Caninus
heiliges Caninchen!
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Die Götter von Whitechapel
Steampunk-Roman von Shawn M. Peters [T-Rezi]
Am Ende des 19. Jahrhunderts ist der Londoner Stadtteil Whitechapel vom Rest der Stadt abgeriegelt. Zwei gewaltige Entitäten - Mama Maschine und Großväterchen Uhr - beherrschen und quälen die Bewohner des Viertels. Diese haben gelernt den Kopf unten zu halten und sich mit den selbsternannten Göttern Whitechapels zu arrangieren. Doch im Untergrund gärt gerechter Zorn und der Unmut diesen Göttern gegenüber.
Hoffnungsträger der einfachen Bevölkerung ist der Held des Romans, Oliver, und seine Mannschaft harter Kerle. Oliver war schon einmal in einen Widerstandskampf verwickelt und schwor sich, nach der blutigen Niederlage, ebenfalls den Kopf unten zu halten. Doch wie es bei wahren Helden ist, werden sie vom Schicksal eingeholt ...
Bei "Die Götter von Whitechapel" handelt es sich um den Debüt-Roman des Autoren Shawn M. Peters, der im Original ("Whitechapel Gods", 2008) bei Roc Books (Penguin Group (USA)) erschien. Feder & Schwert hat den Roman von Flora Schneider übersetzen lassen und 2011 als Steampunk-Taschenbuch publiziert. Der Mannheimer Verlag hat bisher großen Mut und einen guten Instinkt mit Steampunk-Publikationen bewiesen und auch mal riskiert, einen neuen Stil vorzustellen. Das Steampunk-Programm bei Feder & Schwert ist ziemlich abwechslungsreich und "Die Götter von Whitechapel" reiht sich hier nahtlos ein, denn Peters besitzt eine ziemlich eigenwillige Schreibe. Mehr als einmal drängt sich der Verdacht auf, der englische Fantasyautor China Miéville hätte den Kanadier inspiriert.
S. M. Peters neigt ebenfalls zum Spiel mit dem Wort, einer kreativen Verbiegung der Wirklichkeit und dem mannigfaltigen Einsatz von Maschinenschöpfungen. An den geschliffenen Stil eines Miévilles kommt er allerdings kaum heran. Die deutsche Übersetzung von von Flora Schneider ist ordentlich, ebenso das Lektorat von Oliver Hoffmann. Das Korrektorat von Thomas Russow entspricht dagegen leider dem gegenwärtigen deutschem Verlagsstandard - es gibt also etliche Fehler. Die Titelillustration von Oliver Hoffmann ist leidlich gelungen, aber meilenweit von der Genialität des Titelbildes von "Whitechapel Gods" entfernt. Außerdem wurde der Buchtitel der deutschen Ausgabe künstlerisch gestaltet - als Motiv und mit unterschiedlichen Schriftarten. Das sieht schick aus, verschleiert aber den Buchtitel und macht ihn für den ersten Blick unleserlich. Buchtitel sollten klar erkennbar und gut zu lesen sein.
Die Handlung ist spannend und der Leser wird sofort hineingeworfen, was zu Verwirrungen führen kann. "Die Götter von Whitechapel" ist wie ein großes Puzzle geschrieben, zudem es nie ein Gesamtbild gibt. Peters offenbart mit jeder Seite weitere Puzzleteile, die vom Leser selbst zu einem Bild zusammengefügt werden müssen. Dabei kann es auch mal zu einem falschen Bild kommen, zu einer Vorstellung, die irgendwann mit einem weiteren Puzzleteil umgeworfen wird. Ob der Autor mit diesem Stilmittel absichtlich kokettiert oder der Zufall seine Hand im Spiel hat, sei dahingestellt. Jedenfalls macht es Spaß und fordert den Leser. "Die Götter von Whitechapel" ist ein Roman, der zum Mitdenken animiert und zu einem großen Abenteuer mit offenem Ausgang einlädt.
Eindeutige Beschreibungen sind bei Peters Mangelware. Sie kommen selten vor. Ereignisse und Dialoge übernehmen diese Arbeit - aber nur ungenügend. S. M. Peters Roman geht einfach davon aus, dass der Leser die Welt kennt. Es gibt keine Einführung, nur Tatsachen und Schlussfolgerungen. Anhand eines Dialogs oder der Bezeichnung eines Gegenstands muss der Leser erkennen, um was es geht, wie die Welt aussieht, was die Hintergründe sind. Wer die Geschichte aufmerksam verfolgt, das Gelesene reflektiert und dem Text Zeit zum Entfalten lässt, der bekommt ein Bild von dieser scheinbar unvorstellbaren Welt, die einem zwar groß vorkommt, dennoch auf kleinem Raum spielt.
Die Figuren ticken ähnlich, einige im wahrsten Sinne des Wortes. Sie haben Ecken und Kanten, Geheimnisse, Ängste, Fehler - aber auch Tugenden. Es macht Spaß den Figuren zu folgen und ihnen über die Schultern zu schauen. Irgendwann entwickelt sich ein emotionales Band zu den tragischen Helden der Geschichte. Und genau dann nimmt der Roman ordentlich Fahrt auf. Die Figuren bewegen einfach - den Leser, sich selbst und die Handlung.
Die Stimmung im Buch ist dunkel und gedrückt. Der Feind scheint übermächtig und alles liegt im Schatten gigantischer Schlote. Eine mysteriöse Krankheit sucht das Stadtviertel heim und lässt Zahnräder und Metall zu den Herren über das Fleisch werden. Dampfgetriebene Soldaten mit Uhrwerkherzen, finstere Magie und all das in der Unterschicht des viktorianischen Englands. Das ist verdammt spannend und liebevoll gestaltet - vom Text, aber auch vom Layout her. Peters weiß fesselnd und spannend zu schreiben, Feder & Schwert weiß Bücher zu machen. Top!
Der Roman ist ein klasse Debüt von Peters. Zwar eine schwere Kost, aber die Mühe lohnt sich. Gelegenheitsleser sollten "Die Götter von Whitechapel" aber lieber liegenlassen und zu etwas Leichterem greifen, das von Feder & Schwert ebenfalls angeboten wird. Shawn M. Peters und sein Debüt-Roman sind jedenfalls eine tolle Bereicherung des Verlagsangebotes und des heimischen Bücherregals.
Copyright © 2011 by Günther Lietz
Diese Rezension erschien zum Zeitpunkt des Eintrags ebenfalls auf Taysals WebBlog und Buchrezicenter.
Shawn M. Peters
Die Götter von Whitechapel
Feder & Schwert Taschenbuch, Steampunk (2011)
Originaltitel: Whitechapel Gods (2008)
Deutsch von: Flora Schneider
Titelillustration: Oliver Graute
Lektorat: Oliver Hoffmann
Korrektorat: Thomas Russow
448 Seiten, ISBN 978-3-86762-103-8Den Artikel im Blog lesen
Steampunk-Roman von Shawn M. Peters [T-Rezi]
Am Ende des 19. Jahrhunderts ist der Londoner Stadtteil Whitechapel vom Rest der Stadt abgeriegelt. Zwei gewaltige Entitäten - Mama Maschine und Großväterchen Uhr - beherrschen und quälen die Bewohner des Viertels. Diese haben gelernt den Kopf unten zu halten und sich mit den selbsternannten Göttern Whitechapels zu arrangieren. Doch im Untergrund gärt gerechter Zorn und der Unmut diesen Göttern gegenüber.
Hoffnungsträger der einfachen Bevölkerung ist der Held des Romans, Oliver, und seine Mannschaft harter Kerle. Oliver war schon einmal in einen Widerstandskampf verwickelt und schwor sich, nach der blutigen Niederlage, ebenfalls den Kopf unten zu halten. Doch wie es bei wahren Helden ist, werden sie vom Schicksal eingeholt ...
Bei "Die Götter von Whitechapel" handelt es sich um den Debüt-Roman des Autoren Shawn M. Peters, der im Original ("Whitechapel Gods", 2008) bei Roc Books (Penguin Group (USA)) erschien. Feder & Schwert hat den Roman von Flora Schneider übersetzen lassen und 2011 als Steampunk-Taschenbuch publiziert. Der Mannheimer Verlag hat bisher großen Mut und einen guten Instinkt mit Steampunk-Publikationen bewiesen und auch mal riskiert, einen neuen Stil vorzustellen. Das Steampunk-Programm bei Feder & Schwert ist ziemlich abwechslungsreich und "Die Götter von Whitechapel" reiht sich hier nahtlos ein, denn Peters besitzt eine ziemlich eigenwillige Schreibe. Mehr als einmal drängt sich der Verdacht auf, der englische Fantasyautor China Miéville hätte den Kanadier inspiriert.
S. M. Peters neigt ebenfalls zum Spiel mit dem Wort, einer kreativen Verbiegung der Wirklichkeit und dem mannigfaltigen Einsatz von Maschinenschöpfungen. An den geschliffenen Stil eines Miévilles kommt er allerdings kaum heran. Die deutsche Übersetzung von von Flora Schneider ist ordentlich, ebenso das Lektorat von Oliver Hoffmann. Das Korrektorat von Thomas Russow entspricht dagegen leider dem gegenwärtigen deutschem Verlagsstandard - es gibt also etliche Fehler. Die Titelillustration von Oliver Hoffmann ist leidlich gelungen, aber meilenweit von der Genialität des Titelbildes von "Whitechapel Gods" entfernt. Außerdem wurde der Buchtitel der deutschen Ausgabe künstlerisch gestaltet - als Motiv und mit unterschiedlichen Schriftarten. Das sieht schick aus, verschleiert aber den Buchtitel und macht ihn für den ersten Blick unleserlich. Buchtitel sollten klar erkennbar und gut zu lesen sein.
Die Handlung ist spannend und der Leser wird sofort hineingeworfen, was zu Verwirrungen führen kann. "Die Götter von Whitechapel" ist wie ein großes Puzzle geschrieben, zudem es nie ein Gesamtbild gibt. Peters offenbart mit jeder Seite weitere Puzzleteile, die vom Leser selbst zu einem Bild zusammengefügt werden müssen. Dabei kann es auch mal zu einem falschen Bild kommen, zu einer Vorstellung, die irgendwann mit einem weiteren Puzzleteil umgeworfen wird. Ob der Autor mit diesem Stilmittel absichtlich kokettiert oder der Zufall seine Hand im Spiel hat, sei dahingestellt. Jedenfalls macht es Spaß und fordert den Leser. "Die Götter von Whitechapel" ist ein Roman, der zum Mitdenken animiert und zu einem großen Abenteuer mit offenem Ausgang einlädt.
Eindeutige Beschreibungen sind bei Peters Mangelware. Sie kommen selten vor. Ereignisse und Dialoge übernehmen diese Arbeit - aber nur ungenügend. S. M. Peters Roman geht einfach davon aus, dass der Leser die Welt kennt. Es gibt keine Einführung, nur Tatsachen und Schlussfolgerungen. Anhand eines Dialogs oder der Bezeichnung eines Gegenstands muss der Leser erkennen, um was es geht, wie die Welt aussieht, was die Hintergründe sind. Wer die Geschichte aufmerksam verfolgt, das Gelesene reflektiert und dem Text Zeit zum Entfalten lässt, der bekommt ein Bild von dieser scheinbar unvorstellbaren Welt, die einem zwar groß vorkommt, dennoch auf kleinem Raum spielt.
Die Figuren ticken ähnlich, einige im wahrsten Sinne des Wortes. Sie haben Ecken und Kanten, Geheimnisse, Ängste, Fehler - aber auch Tugenden. Es macht Spaß den Figuren zu folgen und ihnen über die Schultern zu schauen. Irgendwann entwickelt sich ein emotionales Band zu den tragischen Helden der Geschichte. Und genau dann nimmt der Roman ordentlich Fahrt auf. Die Figuren bewegen einfach - den Leser, sich selbst und die Handlung.
Die Stimmung im Buch ist dunkel und gedrückt. Der Feind scheint übermächtig und alles liegt im Schatten gigantischer Schlote. Eine mysteriöse Krankheit sucht das Stadtviertel heim und lässt Zahnräder und Metall zu den Herren über das Fleisch werden. Dampfgetriebene Soldaten mit Uhrwerkherzen, finstere Magie und all das in der Unterschicht des viktorianischen Englands. Das ist verdammt spannend und liebevoll gestaltet - vom Text, aber auch vom Layout her. Peters weiß fesselnd und spannend zu schreiben, Feder & Schwert weiß Bücher zu machen. Top!
Der Roman ist ein klasse Debüt von Peters. Zwar eine schwere Kost, aber die Mühe lohnt sich. Gelegenheitsleser sollten "Die Götter von Whitechapel" aber lieber liegenlassen und zu etwas Leichterem greifen, das von Feder & Schwert ebenfalls angeboten wird. Shawn M. Peters und sein Debüt-Roman sind jedenfalls eine tolle Bereicherung des Verlagsangebotes und des heimischen Bücherregals.
Copyright © 2011 by Günther Lietz
Diese Rezension erschien zum Zeitpunkt des Eintrags ebenfalls auf Taysals WebBlog und Buchrezicenter.
Shawn M. Peters
Die Götter von Whitechapel
Feder & Schwert Taschenbuch, Steampunk (2011)
Originaltitel: Whitechapel Gods (2008)
Deutsch von: Flora Schneider
Titelillustration: Oliver Graute
Lektorat: Oliver Hoffmann
Korrektorat: Thomas Russow
448 Seiten, ISBN 978-3-86762-103-8Den Artikel im Blog lesen