blut_und_glas schrieb:
Aber ist es nicht beinahe schon merkwürdig, dass es noch nicht einmal eine Handvoll Abenteuer sind, die sich des Weltkrieges bedienen?
Der Krieg und das "Hauptsetting" von Call of Cthulhu liegen zeitlich so nahe beieinander, und doch gibt es mehr Material für weit entfernte Zeiten, als für diese.
Ich habe Anfang der Achtziger mit Call of Cthulhu angefangen. Die damals nur auf Englisch verfügbaren Szenarien waren fast überhaupt nicht mit dem ja aus US-Wahrnehmung fast nur in Europa veranstalteten 1. Weltkrieg als Hintergrund versehen. Das wunderte mich aber auch nicht, da ja Lovecraft selbst auch den 1. Weltkrieg in seinen Romanen und Erzählungen nicht beachtet hatte. Viel wichtiger waren bei Lovecraft der Unabhängigkeitskrieg gegen die Engländer und die Hexenverfolgungen. Selbst der US-Bürgerkrieg spielte nur eine untergeordnete Rolle im ursprünglichen Cthulhu-Material.
Wenn man nun aber ein deutsches Cthulhu-Setting im Nachkriegsdeutschland ansiedelt, dann sticht man in ein Wespennest an politischen Wirren und Kriegsbeteiligten. Somit müssen meiner Meinung nach die Deutschland-Szenarien, wenn sie denn noch ein wenig historischen Bezug haben sollten, den 1. Weltkrieg und die aufkommenden Nazis mit einbeziehen.
Da hatte es die USA leichter. Man hatte sich nach dem Abenteuer 1917-18 auf Europas Schlachtfeldern Leute verrecken zu lassen, ziemlich schnell zurückgezogen (anders als nach dem 2. Weltkrieg). Und dieses Auf-sich-selbst-Besinnen war auch in der Literatur zu spüren. US-Geschichten spielen selten im und um den 1. Weltkrieg. Die Amerikaner waren dazu viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Das Cthulhu-Hauptsetting liegt strenggenommen in den Neu-England-Staaten der USA Mitte der Zwanziger bis vielleicht Mitte der Dreißiger Jahre. Die Perspektive des Cthulhu-Hauptsettings ist eine strikt weiße Bildungsbürger-Perspektive. Alle Schwarzen, Gelben, Roten, alle Ausländer, alle Ungebildeten, die Landbevölkerung, Fischer, Bauern, Arbeiter sind durch die Bank potentielle Kultisten, weil sie zu blöde sind die Gefahren der Großen Alten zu erkennen. - Nicht wundern: ich war Lovecraft-Roman-Fan lange bevor ich Call of Cthulhu als Rollenspiel entdeckt hatte. Aber seine Romane sind aus heutiger Sicht schon harter Rassistentobak. Nur, genau aus diesen Romanen und der Darstellung des Grauens aus dem All zieht das Hauptsetting der Zwanziger-Dreißiger-Jahre im US-Mittelwesten seine Versatzstücke. Diese sind mehr oder minder bestimmend für die frühen Cthulhu-Szenarien gewesen, auch wenn sich durch Splatter-Fans wie Sandy Petersen selbst, mal der eine oder andere platte Blutrausch daruntergemischt hatte.
Wir haben mit Cthulhu in Deutschland eine andere Richtung der Szenarien auf dem Markt, als es damals bei Call of Cthulhu der Fall war. Vor allem - so mein nicht repräsentativer und natürlich rein subjektiver Eindruck - wird heutzutage im deutschen Cthulhu der Splatter und das Metzeln von Kultisten mit massig Ballerwaffen größer geschrieben, als ich es aus meiner Cthulhu-Anfangszeit gewohnt war. Diese Verschiebung des Spielstils auf mehr Action, mehr Indiana Jones gegen die Großen Alten hin war meines Erachtens trotz der schönen Aufmachung der deutschen Ausgaben nicht so ganz das, was ich mir gewünscht hätte. Leute, die nur die aktuellen deutschen Cthulhu-Richtungen kennen, haben - so meine Erfahrung - kein Verständnis mehr für das langsame, vorsichtige Vorgehen, daß die alten Cthulhu-Spieler noch alle kennen.
Was Krieg und Horror betrifft: Wenn man Cthulhu, oder zumindest Horror mit Kriegsszenarien verbinden möchte, dann sollte man sich mal die Weird Wars Reihe (gibts für D20, aber auch für Savage Worlds) anschauen. Z.B. "Tour of Darkness" handelt den gesamten Vietnamkrieg von den ersten Militäreinsätzen der Franzosen bis zum Rückzug der US-Truppen ab, indem die Charaktere auf "normalen" Missionen gegen die Vietcong eingesetzt werden und dort erst einmal ihre Sanity durch den "normalen" Horror des Krieges einbüßen, und dann kommen so graduell, nach und nach, seltsame Phänomene, die nicht mehr einfach erklärbar sind, auf manchen Missionen vor. - Die gesamte Weird Wars Reihe ist so aufgebaut.
Mir persönlich behagt es überhaupt nicht in einem Krieg zu spielen, bei dem ich noch Leute kenne oder gekannt habe, die das überstehen mußten. Wenn ein Krieg lang genug her ist, oder weit weg stattfand, dann hätte ich damit weniger Probleme. Z.B. bei Deadlands im US-Bürgerkrieg - lang her, weit weg, da ist die emotionale Distanz groß genug. Beim 2. Weltkrieg finde ich es unmöglich ein Szenario in Stalingrad zu spielen wo SS-Beschwörer aus gefallenen Soldaten Zombies machen, um sie gegen die Russen zu schicken. Darüber können sich wohl nur Amerikaner und Engländer amüsieren.
Der erste Weltkrieg ist grenzwertig. Was ich über diesen Krieg so gelernt, gelesen, gesehen habe, war der so ekelhaft, daß man keine Cthulhu-Verquickung braucht um daran psychisch zu zerbrechen. Das organisierte Grauen eines Krieges als Hintergrund für das persönliche Grauen einer Cthulhu-Geschichte herzunehmen, halte ich für eine extrem billige Art den Konsumenten von Mega-Ballereien plus Horror den nächsten "Kick" zu verschaffen. Viel Spaß damit. Wer das braucht (wie auch Cthulhu Vietnam), dem ist eh nicht mehr zu helfen.