AW: Märchen: Aussagekraft und Gewaltaspekte
Was ist denn das Problem mit den "Gewaltaspekten" in Märchen, Sagen, Heiligen Schriften, ... ?
Die Gesellschaft früher war Gewaltanwendung, und zwar direkt miterlebbare, einfach eher gewohnt, als es irgendwelche modernen Zimperliesen der Industriegesellschaft in ihrer einzig wahren Ideologie wahrhaben wollen.
Mal ein paar Beispiele:
Wenn man ein Hühnchen braten wollte, dann kaufte man es LEBEND auf dem Markt, brachte es um, nahm es aus und rupfte es. Das konnten Kinder in der Küche andauernd mitbekommen.
Schlachthöfe, die die Tiere industriell und sichtverblended töten, sind eine sehr moderne Erfindung, die mehr Abstand zwischen dem blutigen Geschäft des Schlachtens und der Zubereitung des Fleisches für den Verkauf und den Verbrauch legt.
Öffentliche gerichtliche Bestrafungen durch Auspeitschen, Stockhiebe, Verstümmelungen, und öffentliche Hinrichtungen konnten Erwachsene wie Kinder sehen und miterleben (auch als direkt Beteiligte!).
Die Bibel wartet mit Kriegsgreueln auf, die keinem in der schönen Märchenzeit der Napoleonischen Ära unbekannt gewesen sein dürften.
Wir leben hier in Deutschland in einer über 60 Jahre währenden Friedenszeit, die historisch gesehen extrem ungewöhnlich lang anhält. Früher waren Kriege auf unserem Siedlungsgrund einfach häufiger (kleinere gab es immer wieder und alle ein, zwei Generationen mal einen richtig großen).
Warum sollten also in Märchen keine Gewaltdarstellungen enthalten sein, wenn Gewalt doch zum menschichen Alltag gehört?
Mal zurück in unserer Modernen Zeit:
Wir bekommen täglich die Bilder z.B. aus dem Irak und anderen Krisengebieten mit, wie Menschen durch religiöse Fanatiker in die Luft gesprengt werden. Das wird uns zur besten Sendezeit mitten in die Wohnzimmer gebracht. Gute Appetit zum Abendessen. - Hat sich da schon mal jemand wegen der Gewalt in den angeblich "seriösen" Informationssendungen aufgeregt? Ich glaube kaum.
Man kann derzeit die Tagesschau von vor 30 Jahren wiederholt in den Dritten Programmen sehen. Da sieht man, wie früher eine brutale Gewaltberichterstattung, bei der die Kamera direkt auf die zerfetzten Leiber und die Sterbenden gehalten wird, NICHT vorkam. Da wurden solche Nachrichten auch im Fernsehen als TEXTnachricht verlesen, aber eben nicht reißerisch gezeigt. Das hat etwas mit Respekt vor den Leidenden und Toten zu tun. - Dieser Respekt ist heute wegen der Einschaltquotenorientierung entfallen. Heute MUSS es die Sterbeszene sein. Heute muß der Zuschauer das Gefühl bekommen, bei der Erschießung mitten drin, statt nur dabei zu sein.
Warum? - Weil die menschliche Neugier und Sensationsgier heute UND FRÜHER schon immer groß war.
Daher sind früher die Leute zur Hinrichtung gegangen, um mal wieder was zu sehen. Daher hat man mißgestaltete Menschen früher auf Jahrmärkten ausgestellt. Daher gehörten Tierquälereien zu den Kinderspielen früherer Zeiten (Max und Moritz ist nur eine bebilderte Darstellung dessen, was früher gängiges "Spielen" von Kindern anbetraf. In Büchern des 18. und 19. Jahrhunderts werden unter den Kinderspielen auch Tierquälereien aufgeführt, wie z.B. eine Gans in eine Grube einzubuddeln und dann mit Stöcken auf sie zu werfen. Es gewinnt, wer ihr den Hals mit einem Stockwurf gebrochen hat. Das ist normales Kinderspiel, da Kinder damals wie heute bedenkenlos Tiere "verbrauchen".
Deshalb konnten die Großmütter den Kindern auch ohne Probleme Märchen erzählen. Da haben die Kinder nichts mitbekommen, was nicht aus ihrem Erfahrungsalltag nachvollziehbar gewesen wäre.
Das Kinder besonders behütet, vor Gewalt ferngehalten werden müßten, ist ein sehr modernes Menschenbild. Früher galten Kinder als kleine Erwachsene. Warum sollte man Kinder vor Märchen behüten, wenn man 10-Jährige in die Englischen Kohlegruben schicken kann, wo sie den Stoff für die dampftechnische Revolution der Technik abbauen durften, bis sie als junge Erwachsene mit Staublunge verreckten?
Warum sollte man Kinder vor Märchen behüten, wenn sie bei Plünderungen durch Soldaten mitansehen mußten, wie ihre Eltern umgebracht und ihre Geschwister vergewaltigt wurden (wie im Simplicius Simplicissimus z.B. im 30-Jährigen Krieg)?
Wir leben hier in einer Gesellschaft, in der die Gewalt zur Nahrungsgewinnung industrialisiert und aus dem Blick stattfindet. In der die Gewalt des Staates (zumeist) im Wegsperren und damit wiederum aus dem Blick der Öffentlichkeit ausgeübt wird. In der Auseinandersetzungen in den Medien als unrealistische Gewalt vorgespielt werden und damit die durch das gleiche Medium kommenden Bildberichte über Massaker in ihrer Wirkung abschwächen und die Zuschauer abstumpfen lassen (mich erregt keine Meldung über Dutzende Tote bei Bombenanschlägen im Nahen Osten mehr - das registriere ich schon garnicht mehr, weil es schon so ÜBLICH ist. Es ist keine "news" mehr, sondern "olds". Der tägliche Bombenanschlagsbericht. Langweilig.).
Heute sind Gewaltdarstellungen in Medien, Spielen, und damit auch im Rollenspiel und in Märchen eigentlich kein Punkt mehr sich aufzuregen. Diese Gewalt ist so irreal, daß sich nur Zimperliche noch darüber ereifern können. Wer seinen Kinder meint vor X-Box-Gewaltexzessen bewahren zu müssen, der kann ihnen bis zur Volljährigkeit die Teletubbies präsentieren. Nur wird dann das Kind nie lernen MIT GEWALT UMZUGEHEN!
Gewalt ist überall. Gestern bin ich auf der Autobahn im Berufsverkehr auch schier "verunfallt" worden, weil irgendein Arschloch seine angestauten Agressionen unbedingt im Straßenverkehr an Kleinwagenfahrern auslassen mußte. Das ist auch Gewalt.
Wer schon mal gemobbt wurde, der weiß, wie übel solch eine "kalte Gewalt" wirken kann - und wie zerstörerisch das ist.
Wenn jemand in meiner Gegenwart raucht und es ihm scheißegal ist, ob ich vielleicht als Allergiker Atemprobleme bekomme, dann ist das auch Gewalt.
Gewalt ist überall.
Man muß mit Gewalt umgehen lernen, dann macht man sich nicht ständig in die Hose, wenn man mal einen kleinen Bereich an Gewalt, den der phantastischen, märchenhaften Gewalt in den klassischen Märchen, gerät.
In diesem Sinne: "Deal with it!"