Zwischenzeit

Nex

felis curiosa philosopha
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10. August 2005
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Wo diese schweigen, werden die Steine schreien - (Lukas 19,40)

Die Nacht hatte ihren dunklen mit Sternen behangenen Mantel über das kleine Städtchen ausgebreitet. Der Mond war orange-rot und tauchte die Welt unter sich in ein schauriges Licht. Die großen, schweren Glocken klangen wie von Geisterhand in dem kleinen Turm des Klosters und drohten das Türmchen bei jedem Schwung mit sich in die Tiefe zu reißen. Ihr trauriges Lied erfüllte die Straßen und Gassen am Fuße des Klosterhügels. Es war nun an die acht Jahre her, dass das kleine Mädchen verschwunden war und seit dem hatte sich die Stadt verändert: die Häuser und Hütten waren niedergebrannt und ihr Mauerwerk lag verstreut auf allen Wegen, auf den ehemaligen Straßen und Gassen lagen Splitter der Fenstern, die einst die Zier jedes Hauses gewesen waren, und reflektierten das fahle Mondlicht, die Natur hatte sich ihr Land zurück erobert und bedeckte die Ruinen mit grünen Pflanzen. Niemand wusste, was hier vor acht Jahren geschehen war, ein paar Tage nach dem Verschwinden des Kindes.
Der Wald warf sein Schattenspiel auf die Wiese um das Kloster und durchtränkte die Luft mit seinen nächtlichen Geräuschen. Ein sanfter Wind führ über das Land und ließ die Schatten tanzen. Sie schienen lebendig zu werden bis sich einer von ihnen von den Fesseln des dunklen Gewirrs löste und ins Freie trat. Er schritt langsam und zielstrebig zur zerstörten Kapelle an dem verbrannten Gemäuer entlang. Nach einer Weile verschwand er in den Trümmern und glitt durch die vom Feuer geschwärzte Prunktür. Abermals fror er in der Bewegung ein, um die Kapelle zu betrachten. Der mit Marmorplatten ausgelegte Boden war aufgesprungen und hie und da lagen sie zerbrochen im Raum verstreut. Auch die Statuen waren zerstört worden und Gliedmaßen, Köpfe und Teile von Körpern lagen auf dem Marmor. An die Bänke erinnerten nur noch schwarze Stellen auf dem zerklüfteten Fußboden und die bunten Fenster waren zersprungen und lagen neben ihnen. Die Seitenwände der Kapelle und Bilder fehlten nun und auch die Wand, in der die Eingangstüre war, war nur noch zu Teilen erhalten geblieben. Die Rückwand mit dem Fresco hingegen hatte keinen Schaden genommen. Nachdem der Schatten das Ausmaß der Zerstörung eine Weile betrachtet hatte, atmete er wieder tief ein und sog eine von Ruß und Staub geschwängerte Luft in sich ein. Dann streifte der Schatten über die Trümmer der Vergangenheit hinweg und strebte wieder den Altarraum an. Hin und wieder verharrte er eine Weile, um sich noch einmal umzusehen, doch dann setzte er seinen Weg zum Altarraum wieder fort. Als er dort angekommen war, begab er sich hinter den Altar und berührte wieder mit seiner Hand das Bild. Sobald seine Haut Kontakt mit den alten Farben hatte, begann das Leben in dessen grausame Szenerie wiederzuerwachen:

Dunkle, aber dennoch leuchtende Farben beherrschten das Bild, das von einem ähnlichen Malstil wie Michelangelos geprägt war. Der Himmel war dunkel und bedrohlich, die Gestirne - Sonne, Mond und die Sterne - waren verschwunden. An ihre Stelle waren dunkle Löcher im Firmament und riesige Feuerkugeln, die herab stürzten, getreten. Die Erde war schwarz, verbrannt. Die Finsternis war das beherrschende Element des Frescos. Das Jüngste Gericht.
Auf dem Bild waren Menschen von jeglichem Geschlecht und Alter, von jeglicher Farbe und Herkunft, wie Teile ihrer Kleidung, die in Fetzen an den meisten herunter hing, auf sich schließen ließen. Viele schrieen vor Schmerz, Verzweiflung und Angst, manche vielleicht sogar aus Wut. Doch es gab auch andere, deren Augen vor Freude leuchteten und sie selbst lächelten oder lachten sogar. Diese Menschen hatten ihre Hänge gefaltet und zum Zentrum des Himmels erhoben, wo ein Mann auf einen Berg von Menschenschädeln thronte und ein wahnsinniges Grinsen sein Gesicht verunstaltete. Diesen Leuten wurde kein Leid getan. Sie wurden von Engeln in Togen empor gehoben und von dem alles vernichtenden Flammen, die die Erde heimsuchten gerettet. Dennoch viel auf, dass die Mehrheit nicht in Sicherheit gebracht wurde. Viele Menschen versuchten sich in Höhlen oder an anderen Orten zu verstecken, manche hoben flehend und betend ihre Hände, doch sie wurden nicht erhört und die grausamen Engel holten sie aus ihren Verstecken, um sie den Flammen und tierartigen Wesen, die unnatürlich am Boden kauerten, zum Fraß vorzuwerfen. Überall war Blut, Feuer und Zerstörung. Die Augen der richtenden Engel und des Mannes im Zentrum erfreuten sich an den Qualen der Menschen und schienen gierig nach mehr zu sein. Das Blut der Gequälten floss wie ein einziger Strom durch das Bild, vorbei an Flammen, Körperteilen und Dämonen und inmitten dieses Spektakels, in einer kleinen Ecke des Frescos, kauerte ein winziges Wesen in der Dunkelheit. Es schien als würde es sich mit der Finsternis zudecken, als würde es sie wie einen Mantel um sich legen. Seine Haare waren rot von dem Blut der Menschen, der Körper und das Gesicht des Wesens waren mit Ruß und Blut beschmiert, die Augen waren weit aufgerissen vor Entsetzten.

„Die Rache ist mein…“, entwich es dem Mund des Schattens, als er eine Weile das Fresco betrachtet hatte. Dann kehrte für kurze Zeit wieder Stille in die Einsamkeit der Nacht ein, bevor sie erneut durch ein Geräusch durchbrochen wurde. Ein Rabe krächzte auf einem Ast im Wald auf. Der Schatten drehte sich erschrocken um und entfernte dabei die Hand von der Oberfläche des Frescos. Eine Gestalt stand im Schattengeflecht der Bäume.
„Ich wusste, dass du wieder hier her zurück kommen würdest,“ erklang eine metallene, tiefe Männerstimme. Eine Wolke, die sich zuvor vor den Mond geschoben hatte, gab ihn und sein rot-orange gefärbtes Licht wieder preis.
„Dir ist doch wohl bewusst, dass du an dem hier Schuld bist?“, fragte die Männerstimme nun. Die Silhouette der Gestand streifte langsam den Schatten des dunklen Waldes ab und trat ins gefärbte Mondlicht, das seine Gestalt vollständig mit Licht überflutete. Es war ein Mann mit schwarz-braunen Haar, dass ihm bis zur Brust über seinen dunklen Mantel hang. Er schien Anfang dreißig zu sein, war groß und breitschultrig und sein Gesicht zeigte keine Gefühlsregung. Er wartete einen Augenblick und fuhr dann fort: „Sieh dich doch um,“ er machte eine weit ausholende Geste mit seinem Arm und zeigte auf das zerstörte Städtchen, „Sie alle wollten nur leben und erlöst werden, doch du bist hier her gekommen. Du hast ihnen den Himmel verweigert.“
Wieder wartete der Mann auf eine Reaktion, doch als er keine Antwort bekam, sprach er weiter: „Ich habe dir verziehen. Es war nicht dein Fehler, denn wie soll ein Fehler wissen wie er selber einen begehen soll?“
„Ich bin kein Fehler!“, der Schatten nahm die Kapuze von seinem schwarzen Wollumhang ab. Das Mondlicht schien ihm ins Gesicht und man konnte die feinen Züge einer jungen Frau Mitte zwanzig erkennen. Ihre trüben Augen, wie die eines Blinden, loderten vor Wut, als sie dem Mann zuhörte, und abermals wiederholte sie: „Ich bin kein Fehler!“
Dann wandte sie sich den Ruinen zu und in ihren Blick mischte sich ein Hauch von Trauer und Wehmut, die sie aber sofort wieder abschüttelte.
„Ihr wollt mich doch nur für Eure Seite gewinnen. Ihr wisst, dass Eure Versuche vergeblich sind.“
Der Mann kam ein paar Schritte näher.
„Wir wissen, dass du dich neutral verhalten willst, aber wir brauchen dich. Wir brauchen dich und das wiederum weißt du.“
Ihr Gesicht verfinsterte sich wieder und starrte nun den Mann direkt in die Augen, doch sie schwieg. Dann stand sie plötzlich vor ihm.
„Und um mich auf Eure Seite zu bekommen, würdet Ihr wohl alles tun?“
„Du kennst unsere Vorgehensweise.“
„Ja, die kenne ich nur allzu gut…,“ihre Stimme wurde leiser und um sich abzulenken blickte sie in den Himmel.
„Was habt Ihr mit dem Mond gemacht?“
Er starrte sie an und schwieg. Die junge Frau wandte ihren Blick wieder dem Mann zu.
„Ich werde nicht auf Eurer Seite sein, wenn es so weit sein wird,“ warf sie ihm mit entschlossener Stimme ins Gesicht.
„Das werden wir noch sehen. Du wirst bestimmt zu uns kommen. Auch wenn du unsere Methoden vielleicht zum Teil kennst, erleben willst du sie nicht,“ er grinste sie an.
„Wollt Ihr mich einschüchtern?“, ihre Augen loderten auf, „ Aber du hast Recht. Dennoch werde ich einen Weg finden, um nicht an Euren Machenschaften mitzuwirken.“
„Du bist sehr entschlossen, aber es wird nicht reichen nur entschlossen zu sein. Du wirst schon sehen, du wirst an unserer Seite kämpfen.“
„Niemals! Ich werde Euch niemals helfen. Ihnen und Ihresgleichen!“
„Das wird sich noch herausstellen…,“ er grinste sie noch immer an, trat ein paar Schritte zurück in den Schatten der Bäume und war verschwunden.
Die junge Frau stand alleine auf der Wiese und brannte innerlich vor Wut. Eine Weile starrte sie zornig in den Wald an die Stelle, an der sich soeben ihr Gesprächspartner in Luft aufgelöst hatte.
„Ich hasse es, wenn Ihr so etwas macht! Immer müsst Ihr mit Euren Tricks angeben, obwohl sie nichts Besonderes sind!“, die Frau hielt für einen kurzen Augenblick inne, ließ ihren Blick über die trostlose Landschaft schweifen und meinte dann, „ Aber was kann ich schon dagegen machen? Ich werde wohl am Besten hier bleiben. Hier kann ich niemanden mehr Schaden zufügen,“ die junge Frau beruhigte sich langsam wieder. In ihr war wieder Ruhe eingekehrt und mit der Ruhe kam auch die Traurigkeit. Sie setzte sich auf die Wiese des Klosterhügels und beobachtete eine Weile die Laufbahn des seltsam leuchtenden Mondes.
„Keine einzige Menschenseele ist mehr hier an diesem Ort und der fremde Mond schweigt über das Geschehene…“
Dann stand sie plötzlich auf, drehte sich um und ging zurück zum Kloster, wo sie in einem riesigen Riss in dem alten Gemäuer verschwand. Wieder säumten Trümmer von Mauerwerk, Statuen und sonstigen verbrannten Gegenständen ihren Weg. Anfänglich schien es als würden die Trümmer ihr aus freiem Willen die Gänge versperren und sich vor ihre Füße werfen, wenn sie versuchte ihren Weg fortzusetzen. Oftmals waren riesige Schutthaufen in den Fluren und sie musste darüber klettern oder diesen Gang völlig aufgeben und einen anderen wählen, der sie zu ihrem Ziel führen konnte. Nach einigen Korridoren, erreichte sie einen breiten Flur, der mit Säulen an den Seiten gesäumt war und in dem Teile von der Decke heruntergefallen waren. Hin und wieder rieselte Staub, Asche und Mauerwerk von der Decke herab auf die Trümmer. Einige Säulen waren zerbrochen und lagen am Fußboden, wieder andere standen noch immer an ihrem Platz, doch ihnen fehlten riesige Stücke. Es war einer der Hauptflure, dessen Säulen das erste Stockwerk trugen. Die junge Frau schritt nun vorsichtiger als zuvor an den Trümmern vorüber, um keinen weiteren Einsturz zu gefährden. Ihre Füße suchten nach Stellen, an denen kein Schutt lag, um nicht das geringste Geräusch zu verursachen, dass einen weiteren Einsturz der Decke auslösen konnte. Mit ruhigen, stetigen Schritten ging sie auf die Trümmer zu und blieb am Fuße davon stehen, um die Umgebung eingehend betrachten zu können: Vor ihr befand sich ein fünf Schritt hoher Geröllhaufen, der den Weg versperrte und sich von den Überresten der Decke speiste. Die junge Frau überlegte und schloss dazu die Augen. Sie schien sich zu konzentrieren und riss dann plötzlich ihre Augenlider auf. In ihren Augen war ein kaltes Leuchten wie von einer Flamme zu sehen und die junge Frau ging lautlos und ohne dass unter ihrem Gewicht auch nur ein Körnchen Staub zerbarst, den Geröllberg hinauf in das über diesen Gang liegende Stockwerk.
Wieder ging sie an zusammengestürzte Säulen und Wände, sowie verbrannter und rußiger Stein vorüber. Es war als ob die ganze Welt in Flammen gestanden hatte und nur noch in ihr das Leben existieren konnte.
Nach einiger Zeit gelangte sie in den letzten Flur im obersten Stockwerk des alten Gemäuers. Anfangs war er wie die anderen, in denen sie bisher war, aber nach einer Weile wurden die Mauern immer brüchiger, hatten immer mehr Lücken bis nur noch der Fußboden die einzige erkennbare Fläche bildete. Die oberste Ebene des Klosters bestand nun aus nichts mehr als einem riesigen Plateau, in dessen Zentrum sich ein kleines Sternengewölbe aus rötlichem Marmor befand. Die Säulen, die es trugen wurden ebenfalls aus rötlichem Marmor gehauen und zeigten mythische Wesen, die ineinander verschlungen waren und die Säulen mit dem Gewölbe verwachsen ließen. In den Bögen waren Buntglasfenster, die die vier Elemente symbolisierten, wobei das vierte Fenster, das das Wasser zeigte, schon seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr vorhanden gewesen war.
Die junge Frau schritt aus dem tunnelartigen Gemäuer auf das Plateau heraus, bereitete ihr Nachtlager in dem Bewölbe vor und begab sich für diese Nacht zur Ruhe…
 
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