherweise eingeschränkten oder "betriebsblinden" Blickwinkel zu erweitern, dann gehe den Weg einer öffentlicheren Diskussion (wie z.B. hier in diesem Forum).

Zu Engel:
Engel thematisiert unter anderem(!) eine Kindersoldaten-Problematik. Die Frage ist, ob dies ein oder gar DER Hauptaspekt des gesamten Inhaltes des Engel-Rollenspiels ist? Kann man Engel spielen ohne mit der Kindersoldaten-Thematik konfrontiert zu werden?

Ich finde, man kann.

Inzwischen.

Anfangs, also als ich nach Lektüre der ersten Auflage des Engel GRW mir überlegte, was für Geschichten man in diesem Rollenspiel erleben kann, da war ich ziemlich fest der Überzeugung, daß man nur tieftraurige, depressive Geschichten von leidenden, eine Art (nichtsexuellen!) Mißbrauch empfindenden Opfern spielen kann.

Dann habe ich überlegt, wie in den Engel-Publikationen die Rolle der Engel als Spielercharaktere geschildert wird. Und da bleibt die Rolle des Opfers eigentlich ziemlich aus. Die Engel, so wie sie in dieser "Welt der Engel" gespielt werden (sollen), sind zwar in ihrer Vorgeschichte möglicherweise Opfer (wobei man das durchaus auch anders sehen kann, da der gesellschaftliche Hintergrund, aus dem heraus der "Kirchenzehnt" eingetrieben wird, ja schon ziemlich anders gelagert ist, als die heutige, reale Praxis des "Rekrutierens" von Kindersoldaten in Entwicklungsländern), doch SPIELT man keine Opfer. Man spielt ENGEL. - Die Charaktere glauben in ihrer Selbstwahrnehmung, wobei die Kirche das natürlich massiv unterstützt, daß sie selbst echte, wahre Engel sind. Das kann man von realen, modernen Kindersoldaten kaum behaupten.

Würde Ich einen Kindersoldaten spielen wollen, der im heutigen Schwarzafrika für eine handvoll schwarzer "Rebellen"-Schlächter seine Landsleute umbringen soll? NEIN!

Würde ich einen Engel des Herrn spielen wollen, der in Diensten und aufgrund der Machenschaften eines immensen Kirchenapparats seine Aufgaben ZUM WOHLE DER MENSCHHEIT durchführen soll? JA!

Der Unterschied ist der, daß bei Engel der moralische Anspruch, den die fiktive Angelitische Kirche mit ihren dogmatischen Aussagen erhebt, eine durchaus mit meinen Werten vereinbare Richtung hat. Das kann ich spielen. Da kommt mir nicht gleich die Galle hoch. - Das liegt insbesondere daran, daß die Engel-Charaktere mit Spielbeginn, d.h. mit ihren ersten Missionen als Schar, durchaus selbstständig zu denken angehalten sind. Der Normalfall ist doch, daß irgendwann die Engel-Spieler/-Charaktere merken, daß etwas nicht so ist, wie es ihnen gesagt wurde. Dann kommt die Erkenntnis, daß eine Lüge die Basis ihrer Existenz ist. Und dann kommen die eigenen, bewußten Entscheidungen damit umzugehen!

Ich habe Resignation erlebt, da man gegen eine übermächtige Kirchenorganisation ja nie etwas machen kann. Ich habe Trotz erlebt, da man immer versuchen kann gegen das System einen großen oder auch nur einen kleinen Aufstand zu machen. Ich habe Flucht erlebt, da man auch im Europa der Angelitischen Kirche und auch als Engel durchaus einen Ausstieg aus dem System erfolgreich hinter sich bringen kann. Ich habe aber auch Akzeptanz erlebt, da man sehen kann, was den normalen Menschen an Gefahren droht, die sie ohne die Aufopferungsbereitschaft der Engel nie zu bewältigen in der Lage wären. Ich habe Leugen der Wahrheiten erlebt, da man lieber verdrängt als sich mit einem die Seele zu zerbrechen drohenden Faktum auseinanderzusetzen. Und ich bin sicher, daß ich noch längst nicht alle Reaktionen auf die Konfrontation mit der großen Lüge erlebt habe, die denkbar wären.

Das ist in der Welt der Engel eben anders als im wirklichen Leben. Die realen Kindersoldaten haben KEINE Hoffnung. Sie sind die NSCs, denen ohne einen Spieler mit dem Recht auf einen - wie auch immer - befriedigenden Lebenslauf seines Charakters eben das widerfährt, was in einer kalten, wertelosen Gesellschaft nicht nur Kindern(!) widerfährt: sie werden so rational, so unmoralisch, so herzlos verheizt, wie es zu erwarten ist, wenn es KEINE Werte, KEINE Religion, KEINE Moral gibt.

Hier im Forum haben in diversen anderen Diskussionen sich so einige Beiträge mit Themen wie Religiösität, Werten, Moral, Gut&Böse, etc. beschäftigt. Dabei sind häufig Aussagen wie "ich bin ja so rational, daß ich keine Religion oder Moral brauche" gekommen. Darauf ist geschissen. Das erste, was bei einer WIRKLICH rationalen und pragmatischen Vorgehensweise auf der Strecke bleibt, ist die Würde der Mitmenschen. Da werden Kinder als ganz rational gesehen bestens geeignete Rekruten angesehen. Sie sind geistig formbar, lernen leicht den Umgang mit Waffen, können schneller als so mancher gefestigterer Erwachsener von der Tötungshemmnis wegerzogen werden, essen wenig, sind ihren Kommandeuren körperlich unterlegen und somit leichter beherrschbar. DAS ist es, was dabei herauskommt, wenn man auf Werte und Moral scheißt und sich selbst für ach so toll rational hält. Ohne eine bewußte Selbstbeschränkung seiner eigenen Handlungsoptionen aufgrund von Werten kommen solche menschenverachtenden, unwürdigen Verhaltensweisen immer wieder vor. - Das soll nicht heißen, daß Religion ein Schutz davor wäre. Die Selbstmordanschläge im Nahen Osten, zu denen insbesondere im palästinensischen Umfeld immer jüngere Menschen zu lebenden Bomben, zu blutigen Menschenopfern für einen gänzlich unislamistischen Allah der Blutgier gemacht werden, zeigen ganz deutlich, daß auch innerhalb einer Religion ständig ein Ringen um die Werte Not tut. Auch dort verkommen die Werte - nicht aufgrund eines Kokettierens mit seiner eigenen Rationalität, sondern aufgrund einer Instrumentierung aller Mitmenschen für die eigenen, fanatischen Sichtweisen dessen, was der einzige richtige Weg ist.

Die Frage ist für mich bei Engel aber nicht, ob ich einen entwürdigten, entmenschlicht-instrumentierten Kindersoldaten spielen will, sondern ob ich einen Engel (mit allen Implikationen, die der Begriff "Engel" für mich als aus einem christlichen, europäischen Kulturkreis stammend mitsichbringt) spielen möchte. - Und bei letzterer Frage kann ich sagen: Ich will!

Der Film, auf den sich der Telepolis-Artikel bezog, ist für mich jedenfalls ein interessanter Dokumentarfilm, der aber nichts und niemand wirklich bewegen wird. Man kann ihn ansehen, den Kopf schütteln und dann WAS? machen? - Eben. Gegen die Neger-Kindersoldaten, mit denen sich die Schwarzafrikaner gegenseitig fertigmachen, kann man NICHTS machen. Das ist deren eigener Niedergang. Den halten wir weder von hier noch von dort auf. Und es hat auch NIEMAND weltweit irgendein Interesse daran etwas dagegen zu unternehmen, da Afrika weitweg ist, es dort keine nennenswerten Rohstoffe oder Absatzmärkte für unsere Überproduktionen gibt und somit keine Politlobby der Welt Geld locker machen wird, die Kindersoldaten-Aushebungen dort einzudämmen.

Das ist deprimierend. Daher ist der Film auch deprimierender als die reinen Lebensgeschichten der Kinder allein vermuten lassen. Das deprimierendste ist die Hilflosigkeit, mit der man solche - viele weitere ähnliche - Menschenrechtsverletzungen und Menschenentwürdigungen nur noch zur Kenntnis nehmen kann, ohne die direkte Gegensteuerungsmöglichkeit zu haben.

Ob man diesen Film als Inspirationsquelle für Engel heranziehen kann, da würde ich sagen, sicherlich. Ob man es sollte, das ist die interessantere Frage. Will man seine Spieler in der Welt der Engel mit ihren Alter-Egos dort in eine ähnliche ausweglos-deprimierende Lebensgeschichte treiben, dann wird man in dem Film sicherlich ein paar (aber nicht viele) Anhaltspunkte finden, die man nutzen kann, um die Engel-SCs systematisch zu zerstören. Ob dabei die Spieler mitziehen werden, wage ich mal zu bezweifeln.

Meine Erfahrung mit Engel-Spielern ist die, daß sie die enorm deprimierende Tragik der Engel in dieser fiktiven Welt gerne ausblenden um eher "normalere" Abenteuer, Missionen etc. zu erleben, in denen sehr wohl die persönliche Tragik eines Engels ab und an mal thematisiert werden kann, aber kaum ständig, und kaum für jeden Spieler in der Runde. Ich habe wirklich viele optimistische Engel-SCs, nette Scharen, die wirklich bemüht waren das in ihrem Empfinden Richtige zu tun, harte Kämpfer gegen WIRKLICH unmenschliche (Traumsaat-)Gegner zum Schutze der Schutzlosen gesehen. Das ist eine wesentlich leichtere, optimistischere Richtung, in der die Engel lieber gespielt werden, als die ständig in Selbstmitleid und Depressionen versinkenden Trauer-Scharen. Aber das ist nur meine Erfahrung mit meinen eigenen Scharen und denen von drei anderen Engel-Spielleitern, somit nicht mal im Anspruch repräsentativ. Es soll nur zeigen, das man Engel nicht spielt um Kindersoldaten zu spielen, sondern aus einer breiten Vielzahl anderer Gründe, die der reiche Engel-Hintergrund hergibt.

Noch einen historischen Nachtrag:
Kindersoldaten sind nichts Neues. In Naturvölkern sind Kinder mit 12 bis 14 Jahren alt genug, daß sie als Erwachsene auch Aufgaben von Erwachsenen erledigen müssen - dazu gehören Stammeskriege mit dazu. In den Heeren der Antike bis in den zweiten Weltkrieg hinein können wir kontinuierlich den Einsatz von jungen und sehr jungen (in der Regel ausschließlich männlichen) Menschen feststellen. Ob als Knappe, als Schiffsjunge, als Botenläufer, als "Volkssturm" (siehe Spielfilm "Die Brücke" als sehr anrührende Dramatisierung) macht da keinen Unterschied. Warum wird also heutzutage auf diesem Begriff "Kindersoldaten" so medienwirksam herumgeritten?

Zum einen, so mein Eindruck, weil die schwarzafrikanischen Kindersoldaten mit ihrer breiten, organisierten Art der Aushebung von im Wesentlichen aus Kindern bestehenden Einheiten eine neue Stufe menschlicher Niedrigkeit erlangt haben, die historisch durchaus nicht leicht Parallelen finden läßt. Zum anderen, weil man bei diesen Kindersoldaten anders als bei den Schiffsjungen oder den Volkssturm-Soldaten zusätzlich noch das komplette soziale Umfeld zerstört. Ein Stammeskrieger, auch wenn er erst 13 Jahre alt ist, gehört noch in sein soziales Umfeld und ist sozial in einer akzeptierten Rolle. Die Kindersoldaten des modernen, rationalen Afrikas sind hingegen vollkommen herausgerissen, sie sind haltlos und haben (anders als bei Engel innerhalb der Schar) noch nicht einmal Halt bei sich selbst. Das ist sehr deprimierend. Hier werden junge Seelen gequält und zerstört - schlimmer noch als ihre Körper.

Doch was ist im Vergleich dazu (und über die Zulässigkeit dieser Art Vergleiche könnte man sich natürlich bildschirmseitenlang das Maul zerreißen und trotzdem ist der Vergleich angebracht) mit den immer jüngeren Selbstmord-Attentätern der islam-artigen Fanatikergruppen? Auch hier wird ein Kind aus der Familie gerissen, werden Drohungen gegen die Lieben angewandt, damit das junge Kind sich im Namen eines blutfressenden, falschen Allahs in die Luft sprengt und dabei andere Menschen mit in den Tod reißt.

Oder was ist das im Vergleich zu den Kindern, die für den Sex-Tourismus unserer reichen, fetten Sex-Konsum gewohnten Männer, die unfähig sind mit erwachsenen Frauen (oder gar Männern) eine sexuelle Beziehung einzugehen, ihre Kindheit opfern müssen um ihre Familien durch das so gewonnene Geld durchzubringen? Diese Kinder ernähren ihre Familien und sind doch durch ihre (in ihrer Gesellschaft wahrgenommenen) Entehrung von ihrem sozialen Umfeld isoliert.

Kindersoldaten, Selbstmordattentäter, Kinderprostituierte. Und dann noch das "harmloseste" dieses unheiligen Quartetts der Zerstörung von Kinderseelen, die Kinderarbeit (wer Nike-Sportschuhe trägt, tritt die zerstörte Kindheit von Drittwelt-Kindern mit Füßen - Just Do It?).

Sind das alles Themen, die man in einem Rollenspiel behandeln könnte? Ja, prinzipiell kann man die schon rollenspielerisch aufbereiten.

Nur - wer will das denn? Und was soll das bringen?

Wenn ein Spieler einen möglichst realistisch vermittelten Kindersoldaten-Lebenslauf durchspielt, was würde denn der Spieler davon haben?

Für mich wäre das ebenso undenkbar, wie einen SC in einem typischen Siebziger-Jahre-Problem-Film zu spielen, in welchem man sich über Stunden gegenseitig anödet und Vorwürfe macht. Man kann wirklich vieles im Rollenspiel einbauen, aber man muß nicht und man sollte auch nicht.
 
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