Rezension Wo die tiefen Wesen wohnen [B!-Rezi]

T.Dorst

THE BIG RED GOD OF ANGER
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Wo die Tiefen Wesen wohnen


Cthulhu Bilderbuch


Bekommt man das querformatige, farbenfrohe Hardcover zum ersten Mal im Spieleladen des Vertrauens zu Gesicht, könnte man sich fragen: „Seit wann macht Ulisses denn Kinderbücher?“.
Nimmt man das Buch allerdings aus dem Regal und riskiert noch einen zweiten Blick, so wird einem schnell klar, dass es sich hierbei eher um ein Kleinod für jung gebliebene Cthulhu-Freunde handelt. Bei „Wo die tiefen Wesen wohnen“ handelt es sich um die Übersetzung von Kenneth Hites „Where the deep ones are“, eine Persiflage auf Lovecrafts "Schatten über Innsmouth". Interessanterweise wird hier aber nicht nur ein Buch verwurstet, sondern es sind gleich zwei. "Wo die tiefen Wesen wohnen" ist nämlich stark an Maurice Sendaks „Wo die wilden Kerle wohnen“ angelehnt. Einen Eindruck dieses Buchs bekommt man übrigens hier: Max-Geschichte
Illustriert wurde das Ganze von Andy Hopp, der unter anderem für die fantastischen Illustrationen im Savage Worlds Buch „Low Life“ verantwortlich war. Seinen Stil erkennt man auf Anhieb und m.E. war er für diese Art von Buch exakt die richtige Wahl, da seine aberwitzigen Schöpfungen dem Buch das richtige Flair verleihen.

Zum Inhalt:
Hite greift sich die „Wo die wilden Kerle wohnen“ Geschichte und ersetzt Haupt- und Nebencharaktere sowie das Setting durch Cthulhoides, der Handlungsstrang an sich bleibt jedoch irgendwie gleich: Ein Junge bekommt seinen Willen nicht und wird auf sein Zimmer geschickt. Alsbald fließt ein Fluß in sein Zimmer hinein und er segelt auf dem Fluss in Richtung eines fremden Landes. Dort angekommen, bekommt er alles was er immer wollte, allerdings auch sehr komische Wesen zu Gesicht.
Die Geschichte umfasst zwar weniger als 400 Wörter, durch die farbenfrohen, ausdrucksstarken Bilder wird man aber regelrecht in das Buch hinein gesogen und man hat das Gefühl zusammen mit Bobby, dem Protagonisten des Buches, auf die Reise zu gehen.

Bobby gehört zur Marsh Familie, die in "Schatten über Innsmouth" ausführlich beschrieben wird. Jene Familie ist einen Pakt mit den Wesen aus der Tiefe eingegangen und wurde dafür mit unvorstellbaren Reichtümern entlohnt. Leider kamen die Wesen irgendwann mit der Intention aus dem Meer sich mit den Menschen paaren zu wollen. Bobby stammt also in direkter Linie von den Wesen aus der Tiefe ab, ohne das ihm dies zunächst während des Verlaufs der Geschichte bewußt ist.

Lustigerweise trägt Bobby die ganze Zeit ein Froschkostüm, dem ein gewisses cthulhoides Aussehen nicht abzusprechen ist. Außerdem hat Bobby quasi ständig Appetit auf Fisch.
Nachdem seine Mutter ihm nach dem Abendessen weiteren Fisch verweigert und ihn auf sein Zimmer geschickt hat, beginnt plötzlich ein Fluss durch sein Zimmer zu fließen, welches sich zu diesem Zeitpunkt bereits in eine Art Dschungel verwandelt hat. Glücklicherweise findet sich sofort ein Boot, mit dem er den Fluss (wahrscheinlich der Manuxet) hinauf Richtung Innsmouth segelt. Dort angekommen begegnet er einem alten Mann, den Lovecraft-Kundige als den alten Zadok kennen. Der alte Zadok weiß viel Schreckliches über die Marshes zu erzählen, daher ist es wohl nicht verwunderlich, dass er furchtbar erschrickt, als Bobby ihm, nachdem Zadok ihm bereits viele Geschichten über Innsmouth erzählt hat, mitteilt, dass er ebenfalls ein Marsh sei. Da der alte sich aufgrund der Marsh-Herkunft des Jungen nicht weiter mit ihm unterhalten will, zieht dieser weiter durch die Stadt. Da ihn noch immer ein gewisser Fisch-Appetit plagt, kehrt er schließlich in ein Hotel ein.

Hierbei handelt es sich selbstverständlich um das Gilman House, das Lovecraftkundigen aus „Schatten über Innsmouth“ durchaus bekannt sein sollte (Hier wurde der damalige Protagonist beinahe von den Einwohnern der Stadt getötet). Hopp hat den aus Lovecrafts Büchern bekannten Innsmouth-Look der Bediensteten im Gilman House gut getroffen. Die Jungs sehen tatsächlich alle ziemlich „fishy“ aus. Generell strotzen alle Bilder, die das Gilman House abbilden nur so vor Fischen. Ich korrigiere: Fische sind im ganzen Buch omnipräsent. Sie finden sich an Wänden, auf Bildern, liegen einfach so auf Tischen, werden von den Bediensteten im Gilman House wie ein Gewehr präsentiert und natürlich schmücken sie auch diverse Häuser und Kirchen in Innsmouth. Bobby könnte sich hier also eigentlich wie im Paradies fühlen, wenn da nicht die Tiefen Wesen wären. Bereits bei seiner Ankunft in Innsmouth wird Bobby von ihnen beobachtet. Man sieht sie immer verschmitzt um Ecken schauen oder zum Fenster des Gilman House hereinblicken. Irgendwann beschließen die Tiefen Wesen sich Bobby zu zeigen oder besser gesagt auf ein zu stürmen. Ob sie ihn zu diesem Zeitpunkt bereits als einen der ihren erkannt haben oder ihn auffressen wollen bleibt zu diesem Zeitpunkt allerdings unklar.

Er schafft es jedenfalls aus dem Gilman House zu entkommen und sich zurück in sein Boot zu retten. Mit diesem segelt er anschließend am Teufelsriff vorbei (auch dieses sollte aus „Schatten über Innsmouth“ bekannt sein: hier hat die Kontaktaufnahme mit den Wesen aus der Tiefe stattgefunden und dort haben auch diverse Menschenopfer stattgefunden) zurück in Richtung seines Zimmers. Da er jedoch noch immer Appetit auf Fisch hat, beschließt er spontan seinen Cousin Larry Marsh zu besuchen. Den Namen Larry hat sich wohl Hite ausgedacht, denn dieser findet in der ursprünglichen Geschichte Lovecrafts keine Verwendung. Allerdings gibt es tatsächlich einen Cousin, der in der Stadt Canton in eine Irrenanstalt eingewiesen wurde und ebenfalls ganz klar den Innsmouth Look an sich trägt. Eben diesen „besucht“ der kleine Bobby in „Wo die tiefen Wesen wohnen“, obwohl man wohl eher von Fluchthilfe sprechen sollte, da der gute Larry gerade ausgebrochen zu sein scheint.

Am Ende der Geschichte driften die Parallelen zwischen „Wo die tiefen Wesen wohnen“ und „Wo die wilden Kerle wohnen“ ein wenig auseinander. Während Max, der Protagonist aus „Wo die wilden Kerle wohnen“ nämlich am Ende der Geschichte wieder nach Hause segelt und dort sein Abendessen vorfindet, welches noch immer warm ist, was impliziert, dass er die ganze Geschichte nur geträumt hat, entschließt sich Bobby, genau so wie der Protagonist aus „Schatten über Innsmouth“ dazu zu den tiefen Wesen zurückzukehren und eventuell als ihr König unter dem Meer zu herrschen. Er ist eben doch ein echter Marsh und Cousin Larry hat er wahrscheinlich einfach direkt mitgenommen.

Die Illustrationen von Innsmouth hat Hopp mit viel Liebe zum Detail gezeichnet und auf einen interessante Art und Weise interpretiert. Immer wieder kann man kleine Details finden, von denen man in „Schatten über Innsmouth“ schon einmal gelesen hat: Eine Speisekarte macht darauf aufmerksam, dass sich Bobby im Gilman House befindet, ein großer Fisch über der Tür eines kirchenartigen Gebäudes weist den Weg in Dagons Tempel. Meine persönliche Lieblingsillustration sind die kleinen Cthulhu Salz- und Pfefferstreuer, die im Gilman House auf einem der Tische stehen. All diese Kleinigkeiten machen das Buch so lesenswert.
Die Übersetzung ist Ulisses durchweg gelungen und auch die Qualität des Buches kann sich sehen lassen (stabiles Hardcover mit Glanzcover, durchweg vollfarbig). Es lässt sich wohl allerdings darüber streiten, ob ein Buch mit 32 Seiten und nur wenigen Wörtern den Preis von fast 15 Euro rechtfertigen kann, selbst dann wenn es ein "Bilderbuch" ist.
Des Weiteren wir das Buch wohl nur einen begrenzten Leserkreis ansprechen, da nur dieser die Eigenarten dieses Buch in seiner ganzen Fülle erfassen kann. Ein potentieller Käufer sollte Lovecraft kennen und mögen und vor allem „Schatten über Innsmouth“ gelesen haben. Kenntnis von „Wo die wilden Kerle wohnen“ wäre von Vorteil, ist aber nicht unbedingt nötig um Spaß an der Geschichte und den cthulhoiden Illustrationen zu haben. Da ich persönlich alle Kriterien erfülle, bin ich hellauf begeistert von dem Buch. Mythosuneingeweihten würde ich vom Kauf des Buch aus oben genannten Gründen allerdings abraten.

Tentakelige 3,9 von 5 Punkten.Den Artikel im Blog lesen
 
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